Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Mixed Bag

Der Seelenbaum

Erst herrscht Stille.
Dann erfüllen betörende Klänge einer Harfe die Luft. Ein Mann schwebt, wie ein schöner Engel, auf Wolken aus Musik durch den Raum: luftig, leicht und fluoreszierend. Ein sehnsüchtiges Lächeln huscht über seine Züge, als er seine Hände nach der Harfenspielerin ausstreckt und sich bemüht sie zu berühren.
Vergeblich.
Wie immer gleiten seine substanzlosen Hände durch den Körper der Frau hindurch und seine Worte erreichen ihr Gehör nicht.
Aber sie schaut ihn an und er wünscht sich, ihre Musik hätte genug Magie um die Zeit rückwärts laufen zu lassen. Doch alles, was ihm bleibt, sind die Töne, die sie nur für ihn und sich selbst spielt und mit denen er in ihrem Geist verschüttete Erinnerungen zum Leben erweckt. Er kann es nicht hinnehmen, dass sie alles, dass sie ihn vergessen haben könnte.
Die Melodie gleitet durch den Raum und kurz darauf scheint die Frau an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit zu sein. Ein Hauch des Wiedererkennens spiegelt sich in ihren Augen, als sie sich mit entrücktem Gesicht umschaut …

Die Mischwälder Tiesins waren die schönsten. Bei dem milden Klima verloren die Bäume ihre Blätterkleider das ganze Jahr über nicht: Das rote Laub des Scharlachbaumes erinnerte an das Blut eines erlegten Ebers, die sonnengelben Blätter des Lichtbaumes wetteiferten mit dem Türkis der Verdirapalmen und dem satten Grün der nadeligen Ypsbäume. Das orangefarbene Laub des Zulabaumes ließ fast dessen ebenfalls orangefarbenen Früchte unsichtbar werden: die Zulabeeren. Weiße Äffchen hockten in den Zweigen und fraßen von den süßen, leicht berauschenden Beeren. Ihr Plappern erfüllte die Luft und übertönte beinahe den melancholischen Gesang der winzigen nachtblauen Bengalivögel mit den goldenen Augen.
Eingebettet in die prachtvollen Wälder lag der Spiegelsee und an seinen Ufern begegnete der Dichter Garvey bei einem seiner einsamen Spaziergänge der Magierin Avanna zum ersten Mal.
Sie stand nackt im Wasser. Das lange rotblondes Haar hatte sie gelöst und es fiel in Kaskaden bis zu ihrer Taille. Langsam ging sie tiefer in das silbrige Nass, tauchte kurz unter und schwamm dann mit kräftigen Zügen. Er schaute ihr zu.
Als sie wieder ans Ufer kam, perlten schimmernde Tropfen von ihrem Körper und das nasse Haar klebte an ihrem Rücken, bis sie es auswrang. Garvey wusste, er hätte gehen sollen oder sich zumindest bemerkbar machen müssen. Doch er blieb, wo er war, wie gebannt vom Anblick dieser Frau.
Plötzlich hielt Avanna inne. Dann bückte sich rasch, hob eine graue Kutte auf und hielt sie schützend vor ihren nackten Körper. Mit unruhigen Augen suchte sie den Waldsaum ab, bis sie Garvey entdeckte.
Im gleichen Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, erkannte Garvey in ihr die Seele, die für ihn vorherbestimmt war. Er wusste es ohne jeden Zweifel, so sicher wie er wusste, dass sein Name Garvey lautete.
Avanna sagte kein Wort. Das brauchte sie auch nicht, denn ihr verblüffter Gesichtsausdruck, dem ein zaghaftes Lächeln folgte, gab ihm die Gewissheit: Auch sie wusste es.
Es war erstaunlich, wie direkt sie vom ersten Augenblick an zu seinem Herzen sprach, so unverkennbar, als hätte jemand eine Kerzenflamme in der Dunkelheit entzündet. Und das Licht zog Garvey an wie die trunken machenden Zulabeeren die weißen Äffchen.
Ihm war klar, dass er die zarten Bande, die er in den letzten Monaten zu Sahira geknüpft hatte, lösen musste.
Er hatte keine andere Wahl. WEITER 

Nie würde Garvey das erste Mal mit Avanna vergessen.
Nie.
