Das Trist
© Sabine Ludwigs

Eines Tages geschah in der kleinen Stadt etwas Seltsames. Alle Farben verschwanden. Einfach so!
Zuerst lief das Knallrot an den Feuerwehrautos herunter, dann das Gelb vom Briefkasten an der Ecke. Die Farben flossen von allen Dingen, Häusern, Bildern und Pflanzen. Sie tropften aus Tapeten, Gardinen oder Waschlappen. Vom Himmel regnete es blau und sogar die Haare, Augen und Körper der Menschen und Tiere verloren ihre Farbe.
Wie buntes Wasser sickerten die Farben unter den Türritzen hindurch auf die Straße. Sie vermischten sich im Rinnstein miteinander, bis nur noch eine Flüssigkeit übrig blieb, die wie Schmutzwasser aussah.
Die Leute rannten dem grauen Wasser hinterher, alle miteinander, sogar der König, die Königin, der Bürgermeister und die Polizisten. Über ihren Köpfen sauste Tilly Feenstaub durch die Luft. Sie jagte den Regenbogenfarben ihres Kleides nach.
Die Menschen riefen: „Was ist hier los? Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen!“ Ungläubig schauten sie zu, wie das schmutzige Wasser mit lautem Schlürfen im Gully auf dem Marktplatz verschwand, bis auf den letzten Tropfen. Danach war es sehr still. Nur das Sirren von Tilly Feenstaubs Flügeln konnte man hören.
Die Leute starrten einander erschrocken an. Alles und jeder schaute aus wie aus Nebel gemacht. Sogar die Sonne. Unheimlich war das, so unheimlich, dass Tilly Feenstaub an Gespenster denken musste und sich ein bisschen fürchtete.
„Zum Donnerwetter!“, brüllte der Bürgermeister. „Ich verlange eine Erklärung!“
Im gleichen Augenblick hörte man aus dem Gully ein lautes Rülpsen.
„Was war das?“, fragte Herr August. Er war der größte und stärkste Mann in der kleinen Stadt, doch jetzt hörte sich seine Stimme ängstlich an.
„Etwas muss unten im Kanalschacht sein“, sagte der zerstreute Wissenschaftler, und die Lehrerin rief: „Jemand sollte nachsehen.“
Sofort wichen alle ein gehöriges Stück vom Gullydeckel zurück. Niemand wollte hineinschauen.
„Zum Donnerwetter!“, schrie der Bürgermeister wieder. „Dann werde ich es eben tun!“ Er ging zum Gully, legte sich auf den Bauch und spähte durch die Ritzen in die Tiefe.
Nichts sah er. Gar nichts.
„Zu dunkel!“, erklärte er. „In unserer Stadt gibt es nur eine, die in der Dunkelheit ebenso gut sehen kann wie im Hellen. Unsere liebe Fee.“
Die Leute murmelten zustimmend.
„Zum Donnerwetter!“, rief der Bürgermeister zum dritten Mal. „Komm her, Tilly! Schau nach, ob du irgendwas erkennen kannst.“
Tilly legte sich neben den Bürgermeister und dann sah sie es, ganz tief unten im Kanalschacht. Den einzigen Farbklecks, den es in der ganzen Stadt noch gab. Als Tilly erkannte, was da unten hockte, entfuhr ihr ein Schrei. Hätte die Fee noch eine rosige Haut gehabt, wäre sie vor Schreck ganz blass geworden, denn da unten kauerte eine große, fette, grüne Kröte. Gelbe Warzen bedeckten ihre Haut und auf dem Rücken hatte sie Fledermausflügel. „Es ist furchtbar!“, flüsterte die Fee. „Ganz schrecklich!“
„Zum Donnerwetter, Tilly, was ist los?“
„Ein ... ein Trist“, stotterte Tilly. „Da unten sitzt ein Trist. Erst verschlingt es die Farben, dann die Lebensfreude aller Geschöpfe und zuletzt unsere Träume.“
Die Menschen wichen noch ein Stück weiter vom Gully zurück. In der gleichen Sekunde hörte man das Trist abermals rülpsen.
