Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Weihnachtsgeschichten

Das  GeistchenDas Geitchen der Weihnacht

Es waren nur noch wenige Tage bis zum Heiligen Abend.
Im Wihenforst hatte der Förster die gut gefüllten Krippen aufgestellt. Die sonst munteren Bäche schlummerten unter silbernem Eis und die Äste der Tannen und Bäume lagen unter einer Schneedecke. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Dicke Flocken taumelten sanft zur Erde.
Tim Vollmer genoss die Stille und wanderte durch den knirschenden Schnee, als er plötzlich ein Zischen hörte. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, als etwas mit wahnsinniger Geschwindigkeit durch die Luft sauste, ihn knapp verfehlte und in einer Schneewehe direkt vor ihm einschlug, fast wie ein Meteorit.
Pulverschnee wurde aufgewirbelt und hüllte Tim ein wie ein Mottenschwarm. Ein paar Vögel flatterten erschrocken aus dem Dickicht und flogen schimpfend davon.
Verwirrt schaute Tim um sich. Einen Moment lang glaubte er, dass jemand einen Schneeball nach ihm geworfen hatte, aber nein, dafür war es viel zu schnell gewesen und zu hart gelandet ... (WEITER)
Vorsichtig ging er näher und sah ein Männlein aus dem Einschlagkrater kriechen. Es rappelte sich auf, hustete und klopfte sorgfältig den Schnee von einem blauen Mantel. Danach strahlte es Tim an. „Hallo!“
Tim sagte nichts, starrte das kleine Wesen mit den spitzen Ohren, dem Nektarinengesicht und den himmelblauen Haaren einfach nur an.
„Heute ist dein Glückstag“, plapperte es munter. Dann warf es sicht stolz in die magere Brust. „Denn ich bin ein Wünschwas.“
Tims Augen verengten sich zu argwöhnischen Schlitzen. „Was ist das hier? Ein Spaß mit versteckter Kamera?“
„Kamera? Wieso Kamera?“, fragte der Wicht. „Verstehe ich nicht. Ich bin bloß ein Wünschwas und das bedeutet, dass du einen Wunsch frei hast. Einfach so, weil du mir begegnet bist.“
„Wie im Märchen?“
Das Wünschwas nickte. „Wie im Märchen.“
„Weshalb?“, wollte Tim misstrauisch wissen.
„Weil das die Regeln sind, an die unsereiner sich zu halten hat: Wenn ein Mensch einem Wünschwas begegnet, dann hat er einen Wunsch frei.“
„Ganz egal, was ich mir wünsche?“
„Ja, völlig gleichgültig!“ Das Wünschwas hörte sich ein wenig großspurig an.
Jetzt lachte Tim. Er wusste ganz genau, wie sein Wunsch lautete. Schon immer hatte er sich gewundert, warum in Sagen und Geschichten nie jemand darauf gekommen war: Er würde sich unendlich viele Wünsche wünschen!
„Gut, wenn das so ist, dann …“
„Entschuldige bitte!“, blökte das Wünschwas dazwischen. „Natürlich gilt das alles nur innerhalb der allgemein geltenden Wunderregeln für Fabelwesen und Sagengestalten, Zauberer, Feen, Hexen, Kobolde, Elfen, Engel und Wünschwasse. Und die besagen, dass du dir nicht unendlich viele Wünsche wünschen kannst. Artikel 1, Absatz 2.Tust du es doch, so vermag ich diese nicht zu erfüllen, denn das übersteigt meine Fähigkeiten. Leider.“ Es räusperte sich verlegen und wich Tims Blick aus.
„Ach?“
Das Wünschwas nickte bedauernd, fegte Schnee von einem Baustumpf und setzte sich.
„Aber sonst geht alles?“, wollte Tim wissen.
„Natürlich. Das sagte ich doch schon!“
Tim schnaubte verächtlich.
„Außer die Sache mit den Gefühlen“, gab das Wünschwas kleinlaut zu. „Ich kann nicht die Gefühle der Menschen verändern. Ich kann schlechte Menschen nicht gut machen oder eine Frau dazu bringen, dass sie dich liebt.“
„Und was noch nicht?“
„Ich kann nichts Böses tun oder jemandem Schaden zufügen“, flüsterte das Wünschwas. „Eingriffe in die Zeit sind auch tabu. Ich kann dir weder ewiges Leben noch unvergängliche Jugend schenken, keine Toten erwecken oder Wunderheilungen vornehmen. Dir die Macht zu geben, andere Menschen zu beherrschen oder ihre Gedanken zu lesen, ist ebenfalls unmöglich. Unsichtbarmachung und die Verleihung von Flugfähigkeiten sind verboten. Ebenso kann ich dir keine Unverwundbarkeit schenken und keine magischen Kräfte …“ Nun war das Wünschwas kaum noch zu verstehen, so leise haspelte es die Sätze herunter.
Tim schwieg.
Das Männlein errötete. „Aber immerhin“, meinte es. „Immerhin bleibt dir ein Wunsch!“
Tim seufzte. „Also gut“, lenkte er ein. „Ein stark eingeschränkter Wunsch. Der will sorgfältig durchdacht sein. Wie wäre es mit Geld? Viel Geld?“
Das Wesen lachte schallend. „Das ist überhaupt kein Problem, allerdings auch nicht sehr originell, oder? Wundert es dich, wenn ich dir sage, dass sich jeder Reichtum wünscht? Einfach jeder! Man wird heutzutage magisch kaum noch gefordert. Dabei gibt es doch Dinge, die viel wichtiger im Leben sind. Aber gut - es soll so sein. Also mach schon und wünsche es dir, damit ich es hinter mir habe.“
Das Männchen stellte sich auf den Baumstumpf, zog einen silbernen Stab aus der Manteltasche und hob die Ärmchen in die Luft wie ein Zauberer.