Das Rascheln ihrer Kutte raunte Garvey eine Einladung zu, sie von Avannas Körper zu streifen, und Avanna selbst flüsterte: „Ich will dich küssen.“
Sacht berührten sich ihre Nasen , bevor er Avannas halbgeöffnete Lippen mit seiner Zungenspitze nachzeichnete. Unendlich bedächtig, während er gleichzeitig ihren warmen, köstlichen Atem inhalierte. Avanna erwiderte die Zärtlichkeiten. Der Kuss schmeckte süß, richtig süß.
Sie stöhnte ein bisschen und lachte leise, als sie sich ohne jede Scham vor ihm auszog und ihm mit bebenden Händen bei seinen Kleidern half.
Garvey zog Avanna an seine Brust, umarmte sie und spürte, dass ihr Herz ebenso heftig schlug wie seines. Er streichelte ihren Rücken und liebkoste ihre nackte Haut.
„Du bist schön“, sagte er mit rauer Stimme. „Wunderschön.“
„Berühr mich“, raunte sie. „Berühr mich an allen Stellen, an denen ich dich berühre.“
Er streichelte sie, und nahm ihr Gesicht behutsam zwischen seine großen Hände.
„Fühle mich und sieh mich dabei an. Schmecke und rieche mich, lausche meiner Stimme, Garvey. Nimm alles.“
Er nahm alles. Und genoss es: die Weichheit ihrer Haut, die Tränen in ihren Augen, als er sie liebte. Das Salz ihrer Haut, den Duft ihres Haares, den Schlag ihres Herzens. Und das kostbare Licht ihrer Seele, die er überall und zu jeder Zeit erkennen würde.

Garvey hastete durch die bunten Wälder davon. Je näher er seinem Ziel kam, desto lauter wurde der Kanon der Bengalis, bis nur noch das Wehklagen der kleinen Vögel die Luft erfüllte. Sie nisteten in den hängenden Zweigen der seltenen Seelenbäume, die nur im tückischen, morastigen Schlamm am Westufer des Spiegelsees wuchsen.
Doch heute hatte er keinen Sinn für die Schönheit um sich herum, denn in Gedanken sah er noch immer Sahira vor sich. Auch sie trug die graue Kutte der Magierinnen und ihre Augen blitzten wie Eis in der Sonne. „Wie konntet du mir das antun?“ Sie ballte die vor Wut bebenden Hände, zerdrückte dabei ihr Weinglas und zog sich einen tiefen Schnitt im Handballen zu. Sofort schoss Blut hervor.
Ohne sich um die Wunde zu kümmern, ließ sie die Scherben zu Boden fallen und schleuderte das Blut gegen Garvey. Warm traf es sein Gesicht und rann die Haut hinunter.
„Fluch über euch!“ Sahiras Stimme überschlug sich. „Fluch! Fluch! Sie soll auf ewig unerreichbar für dich sein. Wenn eure Körper sich berühren, wird das euer Ende sein und eure Menschenseelen werden einander vergessen und sich niemals wiedererkennen. In diesem Dasein nicht, und in all den noch folgenden Leben auch nicht! Dreimal Fluch!“ Wieder bespritzte sie ihn mit ihrem Blut.
Wortlos drehte sich Garvey um und verließ das Haus.
O ja, ihm war klar gewesen, dass es kein leichter Gang werden würde. Und doch musste er Sahira sagen, dass es Avanna war, für die er sich entschieden hatte.
Natürlich rechneten er mit Sahiras verletztem Stolz, vielleicht mit ihrer Verzweiflung und ganz sicher mit einem Wutausbruch. Aber nicht damit. Nein, nicht mit diesem hasserfüllten Zorn.
Und dem Fluch. Ein Blutfluch! Ausgesprochen von einer mächtigen Magierin …
Ihn fröstelte, er schritt schneller aus und schlug nach einem blutsaugenden Insekt. Garvey konnte bereits das Wasser des Spiegelsees riechen, und als er die letzte Biegung hinter sich gelassen hatte, lag das Gewässer vor ihm. An seinem Ufer stand Avanna, ebenfalls in die graue Kutte der Magierinnen gehüllt und mit dem Rücken zum ihm.
