MolochDer Moloch
© Sabine Ludwigs

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem alles begann.  Es war neun Tage nach meinem zwölften Geburtstag, als sie es mir sagte. Ein Freitag.
Mama saß auf dem Sofa und klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Komm Kevin, setz dich zu mir. Ich muss dir etwas Wichtiges erzählen, kleiner Mann.“
Also setzte ich mich neben sie, genoss, dass sie ihren Arm um mich legte, und wartete ab.
„Es geht um Paul“, erklärte sie. „Paul und ich wollen heiraten. Nächsten Monat.“
Mit rasendem Herzen fuhr ich auf: „Warum?“
„Weil ich wieder eine richtige Familie haben möchte, Kevin. Du weißt, wie lieb ich dich habe. Aber Paul und ich ... nun, ich möchte nicht länger allein ...“
„Du hast doch mich!“, unterbrach ich sie. „Reicht das nicht?“ Ich spürte, wie Tränen in meinen Augen brannten, und befreite mich mit einer heftigen Bewegung.
„Rede keinen Unsinn, Kevin“, murmelte Mama und zog mich wieder in ihre Arme. „Ich werde dich immer lieb haben, egal, was geschieht. Du bist doch mein Großer.“
Eben noch war ich ihr kleiner Mann gewesen - jetzt war ich plötzlich ihr Großer. Wie schnell die Dinge sich bei Erwachsenen doch ändern!
Es war schwer für mich gewesen, als Paul die ersten Male zu uns kam. Er hatte sich Mühe mit mir gegeben, mir sogar ein Buch von Edgar Allan Poe mitgebracht, das ich noch nicht hatte. Eine in Leder gebundene Geschenkausgabe. Die folgenden Wochenenden unternahm er viel mit mir: Wir hingen an der Spielkonsole, machten Fahrradtouren oder gingen ins Kino.
„Nur wir Männer“, wie Paul ständig betonte.
Er plante gern bis ins kleinste Detail und schien erst beruhigt, wenn er alles unter Kontrolle hatte. Es störte mich, dass er die meisten Entscheidungen traf, ohne mich überhaupt zu fragen.
Wenn alles wie vorgesehen klappte, war er in Hochstimmung. Verlief mal was nicht ganz nach Plan, reagierte er häufig verbissen. Auch das nervte mich! Trotzdem begann ich allmählich Paul zu akzeptieren, konnte ihn schließlich sogar ganz gut leiden.
Nur nicht, wenn er bei uns übernachtete. Es bedeutete, dass ich nicht in Mamas Bett schlafen durfte, sondern allein in meinem Zimmer bleiben musste.
Ich schob den Kopf unter mein Kissen, wenn ich die verhaltenen Geräusche aus dem Schlafzimmer hörte. Ich fühlte mich verraten und unendlich einsam.
Das waren die Augenblicke, in denen ich Paul hasste. Und jetzt wollte Mama ihn heiraten! Das hieß, er würde für immer bei uns wohnen.
„Wird er hier einziehen?“, fragte ich.
„Nein. Wir ziehen in Pauls Haus. Dort ist viel mehr Platz als in unserer Wohnung. Du wirst ein schönes, großes Zimmer bekommen.“ Sie lächelte.
Für mich bedeutete das weitere Verluste: Ich würde mein Zuhause verlieren, meine wenigen Freunde, Schulkameraden und die nette Frau Schoppe von nebenan. Alles, was mir in den fünf Jahren, seit Papa tot war und ich hier mit Mama lebte, wichtig geworden war.
Denn Paul wohnte fast 90 Kilometer entfernt – für einen Zwölfjährigen war das am Ende der Welt.

