Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Weihnachtsgeschichten

Die Krippe

„Hör dir das an!“ Martin raschelte beim Frühstück aufgebracht mit der Zeitung: „Weihnachtsmenüs für Vierbeiner!“
Sabrina bemühte sich eine bestürzte Miene aufzusetzen.
„Vierbeiner!“, wiederholte er. „Sind Adventskalender für Haustiere nicht genug? Nein! Jetzt gibt es Kittyfit Festtagsmenü für die Katze, und Doggybells, das Festmahl für den Hund!“
„Bekommt Gandalf auch Kittyfit?“, fragte Tom hoffnungsvoll.
Martin betrachtete missbilligend den übergewichtigen Kater. „Selbstverständlich nicht!“, erklärte er. „Solche Albernheiten kommen mir nicht ins Haus! Überhaupt habe ich genug von dem Affentheater. An Weihnachten geht es doch nur noch um den Konsum.“
„Was ist Konsum, Paps?“
„Kaufen. Viel kaufen. Zu viel. Dinge, die man eigentlich nicht braucht. Alles dreht sich im Grunde ums Fressen …“
„Fressen sagt man nicht, Paps.“
„ ... ums Futtern und Trinken. Sankt Nikolaus wird zum Werbegag und Leuchtreklame dient als besinnliche Beleuchtung! Aber in meinem Haus soll es das nicht länger geben!“ Zur Bekräftigung schlug er mit der Faust auf den Tisch, sodass die vier Kerzenflammen im Adventsgesteck zuckten und Toms Orangensaft überschwappte.
„Ist das gut, wenn es das bei uns nicht mehr gibt?“, fragte Tom und malte mit dem Finger im Saft herum.
„Quatsch ist das“, erklärte seine Mutter, „ein Riesenquatsch. Paps steigert sich da in was rein.“
„Von wegen!“, rief Martin. „Mein Geld gebe ich lieber für einen Urlaub aus. Ab in die Sonne bei dem trüben Wetter! Jawohl, wir fliegen Lastminute auf die Kanaren!“
Sabrina schüttelte den Kopf.
„Mama, findet das Christkind Kanarien?“
„Natürlich, es ist schließlich das Christkind!“
„Kommt es auch dorthin, um mir Geschenke zu bringen?“
„Nein!“, erklärte Martin mit Bestimmtheit. „Es wird nicht auf die Kanaren kommen. Stattdessen werden wir am Strand Burgen bauen und Seeräuberschätze suchen!“
Tom fing an zu heulen. „Ich will aber das Christkind!“
„Du bekommst Sonnenschein und Piratenspiele, mein Sohn. Es wird dir gefallen!“ Martin hatte sich so richtig in Begeisterung geredet.
Tom sprang auf: „Aber übermorgen hat das Christkind Geburtstag. Es will, dass wir alle froh sind, nicht nur du.“ Er schniefte und schmiegte sich Trost suchend an seine Mutter.
„Jetzt habe ich aber genug von dem Unsinn. Hör zu Tom, es gibt gar kein …“
„Sei still“, fiel Sabrina ihm ins Wort. „Erstens übertreibst du maßlos, und zweitens kommst du zu spät ins Büro. Also beeil dich.“ WEITER
Selbstverständlich hatte Martin so kurzfristig keine Reise buchen können. Missmutig schaute er am Abend aus dem Küchenfenster.
Gegenüber blinkte ein Stern in sämtlichen Regenbogenfarben. Die Tanne in Müllers Garten war mit einer grellgrünen Lichterkette geschmückt. Kitschig wirkte das auf ihn, wenn auch nicht so schnulzig wie der überdimensionale Engel in Neonblau, dessen Licht zuckte wie das Blaulicht eines Polizeiwagens.
„Davon kriegt man ja Kopfschmerzen“, murmelte er verdrießlich und zog mit einem Ruck die Vorhänge zu. Er hatte den Anfang gemacht und sämtlichen Lichterschmuck aus den Fenstern entfernt, während Sabrina und Tom in der Küche mit Plätzchenbacken beschäftigt waren.
Es war nicht viel Arbeit gewesen, da Sabrina lediglich einen Lichterbogen in jedes Fenster stellte. Außer im Kinderzimmer. Dort gab es ein verschneites Weihnachtsdorf als Fensterbild und einen großen Stern.
„Wehe, du rührst das an“, schimpfte Sabrina, als sie die Bescherung sah.
Toms Augen glitzerten verräterisch, trotzdem weinte er nicht. „Raus aus meinem Zimmer“, nuschelte er und schloss die Tür hinter ihnen.
Eine Zeit lang hörte man ihn auf seiner Blockflöte „Stille Nacht“ üben. Dann wurde es still.

