Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

MolochDer Affekt

Das Restaurant lag verwaist da. Bis zum Mittagsgeschäft blieben mir noch drei Stunden. Es war ein eigenartiges Gefühl, hier zu sitzen und auf Gabi Muchler zu warten. Vermutlich würde sie jeden Moment durch den Lieferanteneingang hereinkommen. Vorausgesetzt, sie hatte heute den gleichen Brief im Postkasten gehabt wie ich.
Ich wusste, was sie sagen würde. Dasselbe wie immer, wenn wir uns begegneten.
Die Tür quietschte in den Scharnieren, kurz darauf stand sie da. Bleich wie eine Erscheinung, in der bebenden Hand einen Umschlag. Fragend schaute sie mich an.
Stumm deutete ich auf das Kuvert auf dem Tisch.
Die Zeugenladung vom Schwurgericht.
Sie sank auf einen Stuhl, flüsterte wie erwartet: „Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Wie er da kniet, bleich, die Haare wild in die Stirn, das blutige Messer in der Hand, und auf dem Boden die junge Frau, die sich mit letzter Kraft gegen ihren Mörder wehrt.“
Gegen ihren Mörder ...
O ja, er hatte sie getötet.
Zweifellos.
Ich bin mir sicher, dass er bis heute nicht begriffen hat, wie es dazu kam.
Genauso wenig wie Gabi Muchler.

Vor ziemlich genau zwei Jahren haben Andreas und ich den kleinen Hof gekauft und unsere gesamten Ersparnisse hineingesteckt. Wir wollten uns den Traum von der Selbstständigkeit erfüllen. Biologischer Anbau von Kartoffeln, darauf spezialisierten wir uns.
Ein hartes Brot, wie wir bald feststellten. Wenn die Kartoffeln nicht von der Kraut- und Knollenfäule vernichtet wurden, verdorrten sie in der Sommerhitze oder erfroren, weil es im Frühjahr noch einmal Frost gab. Mehr als einmal bereute ich, dass ich meinen Job als Krankenschwester aufgegeben hatte.
Eines Tages kam Andreas die Idee mit dem Restaurant. „Du kannst klasse kochen, Britta. Wir sitzen an der Quelle. Warum nicht zusätzlich Küche rund um die Kartoffel anbieten?“
Die „Tolle Knolle“ lief von Anfang an prächtig! Kartoffelsuppe, Bratkartoffeln, Gratin, junge Kartoffeln mit Kräuterquark – alles hausgemacht.
„Wir müssen uns nach einer Hilfskraft umsehen“, stellte ich schon bald erfreut fest.
Ewa Górniak, eine bildhübsche Polin, war Medizinstudentin und verdiente sich in der „Tollen Knolle“ was dazu. Viel zahlen konnten wir nicht, boten ihr stattdessen Kost und Logis. Sie kam vor allem bei den männlichen Gästen gut an. Mit Frauen war das anders. Die musterten immer gleich Ewas lange blonde Haare, das sehr freizügige Dekolletee und verzogen den Mund, wenn Ewa mit ihren Männern schäkerte.
Ewa himmelte auch Andreas hin und wieder an, es lag ihr wohl einfach im Blut. Mehrfach sagte ich zu ihm: „Wir sollten uns jemand anders suchen. Das geht nicht gut, die macht uns noch unglücklich.“
Doch davon wollte Andreas nichts hören, verstand auch gar nicht, was ich damit andeuten wollte. Außerdem hatten wir Hochsaison. Ewa arbeitete zuverlässig, war stets bester Laune und kochte ebenso gut wie ich. Wir hätten Freundinnen werden können ...
Dass Andreas sie „mein Kartöffelchen“ nannte und in der Scheune vernaschte, bekam ich nur durch einen Zufall mit.
Ich hatte den Satz neuer Küchenmesser im Auto liegen lassen, Andreas am Nachmittag zwar gebeten sie hereinzubringen, aber wie üblich hörte er nicht richtig zu. Deshalb musste ich sie selbst holen.
Ich sehe noch immer vor mir, wie sie ganz hinten im Schuppen standen. Er legte Ewa beide Hände auf den Po, zog sie so nah an sich heran, dass kein Fetzchen Papier dazwischen gepasst hätte.
„Komm her, mein Kartöffelchen!“
Sie lachte leise. „Andrej, nie ... Prosze.“ Nein. Bitte.
Er knöpfte Ewas Bluse auf. Sie fuhr ihm durch die Locken, als er ihren BH aufhakte und ihre Brüste liebkoste. Es sah aus, als hätte er das schon sehr häufig getan.
„Ahh, doprze, Andrej, dosskonale.“ Gut, Andreas, sehr gut.
Ich wollte es nicht, aber aus irgendeinem Grund stand ich da und lauschte ihrem Keuchen.
Jetzt wusste ich, warum Andreas keine Lust mehr auf Sex mit mir verspürte.
Mit sterbendem Herzen und einem Kopf wie mit Sägemehl gefüllt ging ich unbemerkt ins Haus zurück. In meinen Ohren dröhnten ständig zwei Worte. Gestöhnt, nicht gesprochen: Doprze, dosskonale.
Ich hatte alles verloren.
Einfach alles.