Nach der Heirat zogen wir um.
Mein neues Zimmer war groß und schön, genau wie Mama versprochen hatte, und es gab reichlich Platz für meine zahlreichen Bücher. Eine Terrassentür führte direkt in den Garten. Nur eines passte mir nicht: Es war weit weg von ihrem Schlafzimmer, das sich eine Treppe höher befand. Genau neben dem leeren Raum, den ich nicht bekommen konnte.
„Warum geht das nicht?“, wollte ich von meiner Mutter wissen.
„Gefällt dir dein Zimmer nicht?“, fragte sie enttäuscht und fuhr mir über das Haar. Ich zog den Kopf zurück.
„Doch. Aber ich wäre gerne näher bei dir.“
„Komm schon, Kevin! Du bist doch mein Großer“, versuchte sie mich aufzumuntern.
Und dann erklärte sie mir, warum ich nicht in den oberen Stock umziehen konnte. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als sie es sagte: „Wir brauchen das Zimmer für das Baby, Kevin. Du bekommst bald ein Geschwisterchen! Ist das nicht wundervoll?“
Wundervoll? Wundervoll!? Ungläubig starrte ich sie an.
Mama!
Meine Mutter.
Das Baby war noch gar nicht da, und doch nahm es mir schon alles: Mein Zimmer, meine Mutter, ihre Liebe. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Die Wut kam wie eine Welle über mich, erfasste mich von unten, stieg von meinen Füßen auf und zuckte durch meinen ganzen Körper. Sie brachte mein Herz zum Rasen, nahm mir den Atem und schließlich, für einen Augenblick, den Verstand.
Ich rannte davon.

Am Freitag darauf brachte Paul eine Überraschung mit. Ein Hundebaby. Ich war außer mir vor Freude.
Ich wusste, nur weil Mama ein schlechtes Gewissen hatte, erlaubte sie mir nach langen Betteleien und dank Pauls Überredungskünsten, dass ich den Welpen behalten durfte. Dass es ein Pitbull sein musste, behagte ihr ganz und gar nicht. Schließlich stimmte sie zu, verlangte jedoch, dass ich zu einer Hundeschule ging und das Tier von Anfang an zum absoluten Gehorsam drillte.
Ich tat, was sie verlangte.
Und es war ein Riesenspaß zu sehen, welche Fortschritte die blütenweiße, junge Hündin machte. Blossom nannte ich sie. Selbst der Trainer war beeindruckt, wie gelehrig Blossom war. Sie gehorchte aufs Wort, verstand jede Anordnung und kam ihr eifrig nach. Sie war ein freundliches Tier, das musste sogar Mama zugeben. Und gehorsam. Wie meine Mutter es gewünscht hatte.
Paul war begeistert, wenn ich ihm vorführte, was Blossom bereits gelernt hatte. Stundenlang konnte er sich damit beschäftigen, dem Tier Befehle zu erteilen.
Er selbst brachte Blossom bei, jeden Morgen seine Zeitung hereinzuholen und zum Frühstückstisch zu tragen. Dort wartete sie dann geduldig und ohne einen Mucks von sich zu geben, bis Paul ihr die Zeitung endlich aus dem Maul nahm. Erst wenn er „Brav, Blossom“ sagte, wagte sie davonzutrotten.
Manchmal ließ er den jungen Hund eine halbe Stunde mit der Zeitung zwischen den Zähnen neben seinem Suhl sitzen, ohne ihn zu beachten.
„Weißt du, Kevin“, erklärte er mir dann mit eigenartiger Stimme, „der Hund muss wissen, wer das Sagen hat.“
Und das wusste die Hündin.
Blossom wuchs genauso schnell wie Mamas Bauch. Am 24. Juli kam schließlich meine Schwester Daniela zur Welt.
Alles drehte sich augenblicklich nur noch um sie! Meine Oma war ebenso närrisch wie Pauls Eltern. Und Mama? Sie hatte endlich wieder eine Familie. Und ein kleines Mädchen, das viel Zuwendung und Liebe brauchte. Sie war selig. Für den Bruder blieb kaum noch Zeit. Dauernd hieß es: „Kevin, du bist schon ein großer Junge.“ - „Geh doch mal mit ihr spazieren.“ - „Stell die Musik leiser.“
Immer öfter verkroch ich mich in mein Zimmer und vertiefte mich in meine Bücher: Helden der Antike, Homers Ilias, griechische Mythologie oder eine Vampir-Saga.
Auch Paul fühlte sich vernachlässigt und warf meiner Mutter häufig vor, dass sie seit Danielas Geburt keine besonders gute Ehefrau mehr wäre. Manchmal folgten auf solche Bemerkungen hitzige Streitgespräche. Danach verließ Paul wutentbrannt das Haus und ging stundenlang mit dem Hund durch den Wald, wo er einer beunruhigend blutrünstigen Leidenschaft frönte: mit Blossom Kaninchen jagen. Wenn sie zurückkamen, hatte Blossom meist rotbraune Flecken an der Schnauze und Paul war wieder ruhig und ausgeglichen.

