Das Wasser war schwarz, kalt und schmeckte durchdringend nach Chlor. Ich versank darin. Ich versank und konnte nichts dagegen tun.
Es drang durch meine Kehle, die Nasenlöcher, in die Ohren. Und unter dem unglaublichen Druck platzten meine Trommelfelle. Gleichzeitig hatte ich das entsetzliche Gefühl, meine Augäpfel würden aus ihren Höhlen gedrückt. Lichtblitze zuckten stroboskopisch durch meinen Schädel.
Es tat weh zu ertrinken!
Überall. Am ganzen Körper. In meinem Kopf. Im Hals. Hinter den Rippen. In den Lungen. Im Bauch. Sogar in den Kammern meines Herzens.
Ich hatte keine Kraft. Bewegungslos hing ich in der Schwebe; ein Empfinden, als wäre ich aus aufgeweichtem Brot und mein Fleisch würde sich bröckchenweise von den Knochen lösen und davontreiben.
Mir wurde schwindelig. Doch schon im nächsten Augenblick meinte ich, in rasender Geschwindigkeit abwärts in einen unendlich tiefen Schacht gezogen zu werden. Eine Supernova explodierte hinter meiner Stirn, gefolgt von alles verschlingender Dunkelheit.
Es wurde tiefschwarz.
Und unglaublich still.
Daran erinnerte ich mich noch, als ich in der Klinik aufwachte. Und an eine von Zorn entstellte Männerstimme, kurz bevor mich die Lautlosigkeit verschluckte. Verzerrt und zischend, als würde sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst: „Ich bring dich um!“
Darüber denke ich nach. Hier. Im Krankenhaus. In der dämmrigen Wärme eines Kleiderschrankes, in den ich mich zurückgezogen habe. Ich kauere auf dem Holzboden und komme zu dem Schluss, dass mein sterbender Verstand mir wahrscheinlich einen bösen Streich gespielt hat. Nicht mit der Erinnerung an das Ertrinken. Aber mit der zischenden Stimme.
Auf einmal werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Jemand klopft mit harten Fingerknöcheln gegen die weiß lackierte Schranktür.
Ich erstarre.
Poch macht es. Poch ... Poch.
„Sina-Mareen?“
Die Stimme eines Fremden. Sie klingt sanft, beinahe zärtlich, und sie bringt meinen Nackenflaum dazu, sich aufzurichten.
Poch macht es wieder. Poch ... Poch.
„Sina-Mareen“, flüstert der Fremde. „Ich bin da.“
Irgendwo habe ich diese Stimme schon einmal gehört.
ERSTER TEIL
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Spurensuche
Kapitel 1
In den frühen Morgenstunden des sechsten Mai wurde ich in die Park-Klinik eingeliefert. Im Wasser umgekommen und wiederbelebt.
Das Einzige, was ich am Leib trug, war ein rotes Bikinihöschen. Mein Haar triefte vor Nässe, an der rechten Schläfe hatte ich eine Platzwunde, und die Beule an meinem Hinterkopf war so ausgeprägt und schmerzhaft, dass ich noch Tage später nur auf dem Bauch oder der Seite liegend schlafen konnte.
Das Unbehagen, das ich unter all den Fremden empfinde, die mich entweder Frau Hohwacht oder Sina-Mareen nennen, schnürt mir manchmal die Luft ab. Ich fühle mich wie in einem weingeschwängerten Halbschlaf: schwer, desorientiert, in einem wirren Traum befangen.
Ich wünsche mir, jeden Moment aufzuwachen. „Lieber Gott“, bete ich manchmal im Schrank. „Bitte mach, dass ich bald aufwache.“
Aber ich wache nicht auf.
Ich hatte einen nächtlichen Badeunfall. Heißt es. Demnach bin ich ein Nachtmensch. So ist es keineswegs eine Seltenheit, dass ich in der Zurückgezogenheit meines Schmuckateliers bis zum Morgen durcharbeite. Manchmal gehe ich auch im Garten spazieren und sehe mir die Sterne an. In warmen Nächten schwimme ich ab und an im Außenpool. Und weil das Wetter in den letzten Tagen fast sommerlich gewesen war, hatte ich mich wohl auch in jener Nacht entschlossen, ein paar Bahnen zu schwimmen.
Doch am Einstieg zum Becken muss ich gestürzt sein. Ich schlug mit dem Kopf gegen den Rand, war halb bewusstlos, fiel in den Pool und versank.
Wenigstens nehme ich das an. Ich schließe es aus dem Wenigen, was der Fremde, der gegen die Schranktür geklopft hat, mir erzählte.
Es kann aber ebenso gut alles ganz anders gewesen sein.
Der Fremde ist mir ein Rätsel.
Er behauptet durch die geschlossenen Schranktüren hindurch, mich aus dem Pool gezogen, mich gerettet zu haben. Und mit mir verheiratet zu sein. Von beidem weiß ich nichts.
Jeden Tag taucht er auf, eine halbe Stunde, bevor die Krankenschwestern das Frühstück austeilen, pünktlich wie eine Atomuhr.
Ich stelle mir vor, wie er sich durch den Verkehr einer Stadt kämpft, mit dem Aufzug in den fünften Stock fährt, aussteigt und ohne zu zögern auf Zimmer 512 zugeht.
Mein Zimmer.
Er klopft stets an, ehe er eintritt. Ich glaube zu wissen, dass er es tut, damit ich im Kleiderschrank verschwinden kann. Völlig unnötig, weil ich bereits darin bin, lange bevor er auftaucht.
Ehrlich gesagt, sitze ich die meiste Zeit des Tages hier drinnen und komme lediglich zum Schlafen, Duschen, Essen und natürlich zur Visite heraus.
Nur hier, in der dämmrigen Stille, die mit der Wärme und dem Geruch meines Körpers angefüllt ist und in der ich dem stetigen, dumpfen Pochen meines Herzens lausche, fühle ich mich einigermaßen sicher. Ich schließe die Tür und sperre alles aus.
Hier drinnen ist die Welt klein und bietet keinen Raum für unliebsame Überraschungen. Alles ist überschaubar, auch meine Angst. Niemand ist da. Nur ich und die Leere in meinem Kopf. Keine Reizüberflutung von unbekannten Menschen, Tönen und Bildern, die mich verwirren oder nervös machen. Hier kann ich nicht verloren gehen. Nicht noch einmal.
Der Fremde, mein Mann, kommt herein. Er schließt die Tür hinter sich, durch die sekundenlang die typischen Geräusche eines geschäftigen Krankenhauses dringen, und setzt sich vor meinen Schrank. Mit den Knöcheln klopft er gegen das Holz.
„Sina-Mareen, ich bin da“, begrüßt er mich, und ich mache „Hm“, nur um irgendwas von mir zu geben.
Ich entsinne mich noch, dass er bei seinem zweiten Besuch gar nichts sagte. Man hörte lediglich, wie er sich auf den Fußboden setzte, den Rücken gegen die Schranktür lehnte, und dann war da sein Schweigen.
Bis er auf einmal den Song I don't wanna miss a thing von Aerosmith vor sich hin sang. Und plötzlich, ich weiß selbst nicht, wie es passierte, fiel ich in den Refrain ein und unsere Stimmen harmonierten auf wunderbare Weise miteinander:
„I don't wanna close my eyes
I don't wanna fall asleep
'Cause I'd miss you, babe
And I don't wanna miss a thing …”
Er verstummte.
Ich ebenso.
Ich hörte, dass er aufstand und ging.
Er ließ mich in diesem Kleiderschrank zurück. Meine Gedanken wimmelten wie ein Schwarm silberner Heringe umher. Ohne Sinn und Verstand, einfach nicht zu fassen.
Am dritten Tag erzählte er mir mehr von meinem Unfall.
Am vierten von Rainer Maria, der seinen Appetit verloren hat. Er fläzt sich den ganzen Tag über in einem Schaukelstuhl. Dieser steht in einem Wohnzimmer vor einem Panoramafenster mit Blick in einen Garten. Ein schmiedeeiserner Zaun windet sich um das Grundstück.
Er beschreibt alles so detailliert, dass es mir bildlich vor Augen steht. Außerdem habe ich das Gefühl, er erwartet etwas von mir. Einen Kommentar vielleicht. Oder eine Frage.