„Bist du ganz sicher?“, fragte der zerstreute Wissenschaftler.
Die Fee nickte.
Der Wissenschaftler kniete sich neben Tilly Feenstaub, aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts sehen.
„Hm, ein Trist kann man auf drei Arten besiegen“, sagte er, stand auf und klopfte sich den farblosen Dreck von seinem farblosen Kittel. „Mit Zauberei zum Beispiel. Da du, liebe Tilly, eine Fee bist, sollte das wohl kein Problem sein.“
Die Leute atmeten auf. Der König befahl, dass Tilly das Trist dahin zaubern sollte, wo der Pfeffer wächst, wo immer das auch sein mochte. Danach sollte sie, bitte sehr, wieder alles schön bunt machen.
Aber Tilly schüttelte den Kopf. „Ich kann ohne mein Regebogenkleid nicht zaubern, denn es wurde aus einem echten Regenbogen von den Feen gewebt. Die Farben verleihen mir meine Zauberkräfte. Ohne Regenbogenkleid keine Magie! Seht doch selbst.“ Tilly fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, und machte Zauberzeichen. Doch der gewohnte Donnerhall blieb aus, es blitzte auch nicht und keine blasslila Sternchen glühten auf. Es zischte nur ein bisschen, so ähnlich, wie wenn eine Wunderkerze verlischt.
„Nun, nun!“, meinte der zerstreute Wissenschaftler. „Das macht nichts. Nehmen wir eben die zweite Möglichkeit. Ein waschechter Prinz muss das Trist vertreiben.“
Also schob der König seinen Sohn nach vorn, einen Jungen mit Namen Leonhard, was „der Löwenstarke“ bedeutet. Ein waschechter Prinzenname, so viel stand fest! Man drückte dem Königssohn einen Knüppel in die Hand und jubelte ihm zu.
„Hoch!“, riefen die Leute. „Prinz Leonhard lebe hoch.“
Doch der Prinz hatte keinerlei Lust irgendjemanden zu bedrohen oder gar mit einem Stock zu verprügeln; auch nicht ein Trist! Ihm machte es mehr Spaß, in seinen Computerspielen ein Held zu sein, denn dabei konnte sich niemand wehtun. Und was, wenn das Trist ihn beißen wollte, sobald es den Stock sah?
Vorsichtig schlich der Prinz zum Gully. Er schaute hinein - in diesem Moment hüpfte das Trist aus dem Schatten ins Licht, so dass Leonhard es deutlich sehen konnte. Als das Trist sein Maul aufriss und sehr lange, sehr spitze Zähne zeigte, ganz wie eine Riesenschlange – ließ Prinz Leonhard vor Schreck den Knüppel fallen, gab Fersengeld und rannte zum Schloss zurück.
Die Leute schauten den König unzufrieden an. Aber der zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: „Da kann man nichts machen.“
„Zum Donnerwetter!“, entfuhr es dem Bürgermeister, der wollte, dass seine Nelke im Knopfloch endlich wieder rosa leuchtete und nicht wie ein Fetzen Regenwolke aussah. Außerdem fand er, dass es ja wohl nicht so schwer sein konnte, eine fette, große Kröte mit Fledermausflügeln, grüner Haut und gelben Warzen zu besiegen. Auch, wenn diese Kröte Schlangenzähne hatte. „Noch einen waschechten Prinzen haben wir nicht!“, schimpfte er und fragte den verwirrten Wissenschaftler: „Was sollen wir jetzt tun? Was ist die dritte Möglichkeit?“
Der Wissenschaftler fuhr sich verlegen durch sein wirr abstehendes Haar. „Das ... nun also ... das habe ich vergessen. Fabelwesen sind nicht mein Spezialgebiet“, murmelte er beschämt.