Nach einem dieser Spaziergänge überraschte ich ihn, wie er weit hinten im Garten ein Loch aushob. Als ich näher kam, sah ich, dass im Gras neben der Brombeerhecke eine tote Katze lag.
Der schwarz-weiße Kater gehörte der kleinen Sara Hiller, die im Haus gegenüber wohnte.
Paul hatte sich erst kürzlich heftig mit Frau Hiller gestritten, weil er der Meinung war, dass sie zu dicht an unserer Einfahrt parkte.
Das Tier war übel zugerichtet! Eine Pfote war unnatürlich abgeknickt und dickes, schwarzes Blut klebte an der verzerrten Schnauze. Ich konnte die Spitze eines zersplitterten Zahnes erkennen. Die aufgerissenen Augen waren trüb, als läge eine milchige Haut darauf. Sie starrten blind ins Leere.
„Was machst du da?“, fragte ich.
Erschrocken fuhr Paul zu mir herum. „Ich habe dich nicht kommen hören. Warum schleichst du dich so an?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Das ist Jerry. Was hast du mit ihm gemacht?“
Er musterte mich unruhig und erklärte dann: „Er lag tot auf der Straße. Ich wollte nicht, dass die Kleine ihn so findet. Wahrscheinlich hat ihn jemand überfahren und ist einfach abgehauen.“
Mit dem Spaten beförderte er das tote Tier unsanft in die Grube und schaufelte Erde in das Loch.
Misstrauisch sah ich ihm zu. „Wieso vergräbst du ihn hier so heimlich?“
„Es ist besser für das Mädchen, wenn sie ihren Kater so in Erinnerung behält, wie er war.“
Er richtete sich auf und sah mich eindringlich an. „Es sieht ganz so aus, als ob wir ein kleines Geheimnis hätten. Nur du und ich. Und dabei wird es auch bleiben“, flüsterte Paul rau.
Sorgfältig trampelte er die Erde auf dem frischen Katzengrab fest. „Kapiert, Kevin?“
Flüchtig dachte ich daran, dass Sara nie erfahren würde, wie und warum ihr Kater verschwunden war.
Wir alle mussten unsere Verluste hinnehmen und lernen, damit zu leben - das Leben war eben nicht gerecht.

Ungerecht war auch, dass Blossom seit Danielas Geburt keine Pfote mehr in die obere Etage setzen durfte.
Danni-Maus hier, Danni-Maus da. Bei Danni-Maus war Mama nur noch Lächeln, Liebe und Gefühl.
Eines Tages hörte ich den Satz, den ich lange befürchtet und doch erwartet hatte: „Es ist besser, der Hund kommt weg.“
Mir wurde kalt vor Wut. Nein, ich würde nicht auch noch auf Blossom verzichten! Hatte ich nicht schon genug geopfert? Das Tier war alles, was mir noch geblieben war. Es schlief nachts friedlich am Fußende meines Bettes, machte keinen Krach, war sauber und folgsam. Im Gegensatz zu der ewig schreienden und stinkenden Daniela, die mich schon manche Nacht mit ihrem Geplärre aus dem Schlaf gerissen hatte. Ihr Mund ein brüllendes Loch, das meine Mutter mit Haut und Haaren verschluckte.
Mit einem komischen Gefühl in der Magengegend hörte ich dann, dass Mama sofort aufstand, wenn Daniela weinte. Wie sie mit nackten Füßen über den Flur eilte und in Dannis Zimmer verschwand.
Ich wusste, was sie dort tat, weil ich einmal hinaufschlich und es beobachtete: Sie knipste die kleine rosa Lampe an, setzte sich in den Schaukelstuhl und stillte den Schreihals. Sie lächelte die ganze Zeit und sang ihr leise vor: „La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu ...“
Mein Lied. Meine Mutter. Mama.
„... wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du.“
Oft hörte ich aus der oberen Etage, wie Mama im Babyzimmer lachte
Nach drei Monaten hatte ich mich noch immer nicht an das Baby gewöhnt - ich empfand nichts, wünschte mir einfach nur, es würde verschwinden und ich könnte wieder den wichtigsten Platz im Leben meiner Mutter einnehmen.
Aber wie sollte das jemals wahr werden?
Dabei war Danni-Maus doch nicht mehr als ein Moloch. Ein Ungeheuer, das alles verschlang, was ich liebte.