Doch ich bringe nichts über meine Lippen.
In den folgenden Tagen erzählt er mir, dass Dirk, ein Friseur, abgeschnittene Haare mit nach Hause nimmt und darin badet. Marina verehrt eine grüne Plastikspielzeugschlange als Gott und Barbara träumt seit fünf Jahren von einem Koch, der ihre Augen mit Schaschlikspießen durchbohren will, weswegen sie ihr Haus nicht mehr verlässt.
Es liegt nicht an diesen bizarren Geschichten, dass ich den Atem anhalte, um ja keines seiner Worte zu verpassen, die gedämpft zu mir hereinklingen, sondern an seiner Stimme.
Sie ist tief, ein bisschen kehlig und unglaublich sinnlich. Ein Timbre, das sich wie die Fingerspitzen einer rauen Männerhand anfühlt. Fingerspitzen, die sich in meinen Nacken stehlen, um unendlich langsam mein Rückgrat hinunterzuwandern.
Ich genieße die Gänsehaut, die sie mir verursacht. Ich kann gar nicht genug davon bekommen und frage mich, wie der Mann aussieht, dem diese Stimme gehört.
„Einfach um-wer-fend“, will man glauben, was Schwester Bianka zu Schwester Gabi gesagt hat. „Um-wer-fend! Beinahe wie Antonio Banderas!“
Natürlich spiele ich manchmal mit dem Gedanken, heimlich die Schranktür zu öffnen und „meinen Mann“ zu betrachten. Aber ich traue mich nicht, weil sie quietscht und er es bemerken könnte. Und ich will nicht, dass er dann womöglich zu mir hereinschaut. Direkt. Von Angesicht zu Angesicht. Ich bin einfach noch nicht so weit, jemanden von da draußen einzulassen.
Es raschelt, wenn er die Tageszeitung neben sich legt, die er mir mitbringt, damit ich auf dem Laufenden bleibe und über das Erdbeben in China, den Zyklon in Birma und diesen abscheulichen Kerl lesen kann, der seine Tochter vierundzwanzig Jahre in einem Kellerverlies gefangen hielt, sie vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte, bevor sie freikam.
Viel lieber würde ich Kochrezepte lesen. Oder mein Horoskop. Andererseits - welches Sternzeichen? Bin ich Schütze? Waage? Oder Löwe?
Wenn das Frühstück aufgetragen wird, steht der Mann auf und sagt: „Rainer Maria wartet.“ Dann geht er.
Heute, so habe ich mir ganz fest vorgenommen, werde ich ihn fragen, woher er all die skurrilen Menschen kennt, von denen er mir erzählt. Und wer Rainer Maria ist.
Doch die Worte kommen einfach nicht aus mir heraus, bleiben stecken auf ihrem Weg nach draußen, als er mir erklärt, dass er mich mitnehmen wird.
Morgen.
Kapitel 2
Ich bekomme die ganze Nacht kein Auge zu. Morgen, denke ich unablässig, morgen.
Die Zeit bis dahin vergeht eigenartig. Einerseits rast sie im Sekundentakt, andererseits schleppt sie sich über zähe Stunden dahin. Das bringt mich abwechselnd zum Frösteln und zum Schwitzen, dreht mich auf oder macht mich apathisch.
Es ist früher Vormittag. Die Sachen, die ich anziehen soll – eine anthrazitgraue Leinenhose, eine bordeauxfarbene taillierte Bluse und schwarze Slingpumps - hat der Mann mitgebracht. Er hat sie vor dem Kleiderschrank abgelegt, in dem ich sitze und lausche, ob sich seine Schritte wieder entfernen. Was sie auch tun.
Als ich nach einiger Zeit die leise quietschende Schranktür öffne und durch den Spalt hinausschaue, liegen die Sachen ordentlich gefaltet auf dem hellgrauen Linoleum.
Ein Büstenhalter und ein Slip aus rosa Seide schimmern im Sonnenlicht wie schmelzendes Himbeereis.
Ohne den Schrank zu verlassen, strecke ich eine Hand aus, greife nach dem BH und halte ihn unter meine Nase. Er duftet nach Waschmittel und Weichspüler, frisch und dezent nach irgendeiner Blüte. Jasmin, glaube ich, und ich denke: Aprilfrisch.
Durch den Spalt angele ich hastig nach den restlichen Sachen, hole sie zu mir herein und ziehe die Tür wieder zu.
Ich sitze im Halbdunkel und inhaliere den gleichen sauberen Geruch, der vermutlich an Tausenden anderer Slips, Hosen und Blusen auf der Welt haftet. Ein Geruch, der mir absolut nichts über die Frau verrät, der diese Kleider gehören. Nicht anders als die Unterwäsche, die leichten Nachthemden, der Morgenmantel und die Handtücher, die mir der Mann zuvor in die Klinik gebracht hatte. Alles duftet sauber.
Nichts riecht nach dem Leben von Sina-Mareen.
Hat sie einen Hund?
Raucht sie?
Welches Parfüm nimmt sie?
Benutzt sie immer das gleiche Deo?
Auf jeden Fall sind die Kleidungsstücke von guter Qualität und schlichter Eleganz. Die Stoffe fühlen sich weich und anschmiegsam an. Die Farbe der Bluse gefällt mir. So weit – so gut.
Vorsichtig drücke ich die Schranktür auf. Das Zimmer liegt noch immer verlassen da. Leise komme ich hervor, ziehe das Nachthemd aus und die mitgebrachten Sachen an.
In meiner Nervosität knöpfe ich die Bluse falsch zu. Bei der überschlanken Frau mit der blasslila Schläfe, die mich aus dem Spiegel heraus ansieht, steht die rechte Kragenseite hoch. Im Gegensatz dazu scheint das eine Blusenende kürzer als das andere. Mit verschwitzten Fingern öffne ich die Knopfleiste und schließe sie noch einmal richtig. Ich schlüpfe in die Schuhe und jetzt entdecke ich die Handtasche, die auf dem Bett liegt.
Ich öffne sie und erfahre, dass die Frau Chanel No. 5 benutzt. Mit dem Lidschatten und der Wimperntusche, die ich darin finde, schminke ich meine Augen. Der Puder überdeckt das Glänzen der Nase und den Bluterguss. Ich kämme das blonde Haar. Es fällt in leichten Wellen bis weit über meine Schultern. Den Lippenstift benutze ich nicht, aber das Parfüm tupfe ich nach kurzem Zögern in meinen Nacken und die Mulde zwischen meinen Brüsten.
Wieder liegt ein Hauch von Jasmin in der Luft, diesmal begleitet von Rosenduft und dem zart-blumigen Aroma der Neroli.
Die Frau im Spiegel scheint eine Schwäche dafür zu haben. Diesmal schaut sie nicht nur prüfend, vielmehr mustert sie mich eingehend. Sie scheint mich zu scannen, beinahe, als könnte ihr mein Anblick irgendetwas verraten.
Oder ist es umgekehrt?
In diesem Moment klopft es.
Ich springe zurück in den Schrank und ziehe die Türe so hastig zu, dass ich mir die Finger einklemme. Ich zische vor Schmerz.
Dann höre ich ihn.
Meinen ... Mann.
Er nähert sich dem Kleiderschrank und bleibt stehen. Es folgen das vertraute Geraschel, als er sich zu Boden sinken lässt und sich hinsetzt, seine Atemzüge und schließlich seine Stimme, deren Klang mich selig macht.
„Elisabet wollte unbedingt mitkommen, dich abholen. Na ja, ich konnte es ihr nicht abschlagen. Aber ich habe ihr gesagt, es wäre besser, wenn ich allein heraufkomme und dich auf sie vorbereite. Sie wartet unten auf dich. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“
Elisabet? Ich habe keine Ahnung, wer Elisabet ist. Und das sage ich ihm auch.
Er lacht.
Ein Geräusch wie eine Liebkosung.
