Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Kinder

Der Mondkobold

Als ich aus der Schule nach Hause kam und gerade meine Jacke aufhing, rief meine Schwester Marthe von oben: „Beeil dich, Sofie! Da sitzt irgendwas in Trudis Körbchen!“
Trudi war unsere schwarze Katze.
Ich ließ den Tornister stehen und rannte die Treppe hoch in unser Zimmer. Trudi lag schnurrend in ihrem Korb. Weiter war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Erst als ich die Katze streichelte, bemerkte ich ein Glänzen.
„Was ist das?“, fragte ich. Wir beugten uns über den Korb und entdeckten ein Männlein mit silbernen Haaren, bleicher Haut und spitzen Ohren, das sich zitternd in Trudis Fell kuschelte.
„Ein Mondkobold“, flüsterte Marthe. „Er sieht unheimlich aus!“
Es war tatsächlich ein Mondkobold, der uns aus großen honigfarbenen Augen anstarrte. Unheimlich fand ich ihn nicht. Es schaute eher aus, als ob er frieren würde, denn er war nackt.
„Ihm ist kalt, Marthe!“
Meine Schwester zog den Puppenkoffer unterm Bett hervor, kramte eine blaue Hose und einen roten Pullover heraus und hielt dem Kobold beides hin.
Der gab keinen Mucks von sich, schaute nur auf die Sachen. Dann streckte er vorsichtig die dünnen Finger aus, nahm die Kleider und verkroch sich. Als er wieder hervorkam, war er angezogen. Marthe klatschte begeistert in die Hände und lachte. Ich glaube, das gefiel ihm, denn er lächelte.
Unsere Katze schien sich über den Kobold nicht zu wundern, leckte ihm sogar zärtlich das Köpfchen. Überhaupt verstanden die beiden sich sehr gut. Wenn Trudi draußen ihre Nachtspaziergänge unternahm, war das Kerlchen immer dabei, denn wie alle Mondkobolde wanderte er gern im Mondlicht umher.
Manchmal schauten Marthe und ich heimlich aus dem Fenster, dann konnten wir seine Augen in der Dunkelheit leuchten sehen, genau wie Trudis. Und obwohl er nie ein Wort redete, hörten wir ihn in einer fremden Sprache singen. Er hatte eine wundervolle Stimme. „Wie ein Engel“, raunte ich Marthe zu.
Wenn wir nicht einschlafen konnten, stellte der Kobold sich auf den Nachttisch, blies die Backen auf und pustete. Dann schwebten aus seinem Mund unzählige bunt glitzernde Sternchen, die durchs Zimmer wirbelten und warm auf uns herabregneten. Sie hüllten uns ein, machten uns schläfrig und schenkten uns die schönsten Träume.
Morgens kitzelte er uns so lange unter den Fußsohlen, bis wir kreischend aufwachten und aus den Betten sprangen. Dann lachte er laut und vollführte einen wilden Tanz, bevor er in den Katzenkorb kroch.
Dort schlummerte er den ganzen Tag. Erst wenn die Sonne unterging, kam er wieder hervor, um unsere Topfblumen zu essen und Dinge zu sammeln. Er liebte alles, was glänzte: Löffel, Schlüssel, Glasmurmeln, Alufolie, Broschen und seltsamerweise Glühbirnen – alles verschwand.
Marthe und ich mussten oft stundenlang suchen, bis wir seine Verstecke fanden. Einmal lag alles in Marthes Schuhen, ein anderes Mal in meinem Turnbeutel oder es steckte hinter der Kommode.
Wenn wir ihm die Sachen wegnahmen, wurde er böse und zerraufte uns nachts das Haar, während wir schliefen. Am Morgen sah es aus, als hätten wir Vogelnester auf den Köpfen. Es ziepte furchtbar beim Kämmen und der Kobold kicherte jedes Mal, wenn er uns jammern hörte.
Er lachte gern, und doch hockte er manchmal still in einer Ecke und sah traurig aus.
Irgendwann in einer mondhellen Nacht kletterte er auf Marthes Bett und küsste sie auf die Nasespitze, bevor er zu mir kam.
Sacht legte er mir eine Hand auf die Wange und dann sagte er zum allerersten Mal etwas: „Navaer“, wisperte er in seiner geheimnisvollen Sprache, und ich wusste, es hieß „Leb wohl.“ Tränen kullerten über sein Gesicht.
Er sprang auf den Boden und ging zögernd hinaus, ganz allein, ohne Trudi. Dann wanderte er den Gartenweg entlang, hinaus auf die Wiese, weiter und weiter, dem Vollmond entgegen. Bald konnte ich nur noch ganz leise hören, dass er sang. Es klang, als sei er glücklich, und darüber war ich froh – trotzdem drückte ich später mein Gesicht ins Kissen und weinte um unseren Mondkobold mit den silbernen Haaren.

Zu lesen in der aktuellen Anthologie „Immer diese Kobolde!“, erschienen beim Wurdack-Verlag. www.wurdackverlag.de