Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Weihnachtsgeschichten

Der Engel im Heuhaufen

Eigentlich fand Jonas, dass Fyn zu nichts zu gebrauchen war.
Er hatte eine Glatze. Außerdem lag er nur da und schlief. Oder schrie. Flugs kam Mama angelaufen, nahm Fyn aus dem Bettchen und drückte ihn Jonas in den Arm. Und dann passierte was Komisches: Das Baby griff nach Jonas Nase und lachte laut und zufrieden. Wenn er lachte, meinte Jonas, dass Fyn doch ein ganz besonderes Brüderchen  sei, weil das Gejauchze ihn froh machte.
 „Ein Glück, dass ich dich habe, mein Großer“, sagte Mama in solchen Momenten und strich ihm über den Kopf. „Du bist ein toller Bruder und Fyn spürt das.“
Jonas wurde jedes Mal ganz warm ums Herz, wenn Mama das sagte. Er fühlte, dass er Fyn richtig lieb hatte. Auch wenn der Kleine eigentlich zu nichts zu gebrauchen war und er nicht mit ihm spielen konnte. Aber dafür hatte er ja Christopher, seinen allerbesten Freund.
„Bekommt Fyn auch ein Weihnachtsgeschenk?“, fragte Christopher, als er Jonas zur Schule abholte. „Ich meine, weil er doch noch so klein ist.“
Jonas nickte. „Natürlich“, antwortete er und zog seine warme Jacke an. „Alle Kinder bekommen Weihnachtsgeschenke.“
Heute machten sich die Freunde etwas eher auf den Schulweg, denn in der Nacht hatte es geschneit und sie wollten sich mit Schneebällen bewerfen. (WEITER)
Im Dezember ging Jonas besonders gern zur Schule. Vorn auf dem Lehrerpult stand ein großer Adventskranz und an der Wand hing ein selbstgemachter Adventskalender mit vierundzwanzig kleinen Überraschungen. Ein paar Tage vor dem ersten Dezember schrieb jeder seinen Namen auf einen Zettel und Frau Graf, die Klassenlehrerin, sammelte sie in einem Kistchen ein. Danach griff sie mit geschlossenen Augen hinein und zog ein gefaltetes Papierchen nach dem anderen heraus.
Den ersten Namen schrieb sie auf das erste Törchen des Adventskalenders und dann der Reihe nach die folgenden. Da sie nur dreiundzwanzig Kinder waren, bekam Frau Graf auch ein Türchen. Sie nahm immer die Nummer dreizehn, weil das eine Unglückszahl ist und sie nicht wollte, dass einer ihrer Schüler Pech hatte. Sie zwinkerte mit den Augen und sagte: „Ich möchte doch nicht , dass irgendein Unglücksgrabe  in der letzten Klassenarbeit vor den Ferien eine Fünf schreibt!“ Dabei wussten alle in der Klasse, dass Frau Graf vor Weihnachten nie eine Arbeit schrieb.
Im Kunstunterricht bastelten die Kinder Schneemänner, Tannenbäume und Sterne aus buntem Papier und schmückten die Fenster damit. Alle fanden, dass es besonders schön aussah.
Aber das war jedes Weihnachten so, dachte Jonas.
In der Adventszeit hatte Mama schrecklich viel zu tun. Jonas diesmal auch, denn er sollte im Krippenspiel der dritten Klasse der Josef sein. Anna mit den blonden Zöpfen, die so viel lachte und die jeder gerne hatte, spielte die Maria. Sein Freund Christopher freute sich riesig, dass er den Verkündigungsengel darstellen sollte. Dafür musste er auf eine Leiter steigen, damit es so aussah, als würde er über dem Stall von Bethlehem schweben. Er hätte gerne noch ein flammendes Schwert gehabt. Aber das erlaubte die Lehrerin nicht.
„Du bist der Verkündigungsengel, Christopher, kein Rachenengel“, hatte Frau Graf kopfschüttelnd gesagt. „Außerdem ist das viel zu gefährlich. Denk doch nur an das viele Stroh im Stall.“
Dann wollte Christopher wenigstens mit gewaltiger Stimme sprechen und  im Scheinwerferlicht stehen
Das fand die Lehrerin eine gute Idee.