Als sie seine Schritte hörte, drehte sie sich um und lächelte. „Garvey!“, rief sie und stürzte sich in seine Arme, noch ehe er es verhindern konnte.
Plötzlich erstarrte Avannas Lächeln. Ihre Augen waren auf etwas hinter Garvey gerichtet und sie hob mit einem leisen Aufschrei ihre Hand zum Herzen, bevor sie mit einem Klagelaut zusammenbrach.
„Avanna!“
Sie hatte Tränen in den Augen. Ein Krampf schüttelte ihren zierlichen Körper und sie streckte Hilfe suchend die Hand nach ihm aus. „Angst!“ flüsterte sie. „Angst!“
Er kniete sich neben sie, hob sie hoch, um sie ins Dorf bringen. Doch als er aufsah, stand Sahira vor ihm. Das Lächeln in ihrem Gesicht erreichte ihre Augen nicht. Feine Fältchen hatten ihr Gesicht überzogen, wie Spinnenweben: Sie war gealtert, denn der Fluch hatte sie viel Energie gekostet.
„Leb' wohl!“, zischte Sahira und versetzte Garvey einen heftigen Stoß, auf den er nicht gefasst war. Da er noch immer Avanna auf den Armen trug, taumelte er unversehens rückwärts, bis er mit den Füßen im sumpfigen Morast versank.
Und dann sang Sahira spöttisch eines der alten Lieder:
„Leb' wohl! - Mit dumpfen Herzensschlägen
Begrüß' ich dich und folge meiner Pflicht.
Im Auge will sich eine Träne regen.
Was sträub' ich mich? Die Träne schmäht mich nicht.
Ach! wo ich wandle, sei's auf Friedenswegen,
Sei's wo der Tod die blut'gen Kränze bricht:
Da werden deine teuren Huldgestalten
In Lieb' und Sehnsucht meine Seele spalten.“
Sahira drehte sich um und verschmolz mit dem Wald.
Garvey schwindelte, als ein Schmerz seine Brust zerriss, und er konnte Avanna nicht länger halten. Er fiel.
„Bleib!“, flehte Avanna, und er kroch durch den Schlamm zu ihr, spürte, dass etwas langsam seine Glieder lähmte. Es war nur ein kurzes Stück bis zu Avanna, aber Garvey erschien es, als hätte er nie einen längere Strecke bewältigt. Endlich lag er neben ihr.
Das Schlimmste war, dass sie sich nicht mehr berühren konnten, keinen Trost in der Umarmung des anderen fanden, als wären sie schon tot. Wie Statuen ruhten sie nebeneinander, doch sie streichelten sich mit ihren Blicken.
Garvey erkannte, dass das Licht in ihren grünen Augen schwächer wurde, sah ihr rotblondes Haar in den Sonnenstrahlen aufleuchten und, wie ihre Wangen bleicher wurden. Er wusste, es blieb nicht mehr vie Zeit. Mit letzter Kraft erzählte er Avanna von dem Fluch.
Sie flüsterte etwas, aber er konnte es nicht verstehen.
„Was sagst du?“
Er horchte angestrengt, versuchte ihre Stimme aus allen anderen Geräuschen herauszufiltern und endlich verstand er: „Baum.“ Avanna lächelte unter Tränen. „Wiederkehr!“
Und Garvey begriff.
Sie starb nur wenige Sekunden vor ihm. Er ließ ihr Gesicht währenddessen nicht aus den Augen, hielt sich bis zuletzt an ihrem Blick und dem Lächeln ihres Mundes fest und las ihre letzten eindringliche Worte mehr von ihren Lippen, als dass er sie hörte: „Seelenbaum … ich warte.“
Dann ließ sie ihn zurück und Garvey lauschte dem Gesang der Bengalivögel in den Zweigen der Seelenbäume über ihren Köpfen.
Er hatte keine Angst vor dem Tode, denn sie würde da sein. Und sie würden einander erkennen, trotz des Fluches.
Bei diesem Gedanken lächelte Garvey. Er spürte nicht mehr, wie ihrer beider Körper im Moor versanken. Ganz langsam.
Bis es sie endgültig verschluckte.

Normalerweise standen die Seelenbäume weiträumig, jeder für sich, im Morast. Es war nie anders gewesen. Seit jenem Tag waren nur wenige dazugekommen, doch ein ungewöhnliches Exemplare stach sofort heraus, denn diese Phänomen gab es bei Seelenbäumen sonst nicht.