Nun wurden die Leute wirklich unruhig. Sie verlangten lautstark, dass man das Trist umgehend unschädlich zu machen habe. Wenn man dazu Prinz Leonhard aus dem Schloss schleifen müsste, damit er das Trist verjagte, nun, dann wollte man genau das tun.
„Das kommt gar nicht in Frage!“, rief die Königin. Ehe ein Streit ausbrechen konnte, mischte sich Tilly Feenstaub ein.
„Ruhe!“, rief sie mit ihrer glockenhelle Stimme. Erwartungsvoll scharten sich die Leute um die Fee.
„Ich weiß, was die dritte Möglichkeit ist. Wir müssen herausfinden, wie man das Trist aufheitert. Wenn es froh ist, spuckt es die Farben wieder aus und wird auch unsere Lebensfreude und Träume nicht verschlingen!“
„Aber“, fragten die Leute, „wie macht man ein Trist froh?“
Tilly Feenstaub seufzte. Sie verschwieg, dass sie in der Feenschule in Fabelogie nicht besonders aufmerksam gewesen war. Stattdessen erhob sie sich in die Luft und sagte: „Lasst es uns einfach ausprobieren!“
Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. Die Lehrerin schlug vor: „Wie wäre es mit Musik?“
Das sei eine ausgezeichnete Idee, meinten die Leute. Sie machten Platz für Kevin Müller, den alle Mozartkugel nannten, weil er der beste Geigenspieler der Schule und außerdem ziemlich dick war.
„Los, Mozartkugel!“, feuerten seine Freunde ihn an. „Das schaffst du doch mit links.“
Mozartkugel nahm seine Geige und spielte drauflos. Er fiedelte ein fröhliches Lied, so flott, so schön, dass man Lust zum Tanzen bekam. Als er fertig war, hörte man aus dem Gully ein schauerliches Heulen.
„Das hört sich nicht froh an“, stellte der zerstreute Wissenschaftler fest. Bedrückt ging Mozartkugel zu seinen Kumpels, die im tröstend auf die Schultern klopften.
„Wie wäre es mit einem Blumenstrauß?“, fragte ein Mädchen mit klitzekleinen Zöpfen, die vom Kopf abstanden und die man Rattenschwänzchen nannte. „Mama freut sich immer, wenn ich Blumen für sie pflücke.“
Die Dorfbewohner fanden, das sei ein hervorragender Einfall! Sie rannten los, plünderten ihre Gärten und baten Tilly, dass sie die Blumen in den Gully werfen sollte.
Aber die Blumen waren farblos. Sie sahen langweilig aus, das musste sogar das Mädchen mit den Rattenschwänzchen zugeben. Als die letzte Blüte im Gully verschwunden war, heulte das Trist so laut, dass der starke Herr August sich für zehn Minuten hinter einem Busch versteckte.
Sie warfen den ganzen Nachmittag über Dinge in den Gully, von denen sie hofften, dass sie das Trist froh machen würde: Marmorkuchen, ein Bilderbuch, eine Karte fürs Kino mit Popcorngutschein, sogar einen Diamantring, ein Spielzeugauto, eine Flasche Apfelschorle, eine Tüte Gummibären, einen Teddy, einen Gameboy und ... und ... und.
Aber das Trist jaulte immer nur weiter.
Auf einmal sahen die Menschen, dass sich aus ihren farblosen Körpern, am Bauch, da wo das Weihnachts- oder das Geburtstagsgefühl sitzt, feine Nebelschwaden lösten und in Richtung Gully schwebten.
„Was passiert mit uns?“, fragte Herr August mit banger Stimme.
„Das Trist“, wisperte Tilly unglücklich. „Es frisst unsere Lebensfreude, bis nichts mehr übrig ist.“
Die Schwaden verschwanden wie Geister im Gully. Die Leute wurden traurig, mutlos und verzweifelt. Sie fragten sich, was erst werden sollte, wenn das Trist auch noch das letzte Schöne fressen würde, was ihnen noch geblieben war: ihre Träume.
