Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Mixed Bag

Das Schlangenblut

Man hätte Serpentisa von ihrer Statur her für eine Menschenfrau halten können. Groß und schlank mit bleicher Haut - doch ohne Haare, und das Fehlen der Ohren und Lippen, ihre lidlosen goldenen Augen mit den tiefschwarzen runden Pupillen und die gespaltene Zunge verrieten, dass sie eine Tiamat war; ein Schlangenblut.
Sie alterte nicht und wurde niemals krank, genauso wenig wie die Elfen. Daher ging unter den Menschen das Gerücht, dass Angehörige dieses scheuen Volkes beinahe unsterblich seien und nie eines natürlichen Todes starben, sondern nur durch Gewalt oder Unglück.
In Wahrheit hatte es vor Jahrhunderten eine Zeit gegeben, in welcher die Tiamat ebenso leicht vergingen wie die Menschen. ... WEITER

Zu jener Zeit erzählte man sich, dass in der Mitte des Nachtwaldes eine Lichtung lag, auf der ein mächtiger Baum mit indigoblauen Blättern wuchs. Er trug eine einzige Frucht - eine Sternenfrucht, die nur im Mondlicht zu sehen war. Wer von ihrem Fleisch aß, erlangte die Ewige Jugend - und genau das war es, wonach sich die Kurzlebigen verzehrten.
Viele von ihnen zogen aus, den Nachtwald zu durchqueren, die Lichtung zu finden und den Baum zu erklimmen, um die Sternenfrucht zu erringen. Viele, doch keiner kehrte zurück und so geriet die Legende beinahe Vergessenheit.
Aber Serpentisa, die sich voll unbändiger Neugierde und Wissensdrang häufig in Bibliotheken herumtrieb, stieß eines Tages auf ein uraltes Buch, in dem alles über diesen Lebensbaum aufgeschrieben war. So erfuhr sie von der sagenhaften Sternenfrucht.
‚Ich will sie haben`, dachte sie sehnsüchtig. ‚Ich muss sie haben. Die Spanne meiner Jahre ist viel zu kurz, um alles Wissen dieser Welt studieren zu können!´
Zwei Tage später brach sie auf.

Sie wanderte den ganzen Tag. Trotz der Furcht vor den Kreaturen, die diesen Wald bevölkerten, setzte sie beharrlich einen Fuß vor den anderen. ‚Nur nicht innehalten`, sagte sie sich. Schließlich taumelte sie vor Erschöpfung und musste wohl oder übel ihr Nachtlager aufschlagen.
Neben einer Gruppe Erlen entfachte Serpentisa ein Feuer. Wie alle Geschöpfe mit kaltem Blut liebte sie Hitze und rückte nahe an die Flammen. Sie seufzte vor Wohlbehagen und war froh über den hellen Schein. ‚Das Feuer wird wilde Tiere und andere Scheusale abschrecken`, hoffte sie.
Doch es gab Kreaturen, die es nicht fürchteten.

