Cover Meine SeeleWinterspaß und Weihnachtszauber
(Original ist illustriert)
© Sabine Ludwigs

Der verschwundene Nussknacker

 Wie im Flug vergeht der erste Advents-Sonntag! Es ist schon weit nach Mittag. Draußen regnet es ununterbrochen, und es wird früher dunkel als gewöhnlich.
Lisa und Marie Adler spielen Tierarzt. Fast jedes Stofftier im Kinderzimmer trägt ein Pflaster oder einen Verband. Sie sind gerade dabei, dem Plüschdackel Karli den Blinddarm heraus- zunehmen, als sie ihre Mutter rufen hören: „Mädchen, es ist so weit!“
Gleichzeitig springen die beiden auf und stürmen in die Essecke. Das Licht ist gedimmt. Der Adventskranz steht auf dem runden Tisch. Er duftet wunderbar nach Tannengrün. Die Kerzen glänzen so golden wie die Nüsse, die im Kranz stecken. In diesem Jahr darf die jüngere Marie das erste Licht anzünden.
Sie ratscht mit einem langen Streichholz über die Reibefläche der Zündholzschachtel, danach hält sie das Flämmchen an den Docht. Es zischt leise, dann züngelt es. Nachdem die Kerze brennt, pustet Lisa das Hölzchen aus.
Alle sitzen in vergnügter Runde beisammen. Mama hat das Hörspiel „Nussknacker und Mäusekönig“ eingelegt. Sie freuen sich auf das Märchen über den verhexten Nussknacker, das Marzipanschloss und die Zaubernuss Kratatuk. Und auf das Nüsseknacken – denn Familie Adler liebt Nüsse!
Neben dem Adventskranz hält sich der alte Holznussknacker aufrecht, der aussieht wie ein Husar. Seine steifen Arme lassen sich auf und ab bewegen. Er trägt eine rote Uniformjacke, eine schwarze Mütze und Stiefel. An seiner linken Seite hängt ein Degen. Außerdem hat er einen eisgrauen Bart und große aufgemalte Zähne, von denen das Weiß abblättert.
Sobald man den Hebel auf seinem Rücken nach oben zieht, sperrt er seine Kiefer sperrangelweit auf. Dann passt genau eine Nuss hinein.
Wenn man sie in seinen Mund legt und den Hebel drückt, beißt der Husar zu. Es knirscht ein bisschen, bevor die Schale mit einem Knacken zerbricht und der Nusskern vor einem liegt. Das heißt, früher war das so. Der Mechanismus ist schon lange kaputt. Die Adlers benutzen mittlerweile einen modernen Nussknacker aus Edelstahl, der Marie an eine Zange erinnert. Der Holzknacker ist bloß noch zur Zierde da und weil Marie ihn so mag.
Der Korb mit den Nüssen steht zu seinen Füßen. Er quillt beinahe über von Paranüssen, Wal- und Haselnüssen und den kugelrunden Macadamia-Nüssen, die Lisa am liebsten isst.
„Mmh, sehen die lecker aus.“ Lisa nimmt sich eine heraus. „Hat irgendwer den neuen Nussknacker gesehen?“
Mama sucht den Tisch mit den Augen ab. „Ich habe angenommen, Papa hätte ihn zu den Nüssen gelegt.“
„Nein“. Er schüttelt den Kopf. „Ich dachte, er liegt schon hier.“
„Na, dann wird er wohl in irgendeiner Küchenschublade sein.“
Mama geht hinaus. Kurz darauf ruft sie: „Ich kann ihn nirgends finden.“ Dabei kramt sie weiter geräuschvoll in den Schubfächern herum.
„Es kann sein, dass er noch in der Weihnachtskiste im Keller liegt“, überlegt Papa laut. „Ich schaue nach!“ Er reißt die Wohnungstür auf. Für eine Weile kann man seine Schritte im Hausflur hören, wie er die Stufen hinunterläuft. Schließlich verhallen sie.
„Oder er liegt womöglich in unserer Spielzeugtruhe“, flüstert Lisa und schleicht schuld- bewusst ins Kinderzimmer, um nachzusehen. Marie bleibt allein zurück. Sie sitzt auf ihrem Stuhl, schaut in das Kerzenlicht und hört sich weiter die Geschichte vom Nussknacker und dem bösen Mäusekönig an. Jetzt kommt die Stelle, an der die niedliche Zuckerfee auf Zehenspitzen tanzt. Die mag Marie, die Balletttänzerin werden will, besonders gern!
Marie steht auf. Mit erhobenen Armen tanzt sie zum Klang der Musik andächtig um den Tisch. In ihrer Fantasie wird sie selbst zu einer Zuckerfee und tippelt in einem weißen Ballettkleidchen aus Tüll auf Zehenspitzen um den Nussknacker herum. Der sieht im zuckenden Kerzenschein plötzlich wie ein Marie Zuckerfee kichert. Der Holzmann scheint zu grinsen und mit den Augen zu zwinkern. Marie bleibt stehen. Sie lässt die Arme sinken.
„Du“, fragt sie leise, „hast du eine Ahnung, wo unsere Nussknacker-Zange ist?“
Der Husar gibt keine Antwort. Stattdessen flammt das Kerzenlicht so grell auf, dass Marie blinzeln muss. Mit einem Mal klappt die Kinnlade des Holzknackers nach unten, und er steht mit weit aufgerissenem Mund ganz dicht vor ihr.
Marie fährt überrascht zurück. Ihr ist, als würde der Husar heiser raunen: „Eine Nuss, eine Nuss. Gib mir eine Nuss!“ …