Der Stall wurde auf Pappe gemalt und vor die Leiter gestellt. Außerdem türmten sie einen richtigen Strohhaufen auf, in den sie ein Plüschpferd und eine Stoffkuh setzten. Einen Esel und Ochsen konnten sie nicht auftreiben, aber dafür gab es eine echte Futterkrippe, die Frau Graf mitgebracht hatte.
Die Kinder konnten es kaum abwarten, bis endlich der dreiundzwanzigste Dezember war und die Eltern, Großeltern und Geschwister kamen, um das Theaterstück anzuschauen.
Die Zwillinge Peter und Paul spielten Hirten und zogen ein kleines Schaf auf Rädern hinter sich her. Max, Tom und Nils waren die heiligen drei Könige. Bei der letzten Probe malte Nils sein Gesicht ganz schwarz an, denn schließlich hatte Kaspar eine dunkle Haut.
Nils hellblondes Haar und die dunkle Farbe sahen lustig aus. Alle lachten, sogar die Lehrerin. Aber als Nils einen bunten Turban aufsetzte und seine Haare nicht mehr zu sehen waren, sah er genau wie Kaspar aus und die übrigen Schauspieler klatschen vor Begeisterung in die Hände.
Christoper brauchte nur einen Satz sagen: „Siehe, ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden!“
Jonas musste vier Sätze auswendig lernen: „Da vorn ist Bethlehem.“
„Habt ihr ein Zimmer für uns?“, und: „Was sollen wir tun?“
Dann: „Danke, dass wir in deinem Stall bleiben dürfen.“ Und zum Schluss sollte er sich zur Krippe hinunterbeugen, das Jesuskind herausnehmen und Maria in die Arme legen. Das Jesuskind war Annas Babypuppe.
Sie wickelten die Puppe in ein Tuch. Nur das Köpfchen und die Arme schauten ein bisschen hervor und es sah beinahe wie ein echtes Kind aus.
Endlich war der große Tag da! Christopher klingelte an Jonas Tür. Sie hatten es nicht weit zur Schule. Nur über die Straße und um die nächste Häuserecke. Auf dem Weg dorthin murmelten beide immer wieder ihre Texte vor sich hin.
„Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden!“
„Da vorn ist Bethlehem.“
„Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden!“
„Habt ihr ein Zimmer für uns?“
„Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden!“
„Was sollen wir tun?“
„Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden!“
Christopher stutzte, als der Freund seinen letzten Satz nicht sagte.
„Hast du deinen Text vergessen?“ Jonas schüttelte stumm den Kopf.
„Hast du Bammel vor der Aufführung?“
„Ich muss noch mal nach Hause“, meinte Jonas. Ehe Christopher antworten konnte, war er auch schon um die Ecke gerannt.
Er sah nicht mehr, wie Christopher verwundert den Kopf schüttelte und sich den Hirten Peter und Paul anschloss, die gerade mit ihrem Schaf vorbeikamen und ebenfalls ihre Sätze vor sich hinsagten.
Fünfzehn Minuten später kam Jonas außer Atem hinter der Bühne bei den anderen Darstellern an und grinste verschmitzt. „Danke, dass wir in deinem Stall bleiben dürfen“, sagte er seinen letzten Satz, während er sich rasch verkleidete.
Christopher hatte sich schon seine großen, goldenen Flügel über das lange, weiße Hemd gezogen und einen Stern auf dem Kopf. Stolz ging er auf und ab. „Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkündigen!“, dröhnte der Engel und da fiel der rechte Flügel ab.
Schnell befestigte Frau Graf ihn wieder.
Alle waren nervös. Die heiligen drei Könige waren ganz stumm vor Aufregung und die Hirten sagten immer wieder:
„Sieh doch, der Stern!“
Und: „Lass uns dem Stern folgen.“
Das Publikum setzte sich, es wurde still und der Chor sang: `Ihr Kinderlein kommet.`
Hinter dem Vorhang konnten sie den Applaus der Zuschauer hören.
Jonas und Anna wurde es ganz flau im Magen.
Als das Lied `Stille Nacht, heilige Nacht´ verklungen war, mussten Jonas und Anna hinaus.
Josef ging langsam mit Maria über die Bühne.
„Sind wir bald da, lieber Josef?“, fragte Maria.
„Da vorn ist Bethlehem.“
Josef klopfte an die erste Herberge: „Habt ihr ein Zimmer für uns?“
Der Wirt schüttelte den Kopf und Maria weinte, weil in keiner Herberge Platz für sie war und sie doch bald ihr Kind bekommen sollte.
