Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

CastitasCastitas
Am liebsten hätte Vera Preuß in Kevins Zimmer nichts verändert, um seine letzten Spuren nicht zu verwischen.
Über dem Schreibtischstuhl hing seine Jeans, darunter lagen Socken und Unterwäsche auf einem Haufen. Eine halbleere Wasserflasche stand neben dem Bett mit dem zerwühlten Bettzeug, es verströmte den vertrauten Geruch ihres Sohnes … ihres toten Sohnes, der sich vor zwei Wochen angeblich das Leben genommen hatte.
„Suizid“, behauptete der Gerichtsmediziner. „Eindeutig, das belegen die forensisch-pathologischen Befunde. Es gibt keine Spuren von Fremdeinwirkung, keine chemischen Substanzen im Blut. Nichts.“
Kevin sollte sich demnach in seinem Zimmer einen Müllbeutel über den Kopf gezogen und das Zugband fest um den Hals geschnürt haben.
Als Vera an jenem Abend aus dem Büro nach Hause kam, fand sie ihn. Zuerst begriff sie gar nicht, was sie da sah. Dann riss sie ihm wie von Sinnen die Plastiktüte vom Kopf, zerfetzte sie regelrecht und wählte 112.
Während sie wartete, versuchte sie ihr Kind mit Mund-zu-Mund-Beatmung ins Leben zurückzuholen.
Vergeblich.
„Hypoxisch-asphyktischer Erstickungstod“, stellte der Notarzt fest. „Es tut mir Leid.“ Er spritzte der schreienden Vera ein Beruhigungsmittel, bevor er die Polizei informierte.
Drei Tage später wurde Vera vernommen.

Sie kamen zu zweit. Eine Beamtin in Veras Alter, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Nastassja Kinski aufwies, und ein junger bulliger Mann, der in Veras Augen kaum den Kinderschuhen entwachsen war.
„Kriminalhauptkommissarin Diana Köster“, stellte sich die Frau vor, und deutete auf ihren Begleiter. „Mein Kollege, Peter Ochs. Dürfen wir reinkommen?“
Vera nickte, führte sie direkt in Kevins Zimmer, wo sie dicht beieinander standen. Zu den ihr gestellten Fragen konnte Vera nur den Kopf schütteln: Es gab keine häuslichen Probleme, keinen Ärger in der Schule oder mit Freunden. Es hatte keinen Krach mit ihr oder seinem Vater gegeben, von dem sie getrennt lebte. Keine Repressalien durch Mitschüler, keinen Liebeskummer.
„Im Gegenteil. Ich glaube, er ist … war verliebt. Zum ersten Mal.“
„In wen? Kennen Sie das Mädchen?“
„Nein, Kevin hat sie nicht mitgebracht. Vielleicht eine Mitschülerin. Ich entdeckte neulich einen Knutschfleck an seinem Hals. Als ich ihn darauf ansprach, wurde er knallrot. Er will … wollte nichts darüber erzählen.“
Vera hatte jedenfalls nichts Ungewöhnliches mitbekommen, wusste auch nicht, warum ihr Sohn keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte.
Doch. Ja, Kevin besaß einen PC.
Sie deutete auf seinen Schreibtisch. „Da steht er. Selbstverständlich können Sie die Dateien durchsehen.“
Das übernahm Ochs, konnte aber nach den ersten Sichtungen keinen Abschiedsbrief entdecken und gab deswegen nach einigen Minuten auf. „Sollte ein solcher Brief existieren, hätte der Junge gewollt, dass man ihn liest und ihn mit Sicherheit nicht versteckt“, mutmaßte er. „Alles andere macht keinen Sinn.“
Vera nickte, dann stellte sie leise eine Frage: „Hat Kevin lange gelitten?“
Betretenes Schweigen breitete sich aus.
„Bitte“, flüsterte sie. „Bitte. Ich muss das wissen.“
Peter Ochs senkte die Lider, überließ es seiner Vorgesetzten zu antworten. Sichtlich um Sachlichkeit bemüht, gab sie beinahe wörtlich wieder, was der Gerichtsmediziner ihr gesagt hatte: „Durch den fehlenden Luftaustausch unter der Tüte sank der Sauerstoff rasch ab. Das ausgeatmete Kohlendioxid konzentrierte sich und reizte das Atemzentrum im Gehirn. Für etwa eine Minute setzt heftige Atmung ein. Kurz danach lähmte das CO2 das Atemzentrum, ihr Sohn verlor für zwei, drei Minuten das Bewusstsein. Danach setzte die Atmung vollständig aus, der Hirntod trat nach weiteren drei, vier Minuten ein. Nein, Kevin hat nicht gelitten.“
Geweint hatte Vera nicht, lediglich Diana Köster gedankt und sich vorgestellt, wie die Plastikfolie über Kevins Gesicht durch seinen gefangenen Atem beschlug. Wie die Tüte sich direkt vor seinen Mund und die Nase legte, weil der Sauerstoff darin verbraucht war, wie nach ein, zwei Minuten die Bewusstlosigkeit kam, das Koma … der Tod.
Nein.
Nein!
Kevin konnte sich nicht umgebracht haben. Das wusste sie so sicher wie das Amen in der Kirche, und dies sagte sie Diana Köster auch.
„Frau Preuß, fast alle Angehörigen können sich mit grausamen Tatsachen nicht abfinden, wollen es nicht glauben. Doch die Fakten sprechen für sich. Es tut mir wirklich Leid.“
Einen Seelsorger oder Psychologen lehnte Vera ab, wollte auch nicht, dass irgendwer über Nacht bei ihr blieb. Als die Beamten weg waren, schluckte sie zwei weitere Tranxilium, bevor sie sich an die Arbeit machte.

