Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Kinder

Das Licht im Dunkeln

 „Das ist doch Unsinn!“, sagt Papa jedes Mal zu Mama, bevor er zur Nachtschicht fährt. „Man braucht keine Angst im Dunkeln zu haben.“
Tim versteht nicht, dass Paps sich nicht vorstellen kann, wie es ist, Angst im Dunkeln zu haben. Er muss an die Jacke denken, die in seinem Zimmer an einem Haken neben der Tür hängt und im Dunkeln wie eine zerzauste Hexe aussieht – im Hellen aber bloß ein ganz normaler Anorak mit Fellkapuze ist.
Tim weiß, dass man sich auf finsteren Dachböden, im Treppenhaus, wenn das Licht ausgeht, oder im dunklen Keller fürchten kann. Vielleicht vor Monstern oder unheimlichen Geräuschen - auch, wenn da gar nichts ist. Und Angst im Dunkeln kann man auch als Erwachsener haben, findet Tim ... (WEITER)

„Schlaft gut. Bis morgen früh.“ Paps gibt Mama und Tim immer einen Kuss, bevor er zum Dienst fährt.
Wenn er weg ist, holt Tim manchmal ein Buch und Mama und er lesen zusammen. Oder sie schauen sich etwas im Fernsehen an, am liebsten Spongebob Schwammkopf.
Doch heute Abend nicht, denn Tim hat etwas Wichtiges vor. Darum murmelt er „Bis später“, hängt das Schild „Bitte nicht stören“ an die Klinke und macht die Tür zu seinem Zimmer zu.
Er holt das große Honigglas aus der Kommode, das er aus dem Altglas genommen und sauber gespült hat. Von dem Papieretikett  mit den Bienen und Blumen ist nichts mehr übrig. Vorsichtig stellt Tim das Glas auf seinen Schreibtisch.
Rasch kramt er hell- und dunkelblaues Transparentpapier, Klebstoff, einen Bleistift, Goldfolie und die Bastelschere hervor.
Tim reißt das Transparentpapier in Schnipsel, danach nimmt er den Klebstoff und kleistert das Honigglas ringsum ein. Er klebt die blauen Papierfetzen darauf und freut sich, dass sie so gut pappen bleiben. Bald ist das Glas ganz mit den Schnipseln bedeckt und er stellt es zum Trockenen auf die Fensterbank.
Nun zeichnet Tim Sterne und einen runden Mond auf die goldene Folie, schneidet sie sorgfältig aus und klebt alle auf das blaue Glas. Dabei  achtet er darauf, dass sie schön gleichmäßig verteilt sind.
Als er fertig ist, sieht das Honigglas wie der Sternenhimmel aus. Tim grinst vor sich hin und nimmt aus der Schublade das elektrische Teelicht, das Paps ihm aus der Stadt mitgebracht hat. Er schaltet es ein. Das gelbe Glühbirnchen flackert wie eine echte Flamme. Zufrieden stellt er es in das Glas und staunt: Wunderschön sieht das aus, die Sterne glitzern sogar!

Leise tappt er über den Korridor. Im Wohnzimmer ist alles still und dunkel, aber im Schlafzimmer brennt noch Licht.
Mama zuckt zusammen, als Tim plötzlich in der Tür steht. „Ach, du bist es!“, sagt sie und sieht ein bisschen erschrocken aus. „Was versteckst du denn da hinter deinem Rücken, Timmy?“
„Mach die Augen zu, ich habe eine Überraschung für dich!“, antwortet er.
Sie tut es, und als Tim sicher ist, dass Mama nichts mehr sieht, stellt er das Glas auf ihren Nachttisch  und ruft: „Jetzt darfst du gucken!“
Mamas Augen werden groß und rund. Dann lacht sie.
 „Das ist ein Sternenhimmelnachtlicht“, erklärt Tim, „damit du im Dunkeln keine Angst mehr zu haben brauchst.“
Mama nimmt das Glas in die Hände und betrachtet es von allen Seiten. Das kleine Lämpchen verströmt ein warmes Licht. „Es ist wunderschön“, flüstert sie und stellt es wieder zurück.
Dann nimmt sie Tim in den Arm und gibt ihm einen dicken Kuss. Und noch einen ... noch einen ... und noch einen ...

Später in der Nacht, als Tim wach wird, weil er zur Toilette muss, schaut er noch einmal ins Schlafzimmer. Das Sternenhimmelnachtlicht leuchtet. Und Mama? Sie schläft tief und fest.
Froh geht Tim in sein Bett zurück und macht die Nachttischlampe aus. Es sieht aus, als ob neben der Tür eine Hexe mit zerzausten Haaren steht – aber Timmy hat keine Angst. Er weiß, dass es nur sein Anorak mit der  Fellkapuze ist.