Am nächsten Morgen kam Ewa in die Küche, strahlte mich an, wünschte mir mit ihrem stockenden Akzent einen guten Morgen. „Was rrricht so gut, Britta? Neuäs Rrräzept?“
„Kartoffelstrudel mit Bärlauch“, erwiderte ich knapp. „Vorbestellung. Wird gleich für Gasthof Muchler abgeholt.“ Ich zog mir Einmalhandschuhe über, weil ich die Zutaten für das Restaurantessen nie mit bloßer Hand anfasste. Danach nahm ich eines der neuen Messer aus der Verpackung, spülte es ab und hackte Zwiebeln.
Ewa beugte sich runter zur Backofentür und spähte durch das Fenster hinein.
„Hm“, sagte sie, „dopzre, Britta, dosskonale!“
Diese Silben fielen wie eine schwere, schwarze Decke über meinen Verstand, ich konnte nichts mehr denken, nichts hören oder sehen. Nur fühlen konnte ich. Wut, mörderische, brennende, alles verzehrende Wut.
Als es aufhörte, lag Ewa bäuchlings vor dem Backofen. Ihr Atem ging schwer und pfeifend. Zwischen ihren Schulterblättern steckte bis zum Heft das nagelneue Messer. Ich wollte es eben herausziehen, als Andreas hereinkam.
Binnen Sekunden wurde er so weiß im Gesicht, als liefe Milch durch seine Adern. Mit zwei Schritten war er bei Ewa, streckte die Hand nach dem Messer aus.
 „Andrej ... nicht ... stecken lassen ...“, wisperte sie.
„Sofort“, stammelte er, „ich ziehe es sofort raus.“

Dann geschah alles gleichzeitig: Die Tür flog auf und Gabi Muchler stand im Raum, um den Strudel abzuholen. Ewa schlug mit der Linken schwach nach Andreas, der bekam ihre Hand zu fassen und riss die Klinge aus ihrem Rücken. Es gab ein Zischen wie bei einer undichten Gasleitung, als Ewas Atem aus der Wunde strömte und mit ihm Unmengen dampfenden Blutes.

Frau Muchler stand da, starrte auf Andreas, das Messer in seiner Faust, die zuckende Frau zu seinen Füßen. Gabi Muchler kreischte wie eine Harpyie, wirbelte herum und rannte, rannte, rannte ...

Die einzigen Fingerabdrücke, die man auf dem Messergriff fand, waren die meines Mannes.
Es war schon immer seine größte Schwäche gewesen, dass er nicht richtig zuhören konnte. Selbst in einem so wichtigen Augenblick, in dem es um Leben Tod ging, achtete er nicht auf das, was man ihm sagte.
Oder wie.
Ewa hatte nämlich keineswegs gesagt: „Andrej! Nicht stecken lassen“, sondern vielmehr: „Andrej, nicht! Stecken lassen.“ Sie versuchte ihn daran zu hindern, die Klinge herausziehen, schlug deshalb sogar nach ihm. Als Medizinstudentin wusste Ewa - ebenso wie ich als Krankenschwester - dass man bei einer solchen Stichverletzung den Fremdkörper stecken lässt, damit die Lunge nicht kollabiert.
Denn das bedeutet den sicheren Tod.

Gabi Muchler riss mich aus meinen Gedanken. „Diesen Anblick werde ich nie vergessen“, wiederholte sie mit schwerer Stimme. „Nun büßt er für das, was er getan hat.“
Ich nickte.