Covver PaarweiseDer Kuss
© Sabine Ludwigs

Morgen war es so weit. Wieder nahm ich die Zeitung, schaute mir die Anzeige an und fühlte mich nicht Wohl in meiner Haut: Am 16. Juli geben wir uns um 9.30 Uhr vor dem Standesamt Lünen das Ja-Wort: Inga Roth und Peer Klein.
Nur elf Monate nachdem ich mich von Roman getrennt hatte, wagte ich den Schritt in eine Ehe. Es war nicht die große Liebe, wie bei Roman, das nicht. Doch ich glaubte, in Peer würde ich einen zuverlässigen Mann haben. Und meine Unruhe? Nun, vermutlich ging es jeder Frau in der Nacht vor ihrer Hochzeit so.
Ich legte die Zeitung auf den Couchtisch, als das Telefon klingelte. Nach dem zweiten Läuten ging ich ran.
„Roth.“
Ich hörte ein Atmen. Unverkennbar; sein Atmen, ich erkannte es sofort, noch bevor Roman in den Hörer raunte:
„Es ende nie
Lippen tasten Lippen
und verlieren sich …“
Unser Gedicht! Er hatte es mir nach unserem ersten Kuss ins Ohr geflüstert. Damals, vor drei Jahren. Und dann immer wieder … Mein Herz tat einen Satz, pumpte das Blut schäumend durch meinen Venen.
Ich hängte ein.
Das Telefon läutete erneut. Ich wartete, bis der Anrufbeantworter sich einschaltete: „Hier ist der Anschluss Roth und Klein. Wir können im Moment nicht an den Apparat gehen, bei Hinterlassen einer Nachricht rufen wir zurück. Danke.“
Und dann seine Stimme, seine Worte, unsere Worte ...
„Es ende nie,
Lippen tasten Lippen
und verlieren sich
streifen Nacken
suchen Knospen
senden Schauer
saugen Süße
finden sich erneut
Lippen tasten Lippen                                                                        
es ende nie.“
Er legte nicht auf! Ich konnte seine Atemzüge hören, nahm ganz behutsam den Hörer auf und presste ihn an mein Ohr.
Roman pustete sacht in die Muschel. Es kam mir vor, als hätte er seinen Atem durch die Leitung zu mir geschickt. Ich spürte beinahe, wie er warm und wispernd in mein Ohr drang und meine Nackenhärchen dazu brachte, sich diesem vermeintlichen Hauch erwartungsvoll entgegenzurecken.
„Hör auf damit“, flüsterte ich, während der Takt meines Herzschlages etwas ganz anderes forderte.
Er blies noch einmal zart hinein und verursachte mir erneut einen Schauer.
„Ich weiß, dass du allein bist Inga. Deine Schwester hat es mir verraten. Peer feiert Junggesellenabschied und wird bei einem Freund übernachten. Du bist abergläubisch. Die letzte Nacht vor der Hochzeit mit dem Bräutigam zu verleben, bringt Unglück!“
„Was willst du?“
„Was ich immer wollte. Dich. Weißt du nicht mehr? Es ende nie.“ Er lachte leise, dieses heisere, tiefe Lachen, das mir sofort unter die Haut kroch.
„Du wolltest nicht, Roman. Nun ist es zu spät.“
„Beinahe zu spät, Inga, nur beinahe. Und ich wollte noch nicht heiraten. Dich wollte ich immer. Und daran hat sich nichts geändert. Du gehörst zu mir. Dir bleibt nur noch heute Nacht, um dich endgültig zu entscheiden, Inga. Heute Nacht – oder nie.“
Monatelang hatte ich alles verdrängt: Aus Stolz und verletzten Gefühlen verließ ich Roman und hoffte ihn so zwingen, seine Meinung zu ändern.
Obwohl ich oft daran dachte zu ihm zurückzugehen, fehlte mir letztlich der Mut. Was, wenn er eine andere …? Ich konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken und wartete stattdessen auf ein Zeichen von ihm.
Vergeblich.
Später wollte ich ihn bestrafen, ihm zeigen wie schnell jemand anders mir einen Ehering anstecken würde. Dass es aus Peers Sicht in erster Linie um die günstigere Besteuerung von Ehegatten ging, machte mir nichts aus.
Meine Hand bebte, als ich einhängte und den Telefonstecker herauszog.
Ich brauchte frische Luft! Wie im Fieber ging ich in den Garten, wanderte rastlos und barfuss über den Rasen und kämpfte. Kämpfte gegen das Sehnen in meinem Bauch, das Zittern meiner Hände, meinen bebenden Puls und diese Stimme in meinem Ohr, die ununterbrochen raunte: „Es ende nie ...“
Das Quietschen des Gartentores zerschnitt irgendwann die nächtliche Stille.
Groß und dunkel stand er da. Allein seine Gegenwart brachte mein Herz zum Rasen und eine Armee Phantomkäferchen krabbelte mit hauchfeinen Beinchen mein Rückgrat hinauf. Jeder Nerv in meinem Innern vibrierte, jedes Fetzchen Haut sehnte sich danach von seinen Händen liebkost, seinen Lippen berührt zu werden.
Streifen Nacken … suchen Knospen … senden Schauer … saugen Süße
Ich holte zitternd Luft. Nach all den Monaten entsann sich mein Körper sofort seiner Zärtlichkeiten - und verzehrte sich danach.
Roman kam näher und blieb dicht vor mir stehen. Er schob mir eine Hand unter das Kinn und zwang mich ihn anzusehen.
Sein Gesicht war hager geworden, ein paar Falten hatten sich um seinen Mund gegraben. Ich begriff, dass ich die Ursache dafür war.
Sein Blick ließ meinen los und wanderten zu meinen Lippen, sodass ich unwillkürlich mit der Zungenspitze darüber fuhr.
Er beugte sich über mich, hielt Millimeter vor meinem Mund inne, so dicht, dass wir uns beinahe berührten. Beinahe! Ich schloss die Augen, konnte seinen Atem auf meinen feuchten Lippen spüren.
Er flüsterte: „Finden sich erneut.“
Wie eine Schlafwandlerin erwiderte ich: „Lippen tasten Lippen.“
Mit beiden Händen umfasste er mein Gesicht. Wie von Zauberhand hob ich mich auf die Zehenspitzen. Ich spürte den rauen Stoff seines Hemdes, als er mich an sich zog, fühlte, wie sich jedes Härchen auf meinem Körper aufrichtete und mein Herz hämmerte und hämmerte und dann – endlich! – lag sein Mund auf meinem.
Meine Seele erinnerte sich an Romans Geruch, den Geschmacks seiner Küsse, das Gefühl seiner Hände auf meiner Haut – entsann sich wie es war, wenn er sich fordernd gegen mich drückte und ich mich noch enger an ihn schmiegte.
Es war ein Kuss, anders als jeder Kuss, den ich je bekommen hatte:
Ich trank seine Sehnsucht; sie schmeckte süß und bitter zugleich und vermischte sich mit dem Salz meiner Tränen. Seine Zunge liebkoste meine; der Kuss war sanft, magisch, endlos – er war Liebe, reine Liebe, und löschte alles andere aus.
Als Roman mich irgendwann losließ, schwindelte mir. Es war kalt, als ich seine Wärme nicht mehr spürte und sie fehlte mir augenblicklich.
Er schaute mich an.
Fragend.
Ich nickte langsam, flüsterte atemlos: „Es ende nie …“

 

Quellennachweis:
Gedicht von Heiner Eckel: es ende nie - mit freundlicher Genehmigung des Autors!