„Was ist verkehrt an Geld?“, fragte Tim kleinlaut, und fühlte sich irgendwie schuftig.
„Nichts“, erwiderte das Wünschwas verächtlich und ließ die Arme sinken. „Gar nichts. Aber Geld allein macht nicht glücklich. Schließlich kann man sich die wirklich wichtigen Dinge nicht kaufen!“
 „Nun, wünschen kann man sie sich offensichtlich auch nicht“; entgegnete Tim sarkastisch.
Darauf sagte das Männlein lieber nichts, sondern pfiff nur verlegen `O du fröhliche, o du selige´ vor sich hin.
Ob es an dem Lied lag oder etwas anderem, hätte Tim nicht sagen können. Jedenfalls kam er ins Grübeln, was er sich denn Gescheites wünschen könnte.
Einen Ferrari? Ein Haus? Oderkünstlerische Fähigkeiten? Ja, er wollte schon immer gerne Geschichten schreiben, Autor werden. Das war`s!
„Ich möchte gerne ein berühmter Schriftsteller sein. Meinst du, das könnte ich mir wünschen?“
„Selbstverständlich, da sehe ich keinerlei Schwierigkeiten!“, krähte das Männchen vergnügt. „Das ist sogar ein ausgezeichneter Einfall! Du wirst weltbekannt, wahrscheinlich sogar reich!“ Es zwinkerte ihm zu und kicherte glucksend. „Und niemand wird wissen, dass dein Erfolg absolut nichts mit deinem Talent zu tun hat. Außer dir natürlich! Soll ich jetzt …?“
„Nein! Warte.“
Tim begann sich zu fragen, ob es tatsächlich so ein Glück war, dass er das Wünschwas getroffen hatte. Allmählich war sein sehnlichster Wunsch, dass sich das Wünschwas in Luft auflöste.
Aber er hatte so eine Ahnung, dass er es nicht wegschicken konnte, ohne diesen vermaledeiten Wunsch getan zu haben. Wahrscheinlich war das in irgendeiner sonderbaren Regel genauestens festgelegt, unter Artikel soundso, Absatz irgendwas. Also musste ihm etwas halbwegs Vernünftiges einfallen, mit dem das Männlein zufrieden war. Und er. Wenigstens ein bisschen! So könnte er sich das Wünschwas vom Halse schaffen
Diese Aussicht heiterte Tim ein bisschen auf.
Es schneite heftiger und ihm wurde kalt. Er trat auf der Stelle, um wieder warm zu werden. Dann kam ihm endlich eine Idee.
„Wie wäre es, wenn ich den Wunsch verschiebe? Ich könnte wieder herkommen und dich rufen, wenn mir etwas eingefallen ist.“
„Vergiss es!“ Das Männlein winkte ab. „ Artikel 5, Absatz 7 A und B besagt, dass Wünsche weder aufschiebbar noch übertragbar sind.
Nun hatte Tim wirklich die Nase voll!
Er wollte nur noch nach Hause, sich ein Kaminfeuer anzünden und die Füße wärmen. Er wollte die Weihnachtskarten schreiben und Geschenke einpacken, über ein Festmahl nachdenken und in Ruhe und Frieden ein paar gemütliche Tage mit seiner Frau und den Kindern verbringen. Den Alltag vergessen, Freunde treffen und einfach den Zauber der Weihnacht in vollen Zügen genießen, nur für diese kurze Zeit nicht daran denken, wie die Welt wirklich aussah, um neue Kräfte zu schöpfen.
„Ich wünsche mir für mich, meine Familie und Freunde wunschlos glückliche Weihnachtstage, die wir gemeinsam verleben“, sagte er endlich.
Und da gab es einen so furchtbaren Knall, dass ihm beinahe der Herzschlag aussetzte.
„So soll es sein!“, rief das Wünschwas und hüllte sich in eine Wolke aus Schnee und Nebel, in der es verschwand.
Dann war es wieder still.
„Wahrscheinlich sucht es sich ein neues Opfer“, murmelte Tim und empfand tiefes Mitleid mit dieser Person. Er machte sich auf den Heimweg und begann leise vor sich hinzusummen.
Doch Tim irrte sich, was das Wünschwas anging. Kaum war er gegangen, kam das Wesen hinter einer große Tanne wieder zum Vorschein. Es zupfte seinen Mantel zurecht und streckte ein Paar strahlendweißer Flügel hervor.
„Feierabend für heute!“, sagte es zufrieden.
Eine winzige Flaumfeder löste sich und schwebte zu Boden, als das Geistchen der Weihnacht seine Flügel spannte und in den Himmel stieg.
Es wird doch jedes Jahr schwieriger, den Menschen etwas Vorfreude, Besinnlichkeit und Nächstenlieben einzubläuen, dachte das Weihnachtsgeistchen bei sich. Aber die Masche mit dem Wünschwas, die läuft ziemlich gut. Es lachte in sich hinein, als es von unten Tim hörte, der gerade lauthals die erste Strophe eines Weihnachtliedes sang:
„O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging veroren, Christ ist geboren:
Freue, freue dich o Christenheit!“