„Deine Schwester.“
„Ich habe eine Schwester?“
Er lacht wieder, halb besorgt, halb amüsiert, und versichert mir, dass diese Elisabet tatsächlich meine jüngere Schwester ist. „Deine einzige“, sind seine genauen Worte. „Andere Geschwister hast du nicht.“
„Weshalb hat sie mich nicht besucht?“
„Erstens, weil du keine Besucher sehen wolltest, zweitens mochte dein Arzt dir nicht zu viel auf einmal zumuten und drittens war Lisa in Washington. Jetzt ist sie jedenfalls durch nichts mehr aufzuhalten. Du kennst doch Lisa.“
Nein. Nein, ich kenne Lisa kein bisschen.
„In Washington?“
„Ja. Sie ist Flugbegleiterin.“
Dass ich keine Besucher sehen wollte, stimmt. Eine leichte Panik überkam mich, wenn ich mir vorstellte, eine Horde wildfremder Menschen würde um mein Bett stehen und unablässig auf mich einreden oder Fragen stellen. Womöglich wäre der ein oder andere dabei, der zu weinen anfängt. Allein der Gedanke daran trieb mich in den Schrank! Andererseits: Wenn meine Schwester hier liegen würde, hätte ich wahrscheinlich alles unternommen, um sie zu sehen. Ärztlicher Rat hin oder her.
Der Mann zumindest hatte das getan.
Aber weswegen hatte er mir nichts von Lisa erzählt? Wieso habe ich keine Fragen gestellt, sondern nur im Kleiderschrank gehockt und seiner Stimme gelauscht, als wäre ich süchtig danach?
Es muss an den Medikamenten gelegen haben, entscheide ich. Oder an dem Schock, der mich seit dem Unfall nicht aus seiner Umklammerung lässt.
Jetzt kann man hören, wie er sich aufrappelt. „Außerdem ist Lisa ein ungeduldiger Mensch. Also komm bitte heraus, denn bevor wir gehen können, möchte dein Arzt sich verabschieden.“
Ich rühre mich nicht vom Fleck.
„Sina-Mareen?“
Langsam, unendlich langsam, öffnet sich die Schranktür und wie durch ein Wunder quietscht sie diesmal nicht im Mindesten. Sie öffnet sich lautlos einfach stetig weiter.
Ich tue nichts, um das zu verhindern.
Gleich werde ich meinen Ehemann zum ersten Mal sehen.
Da steht er vor mir. Er schaut mich beinahe unnahbar an.
Es dauert nur einen Schlag meines Herzens, bis ich in ihn verliebt bin.
Kapitel 3
Es ist seltsam: Ich weiß, was eine Raumfähre ist, wie Ampelanlagen funktionieren - zumindest ungefähr -, dass wir das Jahr 2008 schreiben, wann und warum wir Weihnachten feiern, und dass wir eine Bundeskanzlerin haben.
Ich weiß, wie man die Fernbedienung des Fernsehers gebraucht und wer Antonio Banderas ist. Und zwar ohne dass es mir jemand hätte erklären müssen.
An persönliche Dinge wie meinen Namen, meine Familie, mein bisheriges Leben, wie es sich anfühlt, tot zu sein, und an meine Ehe kann ich mich dagegen nicht erinnern.
Zumindest Letzteres finde ich bedauerlich, denn Schwester Bianka hatte recht mit ihrer Behauptung: Mein Mann sieht umwerfend aus! Und liebenswert. Deshalb nehme ich all meinen Mut zusammen, komme aus dem Schrank heraus und murmele: „Da bin ich.“
Meine Stimme hört sich piepsig an, dünn und zu hoch, wie die eines sehr jungen Mädchens. Das ärgert mich ein wenig. Ich frage mich, ob ich so bin: leise, zurückhaltend. Kaum in der Lage, einen Satz hervorzubringen.
Mein Mann beobachtet mich aus zusammengekniffenen Augen. Mir fällt ein, dass er mir bei einem seiner Besuche sagte, er heiße Leander Hohwacht.
Ich habe vorher nie das leiseste Verlangen verspürt, seinen Namen – für mich der Name eines Fremden - auszusprechen.
Jetzt ist das anders! Ich möchte hören, wie es klingt, wenn ich ihn laut sage. Vertraut? Oder fremd und irgendwie stockend? Welche Silben betone ich? Nenne ich ihn überhaupt Leander oder womöglich Andy?
Leander murmelt „Hi“ und lächelt ein Lächeln, das mich unverzüglich ebenfalls die Lippen verziehen lässt.
Er ist großartig!
Ich meine, „Hi“, das ist vertraut und neutral zugleich, völlig alltäglich, eindrucksvoll und doch unbestimmt. Es scheint einfach genau das Richtige.
Leider ist es mir nicht eingefallen - wie so vieles andere nicht. Unwillkürlich denke ich an die ersten Tage meines Aufenthaltes hier zurück, als Doktor Romberg, der Neurologe der hiesigen Klinik, mir erklärt hatte, warum das so ist. Und was ich bisher nur aus Romanen und Filmen kannte.
*
„Blackout!“, dröhnte er. Bezwang sich dann und fuhr gemessener fort: „Sie leiden an einer sogenannten retrograden Amnesie. Oder, weniger medizinisch ausgedrückt, an einem kompletten Gedächtnisverlust für alles, was vor Ihrem Badeunfall passiert ist.“ Er meinte, dass dies bei Kopfverletzungen relativ häufig vorkomme.
„Ach?“, machte ich ratlos.
„Ja. Nun, das wird schon wieder, keine Sorge, Frau Hohwacht“, versuchte er mich zu beruhigen.
Ich fiel in sein Nicken ein.
Eine Woche zog sich hin. Endlose Tage voller Untersuchungen, psychologischer Gespräche, Verzweiflung und einsamer Stunden im Kleiderschrank. Ich suchte nach mir, doch ich konnte mich nicht finden.
Eine Verbesserung meines Zustandes stellte sich nicht ein. Das heißt, die durch meine Gehirnerschütterung verursachten Kopfschmerzen verschwanden und die Fäden der Platzwunde, die mit sechs Stichen genäht worden war, konnten gezogen werden. Außerdem verflüchtigte sich die Beule an meinem Hinterkopf, auch die gerissenen Trommelfelle verheilten allmählich.
Aber erinnern, erinnern konnte ich mich nicht.
Doktor Romberg wirkte während dieser Zeit auf mich wie ein schlaksiger Junge, der Arzt spielt. Wie konnte so ein junger Mann bereits ausgebildeter Mediziner sein? Vorgestern leuchtete er mit einer winzigen Taschenlampe, die mit der Helligkeit eines Lasers auf meine Pupillen traf, in meine Augen.
„So weit, so gut“, nuschelte er gedankenvoll. Er löschte das Lämpchen und ließ es in der Brusttasche seines Kittels verschwinden wie ein Taschenspieler. „Ich überlege, ob ich Professor Breitner hinzuziehe. Verstehen Sie, es gibt Patienten, die sich an Teile ihres Lebens vor ihrem Unfall nicht erinnern. An kleine Fragmente, größere und mitunter sogar sehr große. Aber, ehrlich gesagt, mir ist weltweit kein einziger Fall bekannt, bei dem ein Patient sein komplettes persönliches Leben einfach vergessen hat. Davon habe ich noch nie gehört!“ Es klang noch immer gelinde erstaunt an, wenn er darüber sprach. Als hätte er gerade vor einer Minute seine Diagnose erstellt und nicht schon vor Tagen.
Ich blinzelte. Blinde, nebelartige Flecken tanzten vor meinen Augen, sodass ich alles ein bisschen gedämpft sah. Wir waren allein in meinem Zimmer. Es war Nachmittag und vom Korridor her drang das Klappern des Kaffeegeschirrs, das gerade abgeräumt wurde, bis zu uns herein. Ein flüchtiger Geruch von Kaffee und Butterkuchen hing noch in der Luft.
Doktor Romberg seufzte. Er kaute ungeniert an seinem rechten Daumennagel, bevor er weitersprach: „Ich meine, die Erinnerungen sind ja noch da drinnen. Nicht wahr?“ Er tätschelte aufmunternd meine Schädeldecke, als könnte das mein Gehirn positiv beeinflussen. „Lediglich Ihre Fähigkeit, darauf zurückzugreifen, ist temporär beeinträchtigt.“
„Temporär beeinträchtigt“, echote ich und zwinkerte mit den Augen, um den imaginären Dunst davor loszuwerden.