Es war ein Zwillingsbaum – entstanden aus zwei miteinander verwachsenen Bäumen. Der eine bullig und kräftig, das Gegenstück kleiner, zierlicher, beinahe weiblich anmutend. Aneinander geschmiegt und miteinander verschmolzen standen sie da.
Die Blätter des Baumes schienen unruhig miteinander zu flüstern und als eine Gestalt an das Ufer des Sees trat, erbebte der Stamm und die Bengalis in seinen Zweigen verstummten erschrocken.
„Ich hätte es wissen müssen.“ Sahiras Stimme troff vor Gehässigkeit. „Du hast also einen Weg gefunden, Avanna. Eure menschlichen Seelen hätten einander nicht erkannt, konnten nicht zusammen sein. Aber als Bäume …“
Das Laub des Zwillingsbaumes hing wie tot an den Ästen. Sahira lachte. „Das wird euch nichts nützen. Ich komme wieder. Und diesmal wird es nicht Jahre dauern.“
Es verstrich nur ein Tag und sie brachte einige kräftige Baumfäller mit. Sahira stand vor dem Zwillingsbaum und liebkoste die Rinde des kraftvolleren Teilstammes.
„Gewöhne dich daran, mein Liebster. Von jetzt an wirst du öfter meine Zärtlichkeiten genießen“, flüsterte sie.
Dann wandte sie sich an einen der Männer. „Der linke Teil des Baumes wird gefällt und zu Brennholz verarbeitet. Den rechten Stamm werdet ihr unbeschadet lassen. Grabt den Baum aus, lasst großzügig Erde um die Wurzel und bringt ihn zu Aedvin. Lebend.“
„Dem Schmied?“, fragte der Mann.
„Nein, nicht dem Schmied. Dem Instrumentenbauer. Er soll aus dem lebendigen Baum eine Harfe fertigen. Eine schöne, große Harfe.“
Der Baumfäller nickte, und tat wie ihm geheißen.
Die Männer hatten schon unzählige Bäume gefällt, aber noch nie war es unheimlich gewesen wie bei diesem. Als sich ihre Äxte in das Fleisch des Baumes fraßen, ächzte er unter den Hieben. Blätter lösten sich und rieselten zur Erde. Wie grüner Schnee. Aus dem Einschlagloch sickerte bernsteinfarbener Baumsaft und floss an der Rinde herab. Es sah beinahe aus, als würde der Baum bluten.
Mit einem letzten Seufzen und zitterndem Stamm ging der Baum zu Boden, wo ihn die Baumfäller zerlegten. Während sein Zwilling zu versuchen schien, die Zweige nach ihm auszustrecken, verließ die Seele den holzigen Körper.
Zur gleichen Zeit schenkte eine Frau im Dorf ihrem ersten Kind das Leben, das genau in diesem Augenblick seinen allerersten Atemzug tat. Sie gab dem Mädchen den Namen Vasariah.
Am selben Tag wurde aus dem noch lebenden Seelenbaum eine mannshohe Harfe für die Magierin Sahira gefertigt, die sie erst kurz vor ihrem Tod an einen fahrenden Händler verhökerte.

Vasariah streifte über den Markt und genoss das laute, bunte Treiben. Sie ging eben an einem Stand mit Musikinstrumenten vorbei, als sie glaubte eine Stimme zu hören.
Avanna …
Das klang eigenartig vertraut. Sie blieb stehen, vernahm das Gezeter der Marktweiber, das laute Rufen der Händler und das Lärmen einiger Kinder. Sonst nichts.
Gerade wollte sie ihren Weg fortsetzten, als sie die Harfe sah. Sie war groß, nach elfischer Art geschnitzt und wunderschön. Sanft glitt ihre Hand über das honigfarbene Holz des Seelenbaumes und zuckte zurück. Glatt fühlte es sich an. Warm und irgendwie … wesenhaft. Sie zupfte versuchsweise an den Saiten. Der Klang war vollkommen.
„Bitte!“, fragte sie den Händler. „Darf ich zur Probe darauf spielen?“
Der Mann war freundlich und brachte ihr einen Stuhl und sie griff nach dem Instrument. Beinahe kam es ihr vor, als ob das Harfenholz lebendig wäre und ihre Berührung erwiderte.