Herrn August liefen Tränen über das Gesicht und der Bürgermeister gab ihm sein Taschentuch. Die Königin ließ die Unterlippe hängen, obwohl der König ihre Hand hielt. Mozartkugel und seine Freunde sprachen sich gegenseitig Mut zu und das Mädchen mit den Rattenschwänzchen drängte sich an seine Mutter.
Als Tilly Feenstaub das alles sah, fiel ihr auf einmal etwas ein.
„Ich weiß, was dem Trist fehlt!“, schrie sie aufgeregt und wirbelte wie ein Sturmwind durch die Luft.
Alle Augen waren auf Tilly Feenstaub gerichtet.
„Ein Freund! Es hockt ganz allein da unten, niemand ist bei ihm, keiner tröstet es oder nimmt es in den Arm. Es braucht einen Freund!“
Die Fee winkte dem starken Herrn August zu und redete auf ihn ein: „Du musst jetzt sehr, sehr tapfer sein, Herr August, und den Gullydeckel für mich anheben. Ich will hinunter und mich mit dem Trist unterhalten.“
„Was, wenn es dich beißt?”
„Dann beiße ich zurück!“, verkündete Tilly grimmig.
Also hob Herr August mit schlotternden Knien den Gullydeckel hoch, damit Tilly hinunterschweben konnte. Und da hockte das Trist zwischen all den Sachen, die die Leute hinuntergeworfen hatten. Es war so groß wie ein Kalb und hatte die schönsten goldenen Augen, die Tilly Feenstaub je gesehen hatte. Es jammerte, dass einem das Herz im Leib stehen bleiben wollte.
Mitleidig ging Tilly näher. Als sie es umarmte und Trostworte murmelte, hörte das Trist auf mit der Heulerei. Es wischte sich die Tränen fort und quakte, dabei riss es den Mund weit auf, so dass seine spitzen Zähne zum Vorschein kamen.
Erschrocken schlug Tilly die Hände vor das Gesicht, damit sie das Fürchterliche nicht mit ansehen musste ... doch nichts geschah. Als Tilly zwischen ihren Fingern hindurchlinste, traute sie ihren Augen nicht!
Mit jedem Quaken kam ein Wölkchen aus dem Maul des Trist. Bunt und schillernd wie Seifenblasen. Sanft schwebten die Wolken nach oben. Tilly hörte, wie die Leute riefen: „Ah!“, oder „Oh! Wie ist das schön!“ Einer schrie: „Zum Donnerwetter!“
Tilly konnte von unten ein Stück des Himmels erkennen, der voller bunter Wolken hing. Dann fing es an zu regnen. Rote Tropfen, gelbe, blaue, grüne, orange ... in allen, allen Farben. Einige Regentropfen fielen bis in den Gullyschacht hinunter, sodass Tillys Kleid seine Regenbogenfarben und sie ihre Zauberkraft zurückbekam.
Sie lachte, konnte gar nicht wieder aufhören, so sehr freute sie sich.

Von da an lebte das Trist in der kleinen Stadt. Aber nicht allein auf dem Grund eines finsteren Kanalschachtes, sondern in einer gemütlichen Hundehütte am Stadtteich, wo es täglich Besuch bekam.
Manchmal geigte Mozartkugel ihm was vor, oder das Mädchen mit den Rattenschwänzchen brachte Blumen. Die Jungen spielten Fußball auf der Wiese vor dem Teich, Prinz Leonhard setzte sich mit seinem Gameboy zu ihm und die Lehrerin brachte ihm Rechnen bei.
Am meisten aber freute sich das Trist, wenn seine allerliebste Freundin kam, Tilly Feenstaub, in ihrem Kleid aus Regenbogenfarben.

Die Geschichte ist wahr! Ich bin selbst dabei gewesen damals, als meine Haare noch zu Rattenschwänzchen gebunden wurden und vom Himmel bunter Regen fiel ...