„Es funktioniert einfach nicht!“ Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren. „Und das, obwohl rein physiologisch betrachtet alles in Ordnung ist! Sowohl der Hippocampus als auch der rhinale Kortex. Die rechte Seite des Großhirns, die Sie eigentlich an so zauberhafte Dinge wie Ihre erste Liebesnacht oder den letzten Winterurlaub erinnern sollte, ist einwandfrei.“
Allmählich verflüchtigten sich die Nebelflecke. Ich sah Romberg klarer.
„Die linke im Übrigen gleichfalls“, ereiferte er sich. „Sämtliche Kernspintomografien, alle Untersuchungen und Tests sind o. B.!“
Ich warf ihm einen gereizten Blick zu, worauf er sich beeilte hinzuzufügen: „Ohne Befund.“
„Was wollen Sie mir eigentlich sagen? Dass es keine Verletzungen und keinen plausiblen Grund gibt, warum ich mein Gedächtnis verloren habe?“
„Ja!“ Dann, nach kurzem Zögern: „Nein, ganz und gar nicht. Ich meine lediglich, dass ich keine organische Ursache diagnostizieren kann. Es sind außerdem keine Drogen oder Alkoholexzesse im Spiel. Unter Umständen haben wir es mit einer“, hier sprach er gedehnt, „psychogenen Form der Amnesie zu tun.“
„Was heißt das nun wieder?“
Er musterte mich nachdenklich. „Möglicherweise wollen Sie sich nicht an Ihr Leben erinnern, Frau Hohwacht.“ Zähe Sekunden verstrichen. Bis meine Gedanken zu Leander wanderten. Mir wurde warm. „Das ist blanker Unsinn!“, platzte ich heraus. „Bestimmt sogar! Ich meine, warum sollte ich?“
Wir sahen uns schweigend an. Schließlich zuckte Romberg mit den Schultern. „Auf jeden Fall erscheint mir das Ausmaß eines derartigen Erinnerungsverlustes, nun, in höchstem Maße außergewöhnlich. Ja, unmöglich.“ Er schaute mir ins Gesicht und korrigierte sich rasch. „Quasi unmöglich.“
Es entstand eine kaum merkliche Pause, bevor er fortfuhr. „Okay, geben wir Ihrem Gehirn einfach noch mehr Zeit.“
„Womit Sie das wohl älteste Rezept der Welt ausstellen, wie?“
„Was meinen Sie?“
Ich musste schmunzeln. „Na ja. Eine große Dosis Zeit. Sie heilt ja bekanntlich alle Wunden. Nicht wahr?“
„Nein, nein!“, widersprach er beinahe vehement. „Das vermag sie keineswegs. Aber sie ist und bleibt trotzdem eine recht gute Medizin. Und sie wirkt auf jeden Fall lindernd.“ Er kaute wieder an seinem Daumennagel, bevor er bedächtig verkündete: „Ich werde Sie bald nach Hause entlassen.“
„Was? Nein! Bitte, Sie dürfen mich nicht einfach zu diesen ... diesen völlig fremden Leuten schicken!“
Romberg schnalzte beschwichtigend mit der Zunge. „Nun, eine gewisse Furchtsamkeit ist völlig normal.“ Er errötete bei seinen Worten, als hätte er ein schlechtes Gewissen, mich zu entlassen. „Ebenso könnten Orientierungslosigkeit und Schwindelattacken auftreten. Möglicherweise Übelkeit und Kopfschmerzen. Keine Sorge! Das ist bei Kopfverletzungen keine Seltenheit.“
Als könnte mich das beruhigen! Ich betastete meine Schläfe. Sie war noch immer in einem hellen Lila verfärbt und geschwollen. Der unerwartet heftige Schmerz ließ mich zusammenzucken.
„Aber ich will hier nicht weg“, jammerte ich. „Ich kenne doch niemanden da draußen!“
„Bitte, Frau Hohwacht, nun hören Sie aber auf, sich verrückt zu machen, ja?“ Er nahm sanft meine Hand. „Sie erkennen lediglich niemanden. Das ist ein himmelweiter Unterschied! Umgekehrt kennt und erkennt man Sie sehr wohl. Und man liebt Sie. Da ist Ihr Mann. Sie haben Familie und Freunde. Sehen Sie, hier vermögen wir momentan nichts weiter für Sie zu tun. Sie können genauso gut in Ihrer gewohnten Umgebung auf das Einsetzen Ihres Erinnerungsvermögens hinarbeiten. Gehen Sie zu einer Physiotherapie. Wie Ihr Mann mir sagte, kennt er eine erfahrene Kollegin, die Sie in jeder Hinsicht gut betreuen wird.“
Das kam unerwartet. „Ach.“ Ich brachte nur diese Silbe hervor.
„Ja. Er versicherte mir, dass man dort das richtige Therapieprogramm für Sie erstellen wird. Ich werde Sie an die Kollegin überweisen und lasse die nötigen Unterlagen fertigmachen. Und, Frau Hohwacht?“
„Hm?“
„Gönnen Sie sich viel Ruhe. Nehmen Sie sich Zeit und verlieren Sie nicht die Geduld. Ich bin sicher, Ihr Mann wird Ihnen zur Seite stehen.“
Zuhause! Warum hörte sich die Aussicht, dorthin zu gehen, genauso verlockend für mich an wie ein Bad im Eismeer?
„Ich habe Angst, Doktor Romberg.“
„Ja. Das verstehe ich sehr, sehr gut. Wäre ich an Ihrer Stelle, ginge es mir sicher nicht anders. Dessen ungeachtet müssen Sie Vertrauen haben. Zu mir. Zu Ihrem Mann. Und alles wird gut.“
Er blieb noch eine Weile bei mir sitzen, wohl, weil er versuchte, mich durch seine Anwesenheit zu trösten.
„Ich bin todmüde“, sagte ich schließlich und gähnte. Eine schwere, erdrückende Müdigkeit legte sich um mich.
„Völlig normal“, entgegnete er. „Völlig normal bei Kopfverletzungen.“
Er zog mir die Bettdecke bis unter das Kinn. Danach drapierte er fürsorglich meine Arme darauf. Ich lag da wie eine Schaufensterpuppe: stocksteif, stumm und mit einem Vakuum im Kopf.
„Völlig normal“, wiederholte Doktor Romberg sein Mantra. Leise durchquerte er das Zimmer und ging hinaus.
Sobald er fort war, stand ich auf. Ich nahm meine Decke und ging zu dem weiß lackierten Schrank. Mit einem Aufatmen zog ich die Tür hinter mir zu.
*
So war das gewesen. Und nun scheint der Moment meiner Entlassung gekommen.
Daneben ist es auf jeden Fall befremdlich für mich, dass mein Gehirn sich nun wieder an Vergangenes erinnert: wenn auch nur an die letzten acht Tage. Ganz so, als wäre nichts geschehen. Als hätte mich an unserem Swimmingpool ...
„Sina-Mareen?“
Ich fahre zusammen.
Da ist etwas gewesen! Ein jähes Aufflammen einer Erinnerung, kurz nur, ganz kurz. Ein Bild. Grell und bunt, nicht größer als ein Pixel. Doch jetzt ist es wieder verschwunden!
Leander wartet. Sein Blick tastet mich ab, versenkt sich kurz in meinen und ruht danach eine Spur zu lang auf meinen Lippen. Seine Augen huschen über meine Brüste, den Bauch, weiter, bis zu meinen Füßen und wieder zurück.
„Bereit?“, fragt er und hebt meine gepackte Reisetasche hoch, als hätte sie kein Gewicht. Er wartet keine Antwort ab, sondern geht einfach los. Ich folge ihm zu Doktor Romberg, um mich zu verabschieden. Dabei hasple ich die Antworten auf die Fragen runter, die Leander mir auf Doktor Rombergs Anraten hin in regelmäßigen Abständen stellt, um mein Erinnerungsvermögen anzukurbeln: „Du bist?“
„Sina-Mareen Hohwacht.“
„Wie alt?“
„Ähm, fünfunddreißig Jahre.“
„Beruf?“
„Ich bin Goldschmiedin.“
„Familienstand?“
„Verheiratet.“ Mein Herzklopfen füllt meinen Brustkorb aus. „Mit dir. Leander Hohwacht, Moderator von Leander Late Night. Seit drei Jahren. Wir wohnen in Grahben und haben keine Kinder ... keine Kinder.“
Nachdem mich Doktor Romberg offiziell entlassen und mir noch einmal eingeschärft hat, regelmäßig zur Physiotherapie zu gehen, stehe ich im fahlen Licht einer Neonröhre neben Leander im Aufzug. Und hier fällt mir eine Kleinigkeit an ihm auf: Er hat eine absonderliche Narbe an seinem Kinn. Helle, eng nebeneinanderliegende Dellen. Klein und nicht sehr tief. Sie sehen wie verblassende Kettenglieder aus. Spontan strecke ich eine Hand aus und betaste die Narbe mit den Fingerspitzen.