Frau Graf gab Christopher ein Zeichen und er  kletterte flink die Leiter hinauf, stellte sich in Position und wartete auf seinen großen Auftritt.
Als Maria und Josef endlich an der Krippe saßen und die heiligen drei Könige und die Hirten eintrafen, riss Maria die Augen auf und starrte in die Krippe. Niemandem fiel das auf, denn in diesem Augenblick wurde der Strahler auf Christopher gerichtet. Der Verkündigungsengel breitete die Arme aus, schaute nach unten in den Stall und gab ein unverständliches Gurgeln von sich.
Ein paar Zuschauer lachten.
„Da ist ... “, schrie Christopher aufgeregt und fuchtelte so wild auf der Leiter herum, dass er runterfiel, direkt in den Heuhaufen, in dem er versank.
Der Lichtstrahl folgte ihm. Erschrocken sprangen die Leute von ihren Plätzen. Stuhlbeine quietschten über den Boden, aufgeregtes Stimmengemurmel wurde laut und um Heu raschelte es vernehmlich.
Als Christopher endlich aufstand, steckten Strohhalme in seinen Haaren und ein Flügel war abgeknickt. „Da ist ein ...“, begann er noch einmal atemlos, als plötzlich ein lautes, verzweifeltes Geschrei aus der Krippe zu hören war.
Josef, der das Gebrüll nur allzu gut kannte, wurde ganz rot im Gesicht. Hastig beugte er sich über die Krippe. Man sah zwei speckige Ärmchen aus dem Stroh ragen, die wütend durch die Luft fuchtelten.
Jonas nahm sein Brüderchen ganz vorsichtig auf den Arm. Fyn war augenblicklich still, griff nach seiner Nase und lachte.
Noch bevor Josef das Jesuskind in Marias Arme legen konnte, stand Mama plötzlich auf der Bühne und nahm ihm Fyn ab. Jonas sah, wie Papa im Zuschauerraum den Kopf schüttelte. Stimmengewirr war zu hören und alle starrten Jonas an, der sich unter den vielen Blicken ganz klein fühlte und anfing zu schwitzen.
Bis die Donnerstimme des Verkündigungsengels ihn aus der misslichen Lage erlöste: „Das war mal ein cooles Krippenspiel. Habt ihr gesehen? Ich bin sogar in echt geflogen!“
Und weil das Publikum noch immer herumstand und den armen Jonas anschaute, sagte Christopher rasch ein Gedicht auf, dass er in der ersten Klasse gelernt hat:
 „Engelchen tragen
an Weihnachtstagen
putz und munter
rauf und runter
drüber und drunter.
Engelchen tragen
an Weihnachstagen
Huckepack
Gabensack
Geschenkepack
Und manchmal - Holterdiepolter
fällt eins auf die Erde herunter.
Dann macht es laut: Bumm –
und der Engel guckt dumm
Bis er frohgemut schreit:
Fröhliche Weihnachtszeit!“
Der Engel verbeugte sich, der Stern rutschte ihm vom Kopf und der verbogene Flügel wackelte; aber der Bann war gebrochen. Die Erwachsenen applaudierten und lachten über den Verkündigungsengel im Heuhafen, der die Weihnachtsaufführung gerettet hatte.
Nur Jonas war ganz kleinlaut und stand allein in einer Ecke. Er wusste, dass es Zuhause noch Ärger geben würde, weil er hinter Omas Rücken das Baby aus dem Haus geschmuggelt hatte. Außerdem tat es ihm Leid, dass er den Auftritt seines besten Freundes verpatzt hatte. Bestimmt waren Christopher und alle anderen stocksauer auf ihn. Im Nachhinein fand er seine Idee gar nicht mehr so toll. Er fühlte sich dumm und nichtsnutzig. Dabei wollte er doch nur jedem zeigen, was für einen besonderes Brüderchen Fyn war.
Da knuffte jemand kräftig seine Schulter und als Jonas aufschaute, stand der Engel mit dem abgeknicktem Flügel vor ihm.
„Ich komme noch mit zu dir“, sagte er tröstend und grinste schief. „Wird schon nicht so schlimm werden!“
Als Jonas seinen Freund ansah, ging es ihm wie mit Fyn: Ihm wurde ganz warm uns Herz.