Einige Zeit später lachte sie nicht mehr. Sie ging auch nicht mehr in Dannis Zimmer.
Mama war in einer Klinik und Paul fuhr so oft zu ihr, wie es ging. Wenn er spät am Abend zurückkam, verschwand er wortlos im Schlafzimmer; scheinbar zerfressen von Schuldgefühlen.
Ich wurde von der Schule beurlaubt. Meine Oma kam ins Haus und versorgte mich. An ihren roten, geschwollenen Augen erkannte ich, dass sie heimlich weinte.
Auch ich trauerte. Aber nicht im Verborgenen. Laut schluchzend ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Dann drückte meine Oma mich tröstend an sich und wiegte mich sanft hin und her.
Natürlich glaubten alle, ich weinte wegen Danni, und das war gut so. Auch, wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Es war meine Hündin, um die ich trauerte.
Die Polizei hatte sie nach dem furchtbaren Unglücksfall mitgenommen und sie wurde eingeschläfert. Obwohl niemand sagen konnte, was in diesen wohlerzogenen Hund gefahren war, dass er einem Baby an die Kehle ging und es wie eine blutige Puppe wild hin und her schüttelte und sich sein blütenweißes Fell dunkel vom Blut färbte.
Keiner konnte sich erklären, was geschehen war. Blossom wurde von einem amtlich bestellten Tierarzt begutachtet. Doch selbst auf das Kommando „Fass“ schnappte Blossom lediglich nach dem gepolsterten Arm des Mannes und ließ ihn auf seinen Befehl hin sofort los. Sie reagierte weder in Stresssituationen noch auf Kinder und Kleinkinder aggressiv. Der Mann konnte nicht herausfinden, was der Auslöser für Blossoms Angriff gewesen war. Schließlich bescheinigte der Sachverständige sogar, dass der Hund anscheinend friedlich und gutmütig war.
Es blieb ein Rätsel.
Sterben musste er trotzdem.

