Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

FahiseFahise!

„Dorothea Grams! Was kann ich für Sie tun?“, rief Dorothea energisch in den Telefonhörer.
„Ich brauche Ihre Hilfe.“ Die Stimme war sanft, beinahe kindlich und mit einem Akzent unterlegt.
„Worum handelt es sich?“, fragte die Sachbearbeiterin.
„Um einen Notfall.“
Dorothea unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer: „Geht es ein wenig deutlicher?“
„Es ist wichtig, dass Sie persönlich vorbei kommen.“ Eine kurze Pause, dann ein geflüstertes: „Bitte.“
„Ich mache keine Hausbesuche, wenn ich nicht weiß, worum es sich handelt.“
„Es geht darum, dass ein Mensch Ihre Hilfe braucht! Sie bekommen nur diese eine Chance, um zu handeln. Und ich vielleicht auch. Sollten Sie nicht reagieren und es passiert etwas, werde ich bei der Presse kein Blatt vor den Mund nehmen!“, drohte die Frau nicht sehr überzeugend.
„So läuft das nicht,“ parierte Dorothea. „Geben Sie mir wenigstens einen Anhaltspunkt!“
Das Schweigen am anderen der Ende der Leitung zog sich hin. Schließlich sagte die Anruferin: „Ich habe eine Ehefrau abzugeben.“ Sie nannte eine Adresse, sowie Tag und Uhrzeit für ein Treffen hervor.
„Da sind Sie bei mir falsch! Hier ist kein Frauenhaus. Ich bin ...“
„Ich weiß, wer Sie sind!“
„Hallo? Na so was! Einfach aufgelegt!“
Dorothea konnte eine leise Bewunderung für die Unbekannte nicht unterdrücken. Immerhin hatte sie es in kürzester Zeit zu Wege gebracht, dass sie ihren Termin für Freitag absagen würde, um dieser Frau einen Besuch abzustatten.
„Dann werden wir ja sehen“, sagte Dorothea zu dem dicken Bürokaktus auf der Fensterbank, „was an der Sache dran ist!“ WEITER