„Was ist das?“
„Zahnabdrücke.“
„Zahnabdrücke?“
„Ja. Ein Biss von Rick.“
„Wer ist Rick?“
„Mein Cousin.“
„Was?! Warum hat er das getan?“
Leander nimmt meine Hand von seinem Kinn. Er lächelt ein schiefes Lächeln, bei dem sich der rechte Mundwinkel eine Idee mehr hebt als der linke.
„Weil ich beim Darten gewonnen hatte.“ Er lacht. Dabei scheint das Grün seiner Augen eine Spur grüner zu werden. „Das ist schon Jahre her! Wir waren noch Kinder. Na ja, Rick kann recht jähzornig sein. Und, um bei der Wahrheit zu bleiben, ich hatte ihn ziemlich gereizt und meinen Spaß an seiner Wut gehabt. Jedenfalls, ehe ich mich versah, ging er auf mich los und biss zu.“
„Meine Güte!“
„Hm, ja. Er bekam einen Monat Hausarrest, was jammerschade für ihn war, denn wir hatten Sommerferien. Und weil es nicht der erste Vorfall dieser Art war, landete Rick außerdem in der Psychotherapie, wo man ihn wegen seiner aggressiven Verhaltensstörung behandelte. Zumindest das Beißen haben sie ihm dort abgewöhnen können.“
Wir sind in der zweiten Etage, da fällt mir noch etwas ganz anderes ein, etwas, das ich unbedingt wissen will. „Leander?“
„Hm?“
„Wer ist eigentlich Rainer Maria?“
Leander setzt gerade zu einer Antwort an, da signalisiert uns das leise Ding des Aufzugs, dass wir im Foyer angekommen sind. Mit einem Zischlaut gleiten die Türen auseinander und eine Frau mit dunklen Locken stürmt auf mich zu.
Kapitel 4
„Sina-Mareen!“, ruft die Frau, wobei sie mich aus dem Lift zerrt. Sie umarmt mich mit wahrer Inbrunst. Anschließend drückt sie mir ein Sträußchen Maiglöckchen und, wie sinnig, Vergissmeinnicht in die Hand. „Die sind für dich.“ Sie lacht. „Erinnerst du dich? Das sind deine Lieblingsblumen! Dein Hochzeitsstrauß war daraus gebunden.“
Kein Zweifel, das muss Lisa sein. Meine Schwester. Wir ähneln einander kein bisschen, finde ich. Kommt sie nach unserem Vater? Wer von uns sieht welchem Elternteil ähnlich? Verstehen wir uns gut? Oder geraten wir rasch aneinander?
Die Frau schaut mich ohne Unterlass an. Erwartungsvoll. Bittend. Wie wenn ich bei dem Anblick der Blumen die Hände zusammenschlagen und laut jubelnd ausrufen müsste: „Aber natürlich! Maiglöckchen und Vergissmeinnicht. Und jetzt erinnere ich mich auch wieder an alles Übrige aus meinem Leben!“
Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen. Mitgefühl spiegelt sich darin, Herzlichkeit und geschwisterliche Zuneigung. Für mich hingegen ist sie nichts weiter als eine liebenswürdige, mir vollständig unbekannte Frau mit dunklen Locken. Ähnlich wie eine Zufallsbekanntschaft.
Unvermittelt breche ich in Tränen aus, worüber ich selbst zutiefst bestürzt bin.
„Ach, du!“ Meine Schwester legt behutsam einen Arm um mich. Ich spüre, dass sie mich gern hat. „Das wird schon wieder!“ Sie führt mich hinaus auf den Parkplatz zu einem silbernen Audi. Gleichzeitig flüstert sie mir die ganze Zeit Trostworte zu, die mich in dem Leben vor diesem Leben getröstet haben mögen. Jetzt tun sie es nicht. Mir flattern die Nerven. Ich will zurück in meinen Schrank. Aber das spreche ich natürlich nicht aus.
Leander geht voraus. Er öffnet die Autotüren, stellt meine Tasche in den Kofferraum und setzt sich hinter das Steuer des von der Sonne aufgeheizten Wagens.
Lisa und ich lassen uns im Fond nieder.
„Dann wollen wir mal.“ Leander zwinkert mir mit einem Auge aufmunternd im Rückspiegel zu. Ich finde heraus, dass ich diese Fertigkeit nicht beherrsche. Oder habe ich bloß vergessen, wie das geht?
Bald verbreitet die Klimaanlage eine angenehme Kühle. Wir lassen den Stadtverkehr rasch hinter uns. Büsche und Felder fliegen vorüber, bevor wir für etliche Kilometer einer baumgesäumten Landstraße folgen. Die Eintönigkeit der Landschaft lässt mich ruhiger werden.
Während der Fahrt sitzen meine Schwester und ich nebeneinander auf dem Rücksitz. Ich sehe, dass sie einige Male zum Sprechen ansetzt, es sich dann aber offenbar anders überlegt. Womöglich ahnt sie, dass ich mich nicht unterhalten möchte. Oder sie ist verunsichert und sich nicht im Klaren, worüber sie mit mir reden soll, jetzt, wo sie erstmalig persönlich mit dem ganzen Ausmaß meiner Amnesie konfrontiert wird.
Ich habe keine Ahnung, ob ich meine Schwester, nein, ob ich Lisa mag. Doch ich kann mir ehrlich gesagt gar nichts anderes vorstellen. Jedenfalls ist sie mir sehr sympathisch.
Aus diesem Grund nehme ich, wenn auch zaghaft, ihre Hand, die neben meiner liegt, und drücke sie. Nicht weil es mir Trost spenden soll, sondern ihr.
Mein und Leanders Zuhause ist ein Reetdachhaus inmitten eines eindrucksvollen Gartens. Um diese Jahreszeit blühen die Rosen und die Rhododendronbüsche in sämtlichen Farben. Vor der Tür hockt eine kohlschwarze Katze. Als sie uns sieht, kommt sie uns miauend entgegen und windet sich schnurrend um meine Beine.
Bin ich ein Tierfreund? Mag ich Katzen?
Leander nimmt die Katze hoch. Ein einzelnes weißes Barthaar sticht zwischen den schwarzen hervor. Das Tier reibt sein Köpfchen hingebungsvoll an Leanders Kinn. „Das ist Rainer Maria“, sagt er.
Ich streichele das weiche Fell. Rainer Maria schnurrt noch lauter, was mich zum Lachen bringt. „Gehört er uns?“
„Ja, dir. Du hast ihn nach Rilke, deinem Lieblingsdichter, genannt. Und zwar wegen eines seiner Gedichte: Schwarze Katze. Außerdem wolltest du unbedingt, dass er einen Doppelnamen bekommt, weil ich dich gerne wegen deines Namensticks aufziehe.“
„Namenstick?“
„Ja. Du kannst es nicht ausstehen, wenn Namen verstümmelt werden – wie du es nennst. Wenn dich jemand mit Sina statt Sina-Mareen anspricht, könntest du an die Decke gehen.“
Rainer Maria zappelt. Lachend setzt Leander ihn auf den Boden, von wo aus der Kater mit hoch aufgerichtetem Schwanz gemächlich in den Büschen verschwindet.
Im Haus ist es schattig und kühl. Die Einrichtung, Möbel aus hellen Hölzern im mediterranen Stil, ist modern und freundlich. An den Wänden hängen Kunstdrucke und Gemälde, die Landschaften oder Stillleben darstellen. Üppige Pflanzen in Terracottatöpfen sind im Haus verteilt, ein Ambiente wie in der Toskana.