Die Idee war mir nach einer Trainingsstunde auf dem Hundeplatz gekommen, als Blossom die Kommandos „Fass“ und „Aus“ lernte und ausführte. Der Trainer war mehr als zufrieden mit der Hündin. Sie befolgte die Befehle auf mein Kommando und ohne Verzögerung. Ich war so stolz auf sie.
Auf dem Heimweg beschloss ich, dass ich Blossom niemals abgeben würde. Sie sollte bei mir bleiben bis zu ihrem Tod. Blossom war alles, was ich noch hatte! Es fiel mir schwer, an der neuen Schule Kumpel zu finden, und ich hatte noch immer keine nennenswerten Freundschaften schließen können. Oft fühlte ich mich einsam und tröstete mich mit meinen Büchern oder der Spielkonsole. Blossom war meine einzige Freundin, von ihr fühlte ich mich geliebt. Und das hatte ich gern.
Wenn nur der Moloch nicht wäre. Mit Paul könnte ich mich zur Not abfinden.
Wäre Blossom doch ein bösartiges Tier, das nach Danni-Maus schnappen würde - dann wäre alles vorbei.
Zuerst erschrak ich bei diesem Gedanken. Aber nur kurz. Dann schien er mir die Lösung meiner Probleme. Ich begann, die Hündin heimlich zu trainieren. Alles, was ich dazu brauchte, war Zeit, ein abgelegener Ort, eine Lumpenpuppe aus Dannis Kleidern, an denen ihr Geruch haftete, und zwei Kommandos, damit ich Blossom befehligen konnte.
Die Kommandoworte überließ ich dem Zufall.
Ich schlug mein Wörterbuch an einer beliebigen Stelle auf und tippte mit dem Finger auf ein Wort: Leere. Und dahinter stand: (die, kein Plural) 1. Gehaltlosigkeit, Öde. SYN für Nichts, Vakuum. 2. Sinnlosigkeit. Eine gähnende Leere umgab ihn. Seine innere Leere quälte ihn sehr.
Gut. Das passte sogar!
Danach erwischte ich das Wort Arglist. Es war zu banal und berührte mich nicht. Ich beschloss, weiter hinten im Buch noch einmal mein Glück zu versuchen.
Das neue Wort lautete: Zero. (die/das) (arab.) Null. Nichts.
Es war vollkommen.
Nach vier Wochen täglichem Training funktionierte Blossom perfekt.
Endlich war der Tag gekommen. Ein Sonntagmorgen. Mama stand unter der Dusche und Paul war joggen. Ich schlich auf Zehenspitzen, Blossom bei Fuß, in das Babyzimmer. Ganz leise beugte ich mich über das niedrige Bett.
Dort lag Danni-Maus. Ich beobachtete sie eine Weile. Sie lächelte selbstzufrieden im Schlaf, ihre Lippen waren ein hässlicher Riss in ihrem Gesicht. Sie wachte nicht auf. Sie erwachte nie, wenn ich heimlich in ihr Zimmer kam und sie beobachtete. Wozu nur das ganze Getue um so ein mickriges Ding?
Blossom stand leise hechelnd neben mir und sah zu mir auf.
Ich sagte: „Zero.“ Und sie führte das Kommando folgsam aus.
Geschmeidig und ohne zu zögern setzte der Kampfhund über die Gitterstäbe des Bettchens und zerrte den kleinen Körper mit sich.
Blossom verbiss sich schmatzend in die zarte Kehle und schüttelte das Baby mit kraftvoll hin und her. Der röchelnde Moloch wand sich, bewegte heftig seine Arme und starrte aus riesigen blauen Augen. Aus den Nasenlöchern rann schaumiges Blut.
Danni-Maus strampelte krampfhaft mit den Beinen und gab erstickte, gurgelnde Laute von sich.
Blossom begann zu knurren. Erst unmerklich, dann immer lauter stieß sie aus tiefster Kehle ein bedrohliches Grollen hervor. Ihr Nackenfell sträubte sich und sie zog die Lefzen hoch. Etwas war mit dem Tier geschehen: Der Pitbull hatte warmes Blut geschmeckt. Ein in seinem Innern verborgener Instinkt erwachte zum Leben.
Wie von Sinnen schüttelte die Hündin den kleinen Leib hin und her und zerrte ihn durch den Raum.
Blossom biss den Moloch an unzähligen Stellen.
Ein warmer, roter Regen, der sich im Zimmer verteilte und das blütenweiße Hundefell ungleichmäßig sprenkelte. Dicke, dunkelrote Tropfen. Blossom war in einem Rausch.
Im Zimmer roch es nach Kleingeld: Nach kupfernen Münzen, die ich in meinen Hosentaschen mit mir herumtrug und mit denen ich ständig klimperte. Sie hinterließen einen ähnlichen Geruch an meinen Fingern. Den Geruch von Blut.
Vorsichtig stahl ich mich aus dem Raum und versteckte mich im gegenüberliegenden Gästezimmer. Mein Atem kam stoßweise und mein Herz hämmerte in meiner Brust. Mir wurde schwindelig und ich bemühte mich, tief und gleichmäßig zu atmen.
Ich ging in dem Augenblick zurück, als ich meine Mutter schreien hörte. Sie sah mich erst, nachdem sie das Geschehen entdeckt hatte. Mama hatte keine Ahnung, dass ich die ganze Zeit im Zimmer gegenüber gestanden und gelauscht hatte.
Die Art, wie meine Mutter schrille, unartikulierte Schreie ausstieß, erinnerte mich an ein verzweifeltes Tier. Sie trat und schlug auf Blossom ein, kreischte immer wieder „Aus! Blossom, aus!“ Sie zerrte mit aller Kraft an dem Hundehalsband, aber der Pitbull reagierte nicht.
Danielas Blut klebte an den Händen meiner Mutter.
Ich beobachtete sie ganz genau, denn ich musste mir vollkommen sicher sein, dass Mama nichts anderes mehr wahrnahm als ihr kleines Mädchen in den Fängen der reißenden Bestie.
Nur so würde sie weder registrieren noch begreifen, dass ich Blossom kontrollierte.
Schließlich gab ich der Hündin leise ihren letzten Befehl: „Leere, Blossom.“
Willig gehorchte das Tier. Sie ließ das blutige Bündel vor die Füße meiner Mutter fallen. Wie einen Tierkadaver.