Die Adresse lag in einem Viertel, das vorwiegend von Türken bewohnt und deshalb allgemein als Klein Istanbul bezeichnetwurde. Es handelte sich um ein renoviertes Haus in einer alten Zechensiedlung. Sauber, gepflegt, ein wenig karg. Vor der Tür wartete eine junge, gutaussehende Frau.
Türkin, dachte Dorothea. Dritte oder vierte Generation in Deutschland.
Die Frau trug einen langen dunklen Rock, eine ebensolche Bluse und ein Kopftuch mit rosa Blütendruck.
Sie ging die Stufen vor der Haustür hinunter und kam Dorothea entgegen.
„Guten Tag, Frau Grams.“ Es war die Stimme vom Telefon.
„Hallo, kommen wir gleich zu Sache,“ forderte Dorothea sie auf.
Mit einer einladenden Geste deutete die Türkin auf die Haustür. „Bitte, lassen Sie uns hinein gehen um alles zu besprechen.“ Sie führte Dorothea in ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. An der Wand hing ein wunderschöner, handgewebter Gebetsteppich und auf dem Tisch stand ein Teetablett mit einer dampfenden Kupferkanne.
Die Gastgeberin schenkte ein. Mechanisch nahm Dorothea das Teeglas entgegen.
„Also, worum geht es, Frau ...“       
„Arslan. Ich bin Hülya Arslan, wurde vor zwanzig Jahren in Deutschland geboren, besuchte hier die Gesamtschule und machte meinen Abschluss. Seit meiner Heirat lebe ich in der Türkei. Ich bin nur in Deutschland, weil wir zu der Hochzeit eines Cousins meines Mannes eingeladen wurden. Mein Mann ist im Haus des Bräutigams und wird mich nachher abholen. Dies ist die Wohnung meines Bruders.“
„Aha.“ Dorothea pustete, bevor sie den schwarzen Tee kostete. „Und?“
„Als ich siebzehn Jahre alt war, brachte meine Familie mich gegen meinen Willen nach Van, in die Osttürkei. Dort wurde ich mit meinem Cousin zwangsverheiratet,“ erklärte Hülya sachlich.
„Wie bitte?“, entfuhr es Dorothea. Entrüstet stellte sie ihr Glas ab.
„In den rückständigen Gegenden der Türkei sind solche Bräuche tief verwurzelt und  ganz alltäglich. Und nicht nur dort, sondern auch hier in Deutschland. Eine Sache, über die man nicht gerne spricht, aber es bleibt eine Tatsache! Väter und Brüder wachen über die Sittlichkeit. Es ist für Frauen daher sehr wichtig, wie sie sich kleiden“, sie deutete auf ihren Rock und das Kopftuch, „und wie sie sich verhalten. Die Aufgabe des Mannes ist es,  die Frau zu beschützen und Geld zu verdienen. Von ihr erwartet man, dass sie die Familienehre auf gar keinen Fall beschmutzt.“ Hülya stieß nervös ihren Atem aus, bevor sie weitersprach: „Und doch bin ich im Begriff, genau das zu tun!“
„Was soll das heißen?“
„Ich will nicht in die Türkei zurückkehren oder in Deutschland nach den alten Ehrbegriffen einiger Landsleute leben. Meine Familie versteht das nicht, sie würden das niemals erlauben! Aber ich möchte mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen verbringen. Hier und heute ist vielleicht die letzte Gelegenheit, das in die Tat umzusetzen!“
„Frau Arslan, das alles ist schön und gut. Und zweifellos sehr mutig.“ Dorothea schüttelte den Kopf. „Aber ich sehe nicht, was das mit mir zu tun hat.“
„Dazu komme ich jetzt.“ Hülya erhob sich und legte einen Finger an die Lippen. „Bitte, seien sie leise.“
Sie verließ den Raum und winkte Dorothea ihr zu folgen.
Vor einer verschlossenen Tür blieb Hülya stehen. Sie drückte leise die Klinke hinunter. Durch den Spalt konnte man ein Bett sehen. Darauf lag ein Kind in tiefem Schlaf. Ein hübsches Mädchen mit hüftlangem schwarzem Haar und verweintem Gesicht.
Abrupt wandte die Sachbearbeiterin des Jugendamtes den Kopf. „Was ist mit ...“
„Scht! Sie schläft.“ Hülya schloss sachte die Tür und zog Dorothea Grams mit sich ins Wohnzimmer.
„Was hat man mit ihr gemacht?“
„Verheiratet.“
“Was?“
“Scht! Nicht so laut! Aisha wurde vor vier Wochen in der Türkei zwangsverheiratet.“
„Mein Gott! Sie ist doch noch ein Kind! Wie konnten man ihr das antun?“
Hülya senkte den Kopf und lächelte nachsichtig.
„Darauf hatte ich keinen Einfluss. Aisha ist elf Jahre alt und die Ehefrau, die ich abzugeben habe.“
 „Bitte?“
„Sie ist meine Schwägerin, die Frau meines jüngsten Bruders. Er hat sie auf Wunsch unseres Vaters geheiratet.“ Hülya setzte sich. „Mohammed ist ein gehorsamer Sohn und würde seiner Familie nie Schande bereiten. Manchmal führt das zu ... Komplikationen.“ Sie deutete auf die Schlafzimmertür. „Aisha ist eine davon und ich glaube, es ist Ihre Sache, alles Erforderliche in die Wege zu leiten. Sofort, Frau Grams.“