Das also ist mein Geschmack.
Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, als wäre ich ein Gast, der sich alles anschaut. Leander und Lisa folgen mir. Sie sehen aus, als ob sie erwarteten, dass ich mich bei meinem Rundgang jeden Augenblick in die ihnen vertraute Sina-Mareen verwandele, das Haus erkenne, meine Schwester, meinen Mann. Einfach alles.
Sie wirken auf mich wie erwartungsvolle Kinder. Wie Tommy und Annika in der Villa Kunterbunt. Über diesen Vergleich muss ich lächeln und ich sehe, dass es ihnen gefällt.
Von der Diele führt eine geschwungene Treppe in das obere Geschoss. „Da oben sind die Schlafzimmer, Bad, Gästezimmer, mein Arbeitsraum und dein Atelier“, zählt Leander auf, als hätte ich ihn darum gebeten. Er fragt mich, ob ich hinauf möchte.
„Später.“
„Wie du willst.“ Er nimmt meine Tasche und bringt sie allein nach oben.
Im Wohnzimmer gibt es einen schlichten Marmorkamin. Auf dem Sims stehen mehrere Fotos. Lisa nimmt eines herunter. Darauf sind zwei grinsende, braungebrannte Mädchen in Schwimmhöschen. Sie haben Zahnlücken, Pferdeschwänze und bauen an einem Strand eine Sandburg.
„Das sind wir in Rimini“, erklärt sie. „Du warst sieben, ich fünf Jahre alt, und obwohl du die Ältere bist, warst du zu der Zeit schon kleiner als ich.“
Sie zeigt mir die anderen Bilder. Unsere Eltern, Cornelia und Manfred, die geschieden sind. Ich ähnele eindeutig unserer Mutter, die seit ihrer Scheidung als Sekretärin bei einer Hausverwaltung arbeitet und ungefähr 350 Kilometer von hier entfernt wohnt. Unser Vater ist Polizist. Er hat sich seit Jahren nicht sehen lassen.
„Noch nicht einmal zu deiner Hochzeit hat er sich gemeldet.“
„Und wann war das?“
„Vor drei Jahren. Im Mai.“
Ach ja! Innerlich verdrehe ich die Augen. Das gehört zu den Dingen, die sie mir schon gesagt haben. Wie meinen Namen, Adresse, Beruf und meinen Geburtstag. Der fällt auf den zwanzigsten September, womit ich im Sternzeichen der Jungfrau geboren wurde und nun auch mein Horoskop lesen kann.
Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von Leander sticht hervor. Er lächelt nicht. Sein Blick unter den halbgeschlossenen Lidern geht in die Ferne. Er sieht nachdenklich aus, sogar ein bisschen schwermütig, irgendwie bittersüß.
Lisa nimmt das nächste Foto: Götz und Eva-Maria Hohwacht, Leanders Eltern. Meine Schwiegereltern. „Die sind an der Oper. Als Bariton und Sopran, glaube ich, und sogar ziemlich bekannt. Ihr seid euch nicht ganz grün.“
Lehne ich sie ab? Oder ist es umgekehrt? Falls ja, weshalb? Ehe ich nachfassen kann, fährt Lisa fort mit ihren Erläuterungen. Der Mann, der lachend neben den Hohwachts steht und den ich zuerst für Leander halte, heißt Hendrik. „Er ist Leanders Cousin.“
Rick, der Beißer, denke ich.
„Rick ist ebenfalls an der Oper. Allerdings als Bühnenbildner. Sein und Leanders Vater sind eineiige Zwillinge. Vielleicht bekommst du ja eines Tages ebenfalls welche!“ Lisa stellt das Bild wieder an seinen Platz.
Es folgt ein Schnappschuss von Ute und Tom Herzsprung-Herder. Was für ein Zungenbrechername! Ute, erfahre ich, ist meine beste Freundin. Sie hat ihren Tom erst vor rund einem Monat geheiratet. Und zwar heimlich während eines Urlaubs in Dänemark. Was ich überaus romantisch finde.
„Und das“, Lisa zeigt auf ein älteres Paar, „sind Isolde und Werner Brüning. Leanders Ersatzeltern sozusagen. Sie haben für seine Eltern gearbeitet, denn die waren ständig unterwegs. Hm, sind sie eigentlich heute noch! Die Brünings haben sich jedenfalls seinerzeit um das Haus gekümmert. Und um Leander natürlich!“
Wie auf ein Stichwort erscheint Leander.
Er nickt mir nicht unfreundlich zu, schiebt die schweren Glastüren zur Seite und geht hinaus auf die Terrasse. Hier lässt er sich mit einem Aufseufzen in einen der Rattansessel fallen.
Als ich mich in den Sessel daneben setze, stolpert mein Blick über den Pool. Das Wasser glitzert in der Sonne. Selten hat mich ein Anblick derart beunruhigt. Ich bin richtiggehend froh, dass Leander vorschlägt, etwas Kaltes zu trinken zu holen.
„Ich würde das gerne machen“, sage ich. Rasch stehe ich auf. „Um mich so schnell wie möglich wieder zurechtzufinden. Hilfst du mir, Lisa?“
„Klar.“ Sie geht voran und ich folge ihr in die Küche. Ohne zu überlegen, holt Lisa ein Tablett hervor. Sie stellt es auf den Tisch, öffnet einen Schrank, nimmt einen Krug und Gläser heraus.
„Du kennst dich gut aus.“
Sie nickt. „Sicher. Ich bin oft hier, wenn ich freihabe. Zusammen mit Klaus.“ Sie kichert zufrieden. „Deinem zukünftigen Schwager. Vielleicht! Holst du den Eistee aus dem Kühlschrank?“
Lisa erzählt, dass Klaus Pilot ist. Er arbeitet für dieselbe Fluglinie wie sie.
Ich nehme den Tee aus dem Kühlschrank, Eiswürfel aus dem Gefrierfach und fülle beides in den Krug, den ich anschließend zu den Gläsern auf das Tablett stelle.
„Was tun wir, wenn du mich besuchst?“
„Na, was man halt so macht. Wir unterhalten uns, spielen Karten und gehen spazieren oder leihen Filme aus. Bei schönem Wetter schwimmen wir. Wir kochen und grillen oft. Du und Klaus, ihr seid fleischfressende Pflanzen.“ Sie lacht. „Außerdem fahren wir häufig in die Stadt, weil du so gerne Buchläden abklapperst. Unsere Stadtbummel haben dir gefehlt, als du hergezogen bist. Anfangs warst du nicht sehr glücklich über dein“, sie setzt Anführungszeichen in die Luft, „Eremitendasein mitten in der Pampa.“
In der Pampa. Das habe ich gesagt?
Lisa erzählt mir, dass ich in den ersten Monaten, die ich hier wohnte, zwischen der Stadt und dem Dorf hin und her gependelt bin. Ich habe zunächst nicht ernsthaft daran gedacht, völlig aufs Land zu ziehen. Ödes Kaff habe ich die Handvoll Häuser genannt.
Doch dann kam alles ganz anders. Je länger ich hier lebte, umso wohler fühlte ich mich. Und desto mehr kristallisierten sich die Vorteile heraus: Mit dem Auto brauchte man nicht länger als eine gute Dreiviertelstunde bis in die Stadt, die nächsten Nachbarn gab es nur knapp in Sichtnähe und es war ruhig und friedlich zwischen den Feldern, Wiesen und dem angrenzenden Wald. Ein Umstand, der mir bei meiner Arbeit, immerhin ein Kunsthandwerk, mehr als gelegen kam, wie ich offenbar feststellte. Außerdem wollte ich mir endlich einen alten Traum erfüllen und den Sprung in die Selbstständigkeit wagen.
Das Haus war geräumig. Es bot reichlich Platz für ein eigenes Atelier, das mich zudem keinen Cent kostete, und allmählich wurde mir deutlich, dass der Nutzen die Nachteile überwog.
Zuerst nahm ich nur Auftragsarbeiten von Juwelieren an. Später dann auch von Privatleuten. Nebenher entwarf ich eine eigene Kollektion, die sich, für mich überraschend, sehr schnell als Erfolg entpuppte.
Die Folge war ein kleiner Schmuckvertrieb und gut gefüllte Auftragsbücher, denn die Qualität und der Charme meiner Arbeiten sprachen sich herum.