Paul hatte Polizei und Notarzt angerufen. Später, nachdem alle wieder fort waren, saßen er und ich im Wohnzimmer und weinten.
Blossom und Mama waren fort.
Und Danni-Maus.
Wenn Mama aus der Klinik entlassen wird, werde ich für sie sorgen. Sie mag es, wenn ich bei ihr sitze und über ihr Haar streichele. So, wie ich es getan habe, als Papa verunglückte. Ich werde bei ihr in ihrem fast dunklen Zimmer sitzen. Dann fühle ich mich geliebt. Und das habe ich gern.

Heute, nach drei Tagen, lese ich es in der Zeitung. Der Bericht ist kleiner als Danielas Todesanzeige. Lediglich 5 cm mal 6 cm. Ohne die Überschrift sind es keine 10 Zeilen, auf der dritten Seite, ganz rechts:
 
 Pittbull tötet
 4 Monate altes Baby
 Dortmund DPA- Ein vier Mo-
 nate altes Mädchen ist in Dortmund
 von einem Pitbull totgebissen worden.
 Die Mutter hatte den Säugling
 unbeobachtet in seinem Bettchen zurückgelassen, als der
 Kampfhund sich auf das
 Kind stürzte und es tötete.
 Der Hund der Familie wurde von der Polizei
 mitgenommen und von einem Amtsarzt
 eingeschläfert.

Ich liege in meinem Zimmer auf dem Teppich und lache. Ich fühle mich so gut und friedlich.
Ein Unfall! Eine Tragödie, an der unsere Welt nicht mehr Interesse zeigt als diese paar Zeilen.
Niemand kam auf die Wahrheit. Wie auch? Nichts deutete darauf hin, dass es etwas anderes war als ein schwerer Schlag des Schicksals.
Selbst wenn jemandem der Verdacht kommen sollte, dass es sich nicht um einen Unglücksfall handeln könnte: Die Menschen sind dumm! Sie denken, weil ich erst zwölf bin, könnte ich nie etwas Böses tun. Ich bin bloß ein Junge. Kinder können nicht mutwillig etwas Grausames tun. Das glauben sie wirklich.
Ich finde das seltsam. Meinen die Leute, es kommt eines Tages der Augenblick, an dem
sich ein unschuldiges Kind plötzlich in einen bösen Erwachsenen verwandelt, und erst dann wäre es fähig, Böses zu tun, grausame Gedanken zu hegen und schlechte Empfindungen zu haben? Von einem Moment zum anderen?
Wann sollte dieser Augenblick eintreten? Wenn die Milchzähne ausfallen? Mit der Pubertät, der Geschlechtsreife oder der Volljährigkeit?
Keiner verdächtigt ein Kind.
Es war der perfekte Mord! Es gab nicht den Hauch eines Verdachtes. Keine Zeugen, die Mordwaffe existierte nicht mehr, und die Überreste der Puppe hatte ich im Wald verbrannt.
Regelmäßig steht in irgendeiner Zeitung, dass ein Kampfhund ein Kind getötet hat. Wie viele von ihnen mögen kleine Mordopfer sein?
Ich denke gern an den Duft des Blutes zurück. Und an seine Farben: spritzig und hell, warmes Dunkelrot, geronnenes Schwarz, trockenes Braun.
Meine Gedanken wandern weiter zu Blossom und ich erinnere mich an jede Einzelheit. Wenn ich allein bin, lasse ich die Bilder langsam in meinem Kopf abspulen. Immer wieder. Dabei habe ich das Gefühl, dass Blossom bei mir ist. Ganz nah. Dann fühle ich mich geliebt.
Und das habe ich gern.