Wie von selbst glitten ihre Hände über die Saiten und beschworen eine Melodie, die sie in eine andere Welt führte. Für einen Moment meinte sie, sie wäre in den prachtvollen Wäldern Tiesins. Die Töne hörten sich beinahe so an, als würden Bengalivögel singen. Und sie musste an braune Augen denken. An braune Augen in einem markanten Männergesicht. Dunkles, lockiges Haar …
Der Applaus des Händlers holte sie aus ihrer Gedankenwelt.
„Es ist“, behauptete der Mann „als sei dieses Instrument für Euch gemacht!“
Sie kaufte die Harfe und konnte es kaum erwarten, dass sie ihr ins Haus gebracht wurde. Als es so weit war, hatte sie das eigenartige Gefühl, dass ein lang vermisster, geliebter Mensch heimgekehrt wäre.
An diesem Abend spielte sie ganz für sich allein. Nach einiger Zeit spürte Vasariah leichte Veränderungen in ihrer Wahrnehmung und geriet, begleitet von heftigen Schweißausbrüchen, in einen tiefen Trancezustand. Sie konnte sich zuerst nicht auf das konzentrieren, was sie sah, denn es stellte sich ein starkes Gefühl körperlicher Wahrnehmungen ein, die alles andere verdrängten.
In dem einen Moment dachte sie, ihr sei noch nie in ihrem Leben so deutlich bewusst gewesen, dass sie einen Körper besaß. Doch schon im nächsten Augenblick hatte sie auf einmal den Eindruck, gar keinen Körper mehr zu haben, nur noch Geist zu sein. Das Zimmer, in dem sie saß, hätte bloß die Größe einer Nussschale oder die Dimensionen eines ganzen Universums umfassen können. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Dann überwältigten sie Visionen. Vasariah stand im Wald von Tiesin, tiefer, als je ein Mensch gewesen war. An einem Platz, der so nicht mehr existierte.
Sie erlebte ihr Wachsen, ihren Kampf um Sonnenlicht, um das sie mit den anderen Pflanzen wetteiferte. Sie sah ihre Wurzeln im Morast und einen zweiten Baum neben sich. Nah. Ganz nah, und irgendwann berührten sich ihre Äste und Stämme. Sacht, dann, als sie die innewohnende Seele erkannte, drängender, bis sie schließlich miteinander verwuchsen.
Sie sah noch andere Lebewesen. Weiße Äffchen und winzige, nachtblaue Bengalivögel. Ihre goldenen Sternenaugen leuchteten und mit ihrem herrlichen Gesang übertrafen sie sich gegenseitig. Sie sah die Pracht des bunten Waldes, die darauf gründete, dass alles wachsen, gedeihen, sich vermehren sollte und nicht auf ewig unterging. Auch sie gedieh mit den Tieren, Pflanzen und Bäumen.
Und sie war nicht allein.
Langsam führten sie die Harfenklänge in die Wirklichkeit zurück.
Seitdem begann das Spiel jeden Tag von neuem …

Erst herrscht Stille.
Dann erfüllen die betörenden Klänge ihrer Harfe die Luft. Ein Mann schwebt, wie ein schöner Engel, auf Wolken aus Musik durch den Raum: luftig, leicht und fluoreszierend. Ein sehnsüchtiges Lächeln huscht über seine Züge, als er seine Hände nach Vasariah ausstreckt und sich bemüht sie zu berühren.
Vergeblich.
Wie immer gleiten seine substanzlosen Hände durch ihren Körper hindurch und seine Worte erreichen ihr Gehör nicht.
Aber sie schaut ihn an und er wünscht sich, ihre Musik hätte genug Magie um die Zeit rückwärts laufen zu lassen. Doch alles, was ihm bleibt, sind die Töne, die sie nur für ihn und sich selbst spielt und mit denen er in ihrem Geist verschüttete Erinnerungen zum Leben erweckt. Er kann nicht hinnehmen, dass sie alles, dass sie ihn vergessen hat.
Die Melodie gleitet durch den Raum und kurz darauf scheint Vasariah an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit zu sein. Wiederererkennen spiegelt sich in ihren Augen, als sie sich mit entrücktem Gesicht umschaut …