Lisa, die all dies hervorsprudelt, nimmt das Tablett und geht zur Tür. „Mittlerweile findest du es mehr als in Ordnung, hier zu leben. Ich würde sagen, du liebst es. Du hast dir viel Zeit genommen, alles neu herzurichten, bevor du zu Leander gezogen bist. Dabei gingst du uns mit deiner Pingeligkeit ziemlich auf die Nerven.“
„Aber jetzt gefällt es mir, sagst du?“, hake ich nach.
„Mhm“, macht Lisa zustimmend. Sie geht in Richtung Garten. „Sehr sogar! Obwohl ...“
„Ja?“
Sie zögert mit der Antwort.
„Obwohl was, Lisa?
„Na ja. In den ersten Wochen hattest du ein höchst eigenartiges Gefühl, im Haus seiner verstorbenen Frau zu leben.“
„Wessen verstorbener Frau?“, frage ich, obwohl die Antwort auf der Hand liegt.
„Seiner natürlich“, antwortet Lisa. „Leanders Frau.“
Kapitel 5
Lisas letzter Satz hallt wie das Echo eines Glockenschlages in mir nach. Was soll ich auf diese Eröffnung erwidern, wie darauf reagieren? Alles erscheint mir schwierig. Mir geht derart viel auf einmal durch den Kopf, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann.
Doch Lisa scheint auch nichts zu erwarten. Sie ist einfach weitergegangen. Raus zu Leander, als wäre nichts gewesen, als hätte sie nur eine Bemerkung über das Wetter gemacht.
Von draußen höre ich, dass die beiden sich unterhalten, allerdings kann ich kein Wort verstehen. Ich will Lisa unbedingt einiges über diese Frau fragen. Über Leanders tote Frau! Aber nicht, während er dabei ist.
Ich schleiche nach oben. Dort angekommen, erkenne ich reinweg nichts wieder. Obwohl ich alles selbst eingerichtet haben muss.
Der flauschige, pfirsichfarbene Teppich im Gang riecht neu. Er scheint erst kürzlich verlegt worden zu sein. Eine von fünf Türen steht auf. Ich gehe darauf zu und sehe an dem schmiedeeisernen Bett, dass es unser Schlafzimmer sein muss.
Meine Tasche steht unausgepackt vor einem beachtlichen Schwebetürenschrank. Er ist wunderbar! Groß, opalfarben und matt glänzend, als wäre er aus Perlmutt gefertigt. Ein Elfenbeinturm. Beinahe geräuschlos gleiten die Türen zur Seite, als ich ihn öffne.
Die rechte Seite ist vollgestopft mit Frauengarderobe. Im Mittelteil hängen nur sehr wenige Sachen von Leander. Zwei, drei Jeans, einige Hemden. Scheinbar legt er keinen Wert auf seine Kleidung. Außerdem finde ich noch Bettwäsche und mehrere Wolldecken.
Links ist alles leer.
Ich nehme eine der Decken, lege sie in den leeren Schrank, setze mich hinein und schließe die Tür.
Beinahe sofort werde ich ruhiger.
Ich ziehe meine Beine an, umschlinge sie mit den Armen, lege meine Stirn auf die Knie.
Und denke nichts.
Gar nichts.
Zuerst sucht niemand nach mir. Ich bin froh, dass sie mich in Ruhe lassen. Doch nach einiger Zeit ruft Leander nervös herauf, wo ich bleibe. Daraufhin schiebe ich widerstrebend die Tür zur Seite und antworte, ich wäre gern eine Weile für mich – was offenbar stillschweigend akzeptiert wird.
Irgendwann macht sich Lisa, die ihren Wagen hier abgestellt hatte, bevor sie mit Leander ins Krankenhaus gefahren ist, auf den Heimweg. „Mach‘s gut, Sina-Mareen!“, schallt es zu mir herauf. „Ich melde mich, sobald ich aus den Staaten zurück bin!“
Munterer, als ich mich fühle, rufe ich zurück: „Mach‘s auch gut!“ Kurz darauf fährt sie davon.
Plötzlich steht Leander im Zimmer.
Durch den Türspalt sehe ich, dass sein Blick sofort auf den Schrank fällt. Er kommt herüber und lässt sich auf dem Teppich nieder.
„Sina-Mareen?“
Der Tonfall, in dem er diesen Namen ausspricht, fühlt sich an wie eine Zärtlichkeit. Wie eine Hand, die in einem Samthandschuh steckt und damit träge über meine nackte Haut fährt.
„Bist du da drinnen?“
„Mhm.“
„Ist alles in Ordnung?“
Ich muss lachen; bestimmt eine hysterische Reaktion, die in mir aufwallt. Ich bin eine von den Toten auferstandene Fremde unter Fremden in der Fremde. Ich sitze in einem Kleiderschrank in dem ehemaligen Zuhause einer toten Frau und überlege, wie ich weiterleben soll.
Trotzdem lüge ich, versichere Leander, dass es mir gut geht. Ich möchte ihn bitten, mir etwas zu erzählen. Einfach die Augen schließen, mich von seiner Stimme berühren lassen und gelassener werden. Doch das geht nicht! Nicht, bevor ich Gewissheit habe.
„Ich bin deine zweite Frau?“
„Du erinnerst dich also?“
„Nein. Lisa hat es mir gesagt.“
„Ja. Es stimmt.“ Er flucht leise, bevor er weiterspricht. „Jennifer, meine erste Frau, starb zwei Jahre bevor ich dich kennenlernte.“
„War sie krank?“
„Nein.“
„Ein Unglück?“
„Man könnte es so ne...“
„Könnte?“, falle ich ihm ins Wort. „War es ein Unglück oder nicht?“
Stille.
„Leander?“
Ein tiefes Durchatmen seinerseits. Dann: „Sie ist ertrunken.“
Das folgende Schweigen ist allumfassend und angespannt. Ich komme mir vor, als würde Kühlflüssigkeit durch meine Venen geleitet. Trotz der Wärme hier drinnen friere ich.
„Wir werden noch über Jennifer reden“, unterbricht er meine Gedanken. „Aber nicht heute. Nicht jetzt, sondern erst, wenn es dir besser geht und du alles verstehst.“
Er sagt es so bestimmt, dass mir klar ist, es hätte keinen Zweck, ihn überreden zu wollen. Und dann sickern seine Worte zu mir herein, weich und ölig wie zerlassene Butter: „Ich mache mir Sorgen um dich.“
Es ist dieselbe Stimme, die im Krankenhaus vor dem Kleiderschrank gesungen hat. Die Erinnerung an seinen Gesang erfüllt mich wie süße, sahnige Creme. Zärtliche Gefühle hüllen meine Verwirrung so lange in rosa Tüll, bis sie nicht mehr zu erkennen ist. Unter meiner Hand gleitet die Schwebetür vollends zur Seite.
Verlassen liegt das Schlafzimmer vor mir.
Kapitel 6
In der folgenden Zeit sehe ich Leander kaum, denn er ist eigentlich ständig unterwegs. Ist das immer so?, frage ich mich. Oder weicht er mir aus? Aber aus irgendeinem Grund stelle ich ihm diese Fragen nicht.
Nachts muss er natürlich ins Studio. Als Moderator seiner Telefon-Talkshow, die gleichzeitig im Radio und im Fernsehen übertragen wird: Leander Late Night.
Die Sendewoche beginnt in der Nacht von Montag auf Dienstag und endet in der Nacht von Freitag auf Samstag. Seine Sendung läuft von 1:00 bis 3:00 Uhr. Meist kommt er gegen 4.30 Uhr aus dem Studio, fährt nach Hause, isst und schläft dann bis in den späten Mittag hinein.
Während der Sendezeit werden die Telefonate live übertragen. Es wird schlichtweg über alles gesprochen: Beziehungsprobleme, Sex, Krankheit, Religion, Tod oder auch ganz aktuelle Sachen. Wie der Fall Fritzl zum Beispiel, die Diätenerhöhungen oder die Fußballeuropameisterschaft, die in Österreich und der Schweiz ausgetragen wird. Viele dieser Geschichten hat er mir im Krankenhaus erzählt. Weshalb hat er stattdessen nichts von uns, unserem Leben, unserem Zuhause und all dem hier gesagt?