Am nächsten Vormittag fing es zu schneien an. Binnen kurzer Zeit lag alles unter einer dicken Schneedecke und Sabrina und Tom zogen mit dem Schlitten in die Hügel hinter dem Fuchswäldchen.
Ohne Martin. Sabrina hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihn zu fragen. Und das, obwohl sie genau wusste, wie gern er mit Tom im Schnee tollte! Zwei Stunden waren sie schon fort. Am liebsten würde er ihnen nachgehen.
Warum eigentlich nicht?, fragte er sich. Ich hole mir meinen Rodel aus dem Schuppen und dann geht es los!
Mit einem Schlag hatte er gute Laune. Rasch zog er seine dicke Jacke an, nahm Mütze und Handschuhe und stapfte durch die wirbelnden, glitzernden Flocken zum Schuppen.
Plötzlich stockte er. Hinter dem mit Eisblumen überzogenen Schuppenfenster sah er ein kleines Licht. Es glomm nur schwach und flackerte ein bisschen.
Vorsichtig öffnete Martin die Tür.
Das Licht war das winzige Glühbirnchen von Toms Laternenstock, den er gegen das Fensterbrett gelehnt hatte - direkt neben einen braun angemalten Schuhkarton. Über dem Karton schwebten an zwei Fäden ein plumper, gelber Knetgummiengel und ein Stern aus zerknittertem Goldpapier, der im Lichtschein schimmerte. Beides war mit reichlich Tesafilm am Fensterrahmen befestigt.
„Der Stall von Bethlehem“, flüsterte Michael.
In dem Karton standen zwei unförmige, schmutzigweiße Schafe aus Knetmasse, ebenso ein verformter Ochse mit Hörnern aus Zahnstochern und ein Esel ohne Schwanz.
Es gab auch einen lila Hirten, einen orangefarbenen und einen leuchtendroten König, die einen Fingerhut als Krone trugen, und einen schwarzen König, dessen Turban aus einem Fetzchen Tempotuch gefertigt war.
Neben der Futterkrippe, die aus einer Streichholzschachtel bestand und mit trockenem Gras gefüllt war, knieten eine hellblaue Maria und ein, grüner Josef. In der Krippe lag ein rundliches Baby, von dem Martin einen verwirrenden Moment lang glaubte, es würde sich bewegen.
Michael kniete sich hin, und nahm das blassrosa Jesuskind behutsam aus der Krippe. Da lag es in seiner hohlen Hand, und streckte ihm die zu kurzen Ärmchen entgegen.
Es spürte, dass es etwas ganz Besonderes war, anders als die anderen Figuren, feiner gearbeitet. Es duftete. Nicht stark, aber köstlich. Ein Geruch, der ihn an frischgebackene Weihnachtsplätzchen erinnerte.
Er schnupperte. „Mhm ...“
Es war aus der  Marzipanrohmasse für die Weihnachtstorte geformt. Vorsichtig legte er es ins Heu zurück und betrachtete noch einmal die liebevoll geformten Figürchen. Auf einmal lächelte er. Wie heiter und weihnachtlich dieser Stall war! Er fragte sich, wie er hatte vergessen können, was Weihnachten bedeutete. Er, und tausende anderer Menschen offenbar auch.
Tom hat es nicht vergessen, dachte er. Das Christkind hat Geburtstag. Und es will, dass wir alle froh sind ... Plötzlich schämte er sich
Er eilte über den Hof. Vor dem Haus traf er auf Sabrina und Tom, der mit vor Kälte geröteten Wangen und leuchtenden Augen auf seinem Schlitten saß und ihm zuwinkte.
„Gut, dass ihr kommt!“, rief er. „Da können wir zusammen den Tannenbaum besorgen und einkaufen. Für unser Weihnachtsessen.“
„Auch Kittyfit für Gandalf, Paps?“
„Ja, ich glaube, wir brauchen auch was Leckeres für den Kater.“
„Fliegen wir denn nicht nach Kanarien?“, fragte Sabrina, und zwinkerte ihm zu.
„Nein!“, lachte Martin.         „Nein, nicht wenn das Christkind Geburtstag hat.“

In der Nacht wälzte Tom sich unruhig in seinem Bett hin und her. Er träumte, das Christkind wäre aus der Krippe gefallen. Weinend lag es auf dem kalten Schuppenboden. Er fuhr aus dem Schlaf hoch. Leise zog er seine Stiefel an und schlich aus dem Haus ...

Am Morgen fanden Mama und Papa, das Wohnzimmer hätte noch nie so festlich ausgesehen wie mit der Schuhkartonkrippe unter dem Weihnachtsbaum, den bunten Figuren aus Knetgummi und dem Christkind aus Marzipan.