Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

Der EimerDer Eimer
An meinem ersten Arbeitstag hat meine Kollegin in eine Ecke gezeigt, auf ihn gedeutet und zu mir gesagt: „Schenke ihm keine Beachtung. Schau keinesfalls hinein. Der Raum ist ziemlich groß. Du musst ihn also nicht ansehen, du musst nichts sehen - außer den Kacheln, den OP-Tisch, den Maschinen und Schränken. Er geht uns nichts an, dafür sind andere zuständig. Denk dir einfach, er wäre nicht da, und wende ihm möglichst den Rücken zu - dann kann nichts passieren.“

Sie hat zu mir gesagt: „Am schlimmsten ist es, wenn du allein hier drinnen bist. Wenn du dann etwas hörst, ein Knistern, ein Rascheln - irgendein Geräusch - reagiere nicht darauf. Tu so, als wäre nichts gewesen.
Wenn die Laute hinter dir nicht auf aufhören, wirst du dich innerlich versteifen. Gegen deinen Willen wirst du in deiner Arbeit innehalten. Deine Hände umklammern den Wischmopp, du wirst mit angehaltenem Atem und dumpfem Herzschlag lauschen und möglicherweise nach mir rufen: ‚Bist du das?’ Deine Stimme wird brüchig sein, oder ein bisschen heiser, auf jeden Fall leise. ‚Bist du das?’
Du wirst keine Antwort bekommen.“

Sie hat zu mir gesagt: “Die Geräusche werden manchmal verstummen. Aber nur kurz, dann werden sie wieder da sein, so schwach, dass sie beinahe nicht zu vernehmen sind.
Sämtliche Härchen auf deinem Körper werden sich aufstellen. Du kannst spüren, wie das geschieht: ein Kitzeln auf der Haut, wie von fließendem Strom.
Deine Finger sind plötzlich wie erfroren und in deinem Nacken ist ein Kribbeln, das nicht nachlassen will. Deine Augen werden nervös hin und her schauen, deine Blicke immer wieder in seine Richtung huschen. Deine Stirn wird klebrig sein von Schweiß. Du schluckst, obwohl dein Mund und Hals so ausgedörrt sind, dass es nichts hinunterzuschlucken gibt.”

Sie hat zu mir gesagt: “Du wirst dich an jedes meiner Worte erinnern, jedes einzelne wird dir durch den Sinn gehen, du wirst sie abwägen, drehen und wenden … und nicht auf mich hören.
Du wirst den Wischmopp an den Putzwagen lehnen, deine Gummihandschuhe ausziehen und den silbrig glänzenden Edelstahlzylinder in der Ecke fixieren. Du wirst eventuell denken, dass der Müllsack in dem Eimer sehr schwarz ist, und unendlich langsam hinübergehen, zwischendurch stehen bleiben, horchen und dich fragen, ob die Folie des Kunststoffsacks wirklich geknistert hat.
Es wird sich anfühlen, als ob eine Fernsteuerung deinen Körper in Bewegung setzt, in die Ecke zwingt, unaufhaltsam auf ihn zu. Wenn das geschieht, wird es schrecklich für dich. Nein, nicht schrecklich … entsetzlich.”

Sie hat zu mir gesagt: “Letztendlich wirst du natürlich einen Blick in den Eimer werfen – und es bereuen. Zu spät, denn du kannst dich nicht mehr abwenden.
Dein Atem wird so schmerzhaft in deinem Brustkorb stecken bleiben, als hättest du dich an kaltem Wasser verschluckt. Deine Fäuste werden zu deinem Mund fahren um einen Schrei zu dämpfen und im gleichen Augenblick wirst du erkennen, dass du diesen Anblick nie wieder vergessen kannst.
Vielleicht wirst du weinen, vielleicht wirst du würgen oder einfach nur stumm dastehen und nicht wissen, wie lange du so dagestanden und sie angestarrt hast.”

Sie hat zu mir gesagt: “Du wirst möglicherweise an gekrümmte Erdnussflips denken.
Es sind so kleine Körper und Köpfchen … klitzeklein … winzige Zehen, Finger, bleiche Gesichtchen brandet es durch deinen Verstand – und unmittelbar danach: … sie leben noch. Sie leben!
Irgendwann, wenn sich nichts mehr rührt, wird sich dein Körper anfühlen, als wäre er aus kaltem, sprödem Holz geschnitzt. Du wirst versuchen, dich möglichst wenig zu bewegen und vor allem nicht zu denken. Du willst dich nicht fragen: ‚Warum?’
Doch du kannst nicht verhindern, dass es trotzdem geschieht.”

Sie hat zu mir gesagt: “Es liegt an den Methoden, die die Ärzte hier anwenden, dass manche von den Winzlingen lebend zur Welt kommen.
Ihre Herzen schlagen, sie atmen, und sie werden nicht getötet, weil das verboten ist – sie werden einfach weggeworfen. In diesen Eimer.
Sie kühlen aus, zwischen den anderen winzigen Körpern. Toten, kalten Körpern. Dabei suchen sie Wärme und den vertrauten Herzschlag ihrer Mutter. Deswegen winden sie sich … und der Müllsack knistert und raschelt und ihr Wimmern hört man manchmal stundenlang. Bis es endlich, endlich still wird!”

Sie hat zu mir gesagt: “Ich werde dich finden und schweigen lassen, bis du sagst: ‚Ich … ich gehe jetzt. Ich muss allein sein.’
Wenn du an diesem Tag nach Hause gehst, wirst du taumeln. Nicht viel, nur ein bisschen. Es wird mich an einen Vogel erinnern, der seinen schmerzenden, gebrochenen Flügel qualvoll nachzieht. Und genauso wird es sich auch anfühlen. Ich werde dich verstehen. Niemand kann das aushalten. Niemand.”

All das hat meine Kollegin an meinem ersten Arbeitstag zu mir gesagt.
Und sie hatte Recht …

 

Zu lesen in der aktuellen Anthologie „Tabu“ erschienen beim Lerato-Verlag. www.lerato-verlag.de