Nebelschwaden stiegen unter den Erlen auf. Feine Schleier wanden sich spiralförmig in die Höhe, verdichteten sich und nahmen Formen an. Serpentisa ließ die Dunstfetzen nicht aus den Augen, die sich wie Mosaiksteinchen aneinanderfügten. Langsam bildete sich die nebelhafte Erscheinung einer Frau.
‚Die Erlkönigin´, durchzuckte es Serpentisa. ‚Die Todesbotin. Und sie ist nicht allein ... ihre Schwester sind bei ihr.`
Nymphengleich schwärmten die Nebelfrauen herbei. Ihr langes Haar wallte bis zur Taille, ihre losen Gewänder flatterten Rauchfahnen gleich lautlos hinter ihnen her. Wie aus Mondlicht gegossen schwebten sie heran. Je näher sie kamen, desto wundersamer wurde Serpentisa ums Herz.
Ihr Gesang war unwiderstehlich, die Töne so rein und klar, dass sie den ganzen Nachtwald zu erfüllen schienen. Süß, voller Sehnsucht und Versprechen: „Komm – ein Kuss wird deine Seele mit Glück erfüllen ... Komm - ein Kuss wird dir alle Geheimnisse des Lebens enthüllen ... Komm ...“
Mit ihren schlanken, bleichen Armen winkten sie Serpentisa zu sich, die wie gebannt zu ihnen hinüberstarrte.
Es gab kein Entrinnen für den, der dem Gesang der Nebelfrauen lauschte. Man wurde krank vor Verlangen, verlor jeden Willen, wollte ihnen nahe sein, ganz nahe, und war auf ewig verloren. Die Erlfrauen nahmen die Seele mit sich fort.
Doch Serpentisa war eine Tiamat. Ein Schlangenblut. Sie hatte keine Ohren, war taub, wie alle ihrer Art.
Wenn es ihr Wunsch gewesen wäre, hätte sie die betörenden Töne mit ihrer empfindsamen gespaltenen Zunge spüren können – doch sie wollte es nicht. Sie saß nur da, schaute der Erlkönigin und ihren Schemenschwestern zu, wartete auf den Morgen und darauf, dass die Sonnenstrahlen die Nebelfrauen vertrieb.
In der ersten Morgendämmerung machte sie sich wieder auf den Weg, wanderte, bis der Abend allmählich hereinbrach. Doch sie erreichte die Mitte des Nachtwaldes noch immer nicht, und als die Dunkelheit kam, entfachte sie ein Feuer, aß etwas und schlief ein.
Irgendetwas weckte sie. Das Knacken eines Zweiges? Ein Vogelruf? Serpentisa setzte sich auf.
Das Feuer war beinahe erloschen. Nur noch vereinzelt glühten Holzscheite. Eben beugte sie sich vor, um Holz nachzulegen, als etwas ihren Nacken streifte. Finger. Kalte Glieder, wie aus Eis, die sie betasteten. Klamme Finger. Tote Finger.
Blutleer ...
Felemya!
Felemya, die Serpentisa mit sich in die Finsternis nehmen wollten. Mit einem Zischlaut fuhr sie herum. Rings um sie leuchteten Augen. Rote Augen, die sie hungrig anstarrten. Es waren zehn, elf Vampirelfen. Vielleicht mehr. Sie bleckten die Zähne und zeigten ihr wölfisches Gebiss. Speichel tröpfelte aus ihren Mäulern, Geifer, der in der Dunkelheit schwarz zu sein schien.
Serpentisa wusste, was die Felemya ihr zuraunten:
„Folge uns! Wir schenken dir das Ewige Leben, wenn du uns das Eine gibst: dein warmes Blut. Wir wollen deinen Lebenssaft kosten, seine Hitze trinken, uns daran berauschen und wärmen ...“
Serpentisa schüttelte den Kopf.
„Wie dumm ihr seid!“, zischte sie in ihrer leisen, ungelenken Sprache. „Ich bin eine Tiamat, ein Schlangenblut! Mein Blut ist kalt. Kalt wie eine Winternacht! Kalt, wie der Tod, kalt wie das eure. An mir werdet ihr euren Hunger nach Wärme nicht stillen können!“
Sie wandte sich ab und warf Holzscheite in das Feuer, das hell aufloderte. Die Felemya wichen fauchend zurück. Nur zwei von ihnen beschnüffelten sie, den Hals hinauf und hinunter, an den Handgelenken, den prallen Venen. Dann wandten sie sich ab und verschwanden in den Schatten zwischen den Bäumen.
Am Morgen brach Serpentisa wieder auf, marschierte Stunde um Stunde - und gelangte endlich in die Mitte des Nachtwaldes! Als sie bei Sonnenuntergang die letzte Baumreihe durchschritt, lag die Lichtung vor ihr.
Das Herz des Waldes.
Ein vollkommener Kreis, in dessen Mitte ein Riesenbaum mit indigoblauen Blättern aufragte.

Das Mondlicht verlieh der Sternenfrucht die Farbe einer schimmernden Perle. Das Leuchten zog Serpentisa magisch an. Ohne zu zögern kletterte sie auf den Baum und pflückte die Frucht. Sie war verwundert, wie leicht sie sich brechen ließ. Vorsichtig schnupperte sie daran. Die Sternenfrucht roch nach nichts.
Serpentisa biss in das Fleisch. Saft quoll hervor, hellrot und sprudelnd, beinahe wie Blut. Sie schluckte. Nur einen Bissen. Das Fruchtfleisch war so gallenbitter, dass sie würgte und es fast ausspuckte. Der Saft benetzte ihre Zunge, füllte die Mundhöhle, es brannte, als hätte sie Säure getrunken – doch allmählich spürte sie die lebendige Kraft der Ewigen Jugend in ihrem Innersten und dann passierte das Unfassbare, etwas, dass nie zuvor einer Tiamat widerfahren war: Sie häutete sich. In hauchzarten Flocken löste sich alte die Haut von ihrem Köper und trieb mit der Nachtbrise davon.
Mittleren Alters war sie an diesen Ort gekommen, als junge Tiamat sah sie nun die Sonne aufgehen.
Sie wanderte zurück durch den Nachtwald, vorbei an den hungrigen Felemya und den berauschenden Erlenfrauen, ohne zu wissen, was für ein Geschenk sie in sich trug – denn auch ihre Nachkommen würden sich häuten.

Die Legende, die Tiamat würden nie eines natürlichen Todes sterben, sondern nur durch Gewalt oder Unglück, ist also wahr. Sie sind beinahe unsterblich, wie die Elfen.