Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

Ihr SongIhr Song
David grinste, als die Musik in der Wohnung nebenan voll aufgedreht wurde und ihn von seinen Matheaufgaben ablenkte.
Er stellte sich vor, wie Frau Bertelsmann ihren Besen hervorholte und den Stiel gegen die Decke rammte, so wie sie es stets tat.
Herr Patzek aus der oberen Etage brüllte durchs Treppenhaus: „Mach die verdammte Musik leiser, oder ich rufe die Bullen!“ Er rannte die Stufen hinunter, klingelte abwechselnd Sturm und hämmerte gegen die Tür.
Völlig umsonst, natürlich! David fragte sich, wann sie das endlich kapieren würden. Außerdem dauerten diese Musikanfälle selten länger als zehn Minuten und kamen nur drei-, viermal im Monat vor - immer dann, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren.
Damit konnte man leben, fand David. Das sagte er auch den Polizisten, die Herr Patzek tatsächlich einmal alarmierte.
„Eigentlich ist es meine Schuld“, erklärte er.
„Wie kann es deine Schuld sein, wenn du hier draußen stehst und die Ausgeflippte da drinnen ist?“, wollte einer der Beamten wissen.„Ich war es, der ihr diesen Song zum ersten Mal vorgespielt hat. Für alle anderen ist es nur ein Lied, aber für sie ist es mehr. Megamehr. Sie liebt es.“ Und dann hatte er ihnen alles haarklein verklickert ...mehr
MolochDer Kuss
Morgen war es so weit. Wieder nahm ich die Zeitung, schaute mir die Anzeige an und fühlte mich nicht ganz Wohl in meiner Haut: Am 16. Juli geben wir uns um 9.30 Uhr vor dem Standesamt Lünen das Ja-Wort: Inga Roth und Peer Klein.
Elf Monate nachdem ich mich von Til getrennt hatte, wagte ich den Schritt in die Ehe. Es war nicht die große Liebe, wie bei Til. Aber ich glaubte, in Peer würde ich einen zuverlässigen Mann haben. Und meine Unruhe? Vermutlich ging es jeder Frau in der Nacht vor ihrer Hochzeit so.
Ich legte die Zeitung auf den Couchtisch, als das Telefon klingelte. Nach dem zweiten Läuten ging ich ran.
„Roth.“
Ich hörte ein Atmen. Unverkennbar; sein Atmen, ich erkannte es sofort, noch bevor Til in den Hörer raunte:
„Es ende nie
Lippen tasten Lippenund verlieren sich …“ ... mehr
BilligkindBilligkind
In der Schule nennen ihn manche Billigkind. Nicht nur weil er so spindeldürr ist, sondern auch weil er preiswerte Klamotten trägt.
Das Kichern, das Ben gerade hinter seinem Rücken hört, ist nicht neu für ihn. Gereizt fragt er sich, worüber sie diesmal lachen?
„Was sind das denn für Treter?“
Ben erkennt die Stimme des Neuen sofort. Mirko heißt er. Mirko Lausch. Ben bleibt stehen und dreht sich um. Alex steht neben Mirko. Obwohl Ben ihn erst neulich verprügelt hat, damit er endlich seine Fresse hält und nicht länger glaubt, er wäre was Besseres, nur weil seine Eltern Kohle haben.
Der feige Arsch hat sich wohl Verstärkung geholt, denkt er und aus seinem leeren Magen steigt die vertraute Wut auf Typen wie Alex hoch. Er ballt die Fäuste.
„He, Billigkind!“Für einen Moment glaubt Ben, Mirko schafft es ihn anzuspucken. Doch der dicke Schleimklumpen landet auf dem Asphalt, dicht vor seinen abgetragenen Turnschuhen. No-Names. Keine Pumas, wie Mirko sie trägt. Und sie passen nicht mehr richtig, drücken vorne ein bisschen, deswegen zieht er beim Laufen manchmal die Zehen ein ...... mehr