Einmal, als er morgens nach Sendeschluss nach Hause kommt, sich vor den Schwebetürenschrank setzt, um mit mir die erste Tasse Kaffee zu trinken, frage ich ihn danach.
„Doktor Romberg hält es für besser, dir möglichst wenig zu erzählen. Du sollst dich von allein erinnern, um nicht andere Erinnerungen für deine zu halten oder dir womöglich was zurechtzubasteln.“
Er reicht mir eine Tasse durch den Spalt. Der Kaffee ist stark und schwarz. So muss ich ihn vor dem Unfall wohl gemocht haben. Aber jetzt sehne ich mich nach einem kräftigen Schuss sahniger Kondensmilch darin, denn so habe ich ihn in der Klinik getrunken.
Ich habe mich im Verdacht, dass ich sehr auf meine Figur bedacht war und jede unnötige Kalorie, jedes Quäntchen Fett gemieden habe. Ich wirke regelrecht ausgemergelt auf mich. Für meine Vermutung spricht außerdem der sehr gut ausgestattete Fitnessraum im Keller.
„Romberg hat mir gegenüber nicht erwähnt, dass er es für besser hält, wenn ich mich ohne Hilfe erinnere“, wende ich ein.
„Und?“
„Wenn mir möglichst wenig mitgeteilt werden soll, warum hat Lisa mir dann erklärt, wer auf den Fotos ist?“
Er pustet auf seinen Kaffee, trinkt vorsichtig und linst dann zu mir herein.
„Sie hat doch nichts von Bedeutung gesagt. Nur, was man auch einem Fremden oder Besucher erzählen würde.“
Ich verziehe die Lippen, trinke und schlucke das schwarze Gebräu mit Verachtung herunter. „Das stimmt nicht.“
„Was meinst du?“
„Sie hat mir erzählt, dass sie mich oft hier besucht. Mit diesem Klaus. Dass ich das Haus neu eingerichtet habe, bevor ich einzog, gerne allein hier draußen bin und diese Sache ... diese schlimme Sache ...“ Ich stottere herum, komme nicht weiter.
„Ja?“ Der Samt seiner Stimme.
„Mit Jennifer.“
Er atmet hörbar aus und ich errate, dass Jennifer kein Thema zwischen uns sein wird.
„Lisa plappert zu viel, ohne groß nachzudenken. Das ist alles.“
„Du meinst nach dem Motto, vor Inbetriebnahme des Mundwerks ist das Gehirn einzuschalten?“
„Ja.“ Ein Lachen hat sich zwischen seine Worte gestohlen. „Das ist übrigens genau das, was du häufig über sie gesagt hast.“
„Glaubst du, es ist eine Erinnerung?“, will ich aufgeregt wissen.
Leander rappelt sich auf und geht zur Tür. „Fühlt es sich so an?“
Er wartet keine Erwiderung meinerseits ab. Ich höre, wie er die Treppen hinunter in die Küche geht, um zu frühstücken.
Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, sein Frühstück vorzubereiten. Das habe ich vorher nie getan, behauptet Leander, weil ich selbst kaum je frühstückte.
Während das Klappern von Geschirr und Rainer Marias bettelndes Miauen heraufdringt, überlege ich, ob das eben tatsächlich eine Erinnerung war.
Aber ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht!
Die Tage vergehen.
Morgens stehe ich auf, dusche, frühstücke und bin froh, dass ich noch nicht arbeiten muss, weil ich es ganz einfach noch nicht kann.
Ich habe das Atelier „wegen Krankheit auf unbestimmte Zeit geschlossen“. So steht es auf dem Firmenschild in unserer Auffahrt, ebenso auf meiner Homepage, und so lautet die Ansage auf dem Anrufbeantworter.
Es ist einer der wenigen Vorteile, die ein Freiberufler hat. Durch die Arbeitsunfähigkeitsversicherung wird mich die erzwungene Auszeit finanziell zumindest nicht ruinieren. Aus irgendeinem Grunde möchte ich Leander nicht auf der Tasche liegen. Was seltsam ist, wie ich finde, da wir doch miteinander verheiratet sind. In guten wie in schlechten Tagen. Trotzdem empfinde ich so.
Es dauert nicht lange, bis ich mich hier leidlich gut auskenne. Kann es sein, dass, wenn mein Verstand sich auch nicht entsinnt, sich mein Körper reflexartig an die ihm vertraute Umgebung erinnert? Ähnlich wie bei einem Spitzensportler? Einem Diskuswerfer vielleicht, der dieselben komplizierten Bewegungsabläufe immer und immer wieder trainiert, sie verinnerlicht, und seine Gliedmaßen rufen dieses Wissen später im Wettkampf einfach ab.
Hat ein Körper mit seinen Muskeln, Sehnen und Nerven ein eigenes Gedächtnis? Oder woher weiß meine Hand, dass rechts von der Kellertür ein Lichtschalter ist, und betätigt ihn, ohne dass mein Verstand es ihr befohlen hat?
Vom Dachboden über den Keller bis in den Garten ist mir bald alles wieder geläufig. In der Garage steht eine chromblitzende, alte Harley-Davidson. Sie sieht aus wie das Motorrad auf dem Filmplakat, das dort hängt: The Wild One, so heißt der Streifen mit Marlon Brando. Haben Leander und ich uns diesen Film zusammen angesehen? Ist es sein Lieblingsfilm – oder meiner? Ich habe keine Ahnung.
Nichts, wirklich gar nichts, ist mir vertraut. Oder besser gesagt, ich habe überhaupt keinen Bezug zu den Dingen um mich herum. Sie erzählen mir keine Geschichten, verursachen keine Empfindungen. Ich verbinde nichts mit ihnen. Sie könnten genauso gut jemand anderem gehören. Alles in mir bleibt leer, löst keine Emotionen oder Bilder aus. Weder muss ich lächeln noch weinen.
Stattdessen begleitet mich ständig das Gefühl, in den Sachen einer Fremden herumzuschnüffeln und nur zu Besuch hier zu sein. Oder in einer privat vermieteten Ferienwohnung zu leben.
Bei persönlichen Besitztümern ist es am schlimmsten. Es lässt mich beinahe verzweifeln! Warum habe ich das herzförmige Blatt einer Linde sorgfältig gepresst, in einen kostbaren Glasrahmen getan, um es dann ganz unten in meiner Nachttischschublade unter Taschenbüchern, Ohropax, Kopfschmerztabletten und einem Päckchen Tempos zu vergraben? Das macht doch gar keinen Sinn!
Und da ist der Schreibtisch in meinem Atelier. Er ist abgeschlossen. Ich habe keine Ahnung, wo der Schlüssel ist, und bin beunruhigt, dass ich ihn überhaupt verschlossen habe. Warum? Schnüffelt Leander in meinen Sachen herum? Misstraue ich ihm oder ist es bloß eine Marotte?
Mein Handy liegt auf dem Schreibtisch. Den PIN-Code weiß ich nicht. Aber Leander behauptet, so etwas notiere ich in meinem Telefonregister, weil ich mir Zahlen grundsätzlich schlecht merken kann. Darum blättere ich es durch, schaue unter P wie PIN nach, finde aber lediglich die Rufnummer einer Pizzeria, die Pino`s heißt.
Unter H, wie Handy, werde ich fündig; der Code lautet 7353. Darüber muss ich lachen. Gibt man die Ziffern in einen Taschenrechner ein und stellt sie auf den Kopf, ergeben sie das Wort Esel. Keine Ahnung, woher mir das zufliegt, aber es erscheint mir auf komische Weise passend. Habe ich den Code so beantragt, weil ich mir Zahlen schlecht merken kann?
Außerdem steht da noch eine Handynummer. Ohne Namen, einfach nur eine Zahlenfolge, quer über das Papier geschrieben: 0177/669 441 082. Und dahinter, sorgfältig gezeichnet und ausgemalt: ♥
Ich finde das ausgesprochen albern. Glaube ich. Doch tief in mir drinnen versetzt es mir einen nadelfeinen Stich.
Mit der Kuppe meines Zeigefingers gleite ich über die Nummer und das Herz und frage mich: Was hat das zu bedeuten?