Dorothea nickte wie betäubt und ließ sich in einen Sessel fallen. „Hat er sie ... ich meine,  Ihr Bruder. Hat er die Kleine ...“ Sie brach ab.
„Nein. Das hat er nicht.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Dorothea zuckte in völliger Hilflosigkeit mit den Schultern. „Ichhätte nie gedacht, dass ich in meinem näheren Umfeld einmal mit einer Zwangsheirat konfrontiert sein würde! Von einer Kinderehe ganz zu schweigen! Auf jeden Fall ist diese Ehe in Deutschland ungültig!“
„Selbstverständlich ist sie das!“, stimmte die Türkin zu. „Doch solange das Mädchen im Hause meines Bruders lebt, ist sie in den Augen der Familien seine Ehefrau. Sobald Sie Aisha jedoch mitnehmen, Frau Grams, unterliegt das Kind Ihrer Obhut und somit der Fürsorge des Jugendamtes. Von dem Augenblick an wird sie nur noch eines sein.“
Dorothea erwiderte den Blick der grimmig dreinschauenden Hülya. „Ein kleines Mädchen!“
Ich habe gewonnen!, dachte die junge Muslimin, als sie Aisha zum Abschied winkte und kurz darauf das Haus verließ.
Neun Wochen später reichte sie die Scheidung ein. Ein gutes Zeichen, entschied Hülya, als sie am gleichen Tag einen Anruf von Dorothea Grams erhielt: „Das Amtsgericht hat Aishas Ehe für ungültig erklärt und aufgelöst,“ teilte ihr die Sachbearbeiterin mit.
Es waren vier gezielte Schüsse in den Rücken, die Hülyas Traum schließlich für immer zerstörten.
Einen kurzen Augenblick stand sie aufrecht da, dann knickten ihre Beine weg und der Straßenbelag zerquetsche ihre Wange. Es knirschte, als ihr an der Bordsteinkante ein Zahn zersplitterte.
Sie lag da, die Augen vor Verblüffung weit aufgerissen, und starrte in den Himmel. Es hatte gar nicht weh getan, war bloß wie ein heftiger Stoß, den ihr jemand versetzte, der sie taumeln ließ und schließlich zu Fall brachte. Das heiße Metall der Kugeln bohrte sich in sie, bevor die Projektile an der Brust austraten. Die roten Flecken mit dem dunklen Loch in der Mitte fielen auf ihrer Bluse kaum auf – denn sie war weiß, mit Klatschmohnblüten.
Sie sah die aufgerissenen Münder und Augen der Leute um sich herum. In ihren Ohren klang ein anhaltender Pfeifton, hoch und fein, der alles andere überdeckte.
Sie drehte den Kopf so vorsichtig zur Seite, als wäre er aus Glas, und entdeckte inmitten der Menschenmenge ihre beiden Brüder. Daneben stand Hülyas Mann, der fassungslos auf ihre nylonbestrumpften Beine und den kurzen Rock starrte. Sein Gesicht war entstellt  vor Wut über ihre Kränkungen. Seine Frau führte sich auf, wie eine Deutsche!
„Fahişe!“, las sie von seinen hassverzerrten Lippen. Hure!
Sie fing an zu lachen. Es tat weh. Obwohl sie ihr Gelächter nicht hörte, spürte sie, wie ihr Brustkorb bebte. Sie lachte, bis das Blut ihre Lungen ausfüllte und die Töne erstickte. Ihr wurde kalt, ein Gefühl, als hätte sich eine dicke Wolke vor die warme Frühlingssonne geschoben. Erschöpft schloss sie die Augen. Langsam verblutete Hülya auf dem dreckigen Asphalt an einer Straßenbahnhaltestelle mitten in Deutschland, umgeben von hilflosen, schreienden Menschen und weinenden Schulkindern.
Ihre Gedanken wanderten noch einmal zu Dorothea Grams. Und dem Kind, das vorerst bei einer türkischen Pflegefamilie irgendwo in Deutschland lebte. Ohne Kopftuch.
Das Letzte, was sie in dieser Welt fühlte, war Triumph.
Man hatte sie erschossen - aber nicht besiegt!

 

 

 

ZUR INFO:
Opfer sogenannter Ehrenmorde in Deutschland: Von 1997 bis Februar 2005 waren es fünfundvierzig Ermordete – gem. Kriseneinrichtung für Migrantinnen, Papatya. Davon seit 10/2004 allein in Berlin sechs junge Frauen, die auf unterschiedliche Art und Weise „die Ehre“ ihrer muslimischen Mörder verletzten und sie so kränkten, dass sie sterben mussten.
In den Dörfern der  Provinz Van (Osttürkei) begehen auffallend viele junge „Frauen“ Selbstmord.  Meist im Alter von 15 Jahren. Ursache sei die niedrige soziale Stellung der muslimischen Frauen, die in der Gesellschaft ganz unten stehen und als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Bereits in sehr jungen Jahren werden sie gezwungen jemanden zu heiraten, den sie nicht wollen.
Wahrscheinlich wird auch eine hohe Anzahl an Ehrenmorden als sogenannte Selbstmorde hingestellt. Dies geht aus einer Studie der Universität der Stadt Van (Forscherin Sema Sancak) hervor und war in einem Artikel vom 05.03.2005 in der Welt zu lesen.