Die ganze Nacht suchte sie fieberhaft nach Antworten, stellte erst Kevins Zimmer, schließlich das ganze Haus auf den Kopf. Guckte in jede Schublade, räumte Schränke aus. Wäscheberge türmten sich auf dem Teppich, Geschirr, Bücher, CDs; es sah aus wie nach einem Einbruch.
Noch einmal checkte sie Kevins PC: Onlinespiele, Rollenspiele, nur wenig E-Mails seiner Freunde, weil sie sich meist über ICQ austauschten.
„Ein Wortspiel“, wie Kevin ihr einmal erklärte, „ein Kürzel für I seek you - ich suche dich. Geiles Programm! Damit können wir mit mehreren Leuten im Internet direkt miteinander chatten oder spielen. ICQ teilt automatisch mit, ob gerade ein Kumpel online ist. Natürlich muss man sich vorher registrieren lassen.“
Den Rest hatte sie vergessen, nicht genau hingehört, weil ihr die ganze Sache zu kompliziert gewesen war.
Sie entdeckte Mails von seinem Vater und eine Mail mit Anhang von einem gewissen Castitas. `Wahrscheinlich irgendein Spiel, ich schaue später rein´, dachte sie, ging auch davon aus, dass Peter Ochs sie auf etwas von Bedeutung hingewiesen hätte. Auf den Gedanken, dass der Polizist während seines kurzen Besuches lediglich einige Schriftdokumente durchgesehen haben könnte, kam Vera gar nicht.
Die ganze Zeit über rumorte es in ihrem Unterbewusstsein, da war irgendwas, das ihr Kopfschmerzen bereitete.
`Ich habe was übersehen. Ganz sicher …´
Sie grübelte Stunde um Stunde und dann, der Morgen dämmerte bereits, fiel es ihr siedendheiß ein.

Die Schülerzeitung! Große Pause hieß die, und erschien viermal im Jahr. Die Ausgaben standen in Kevins Regal. Sie nahm die Hefte von 2002, blätterte sie hektisch durch, warf sie zur Seite. Das nächste Jahr. Da war es! Im Sommer 2003, der Nachruf von Max Braun. 2004 – nichts. Aber im August 2005 gab es einen weiteren Nachruf: Florian Brandner.
Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Sie gab den Tabletten die Schuld. Aufgeregt griff sie zum Telefon, und wählte die Handynummer, die ihr Diana Köster auf einem Kärtchen dagelassen hatte.
 „Frau Köster, hier spricht Vera Preuß. Sie müssen noch einmal zu mir kommen!“
„Haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?“
„Nein! Aber ich habe Beweise, die den Verdacht erhärten, dass Kevin möglicherweise nicht einfach so Selbstmord begangen hat.“

„Drei Suizide in den letzten vier Jahren! Meinen Sie nicht, dass dies jede Statistik sprengt?“ Vera drückte der Kommissarin eine von ihr gefertigte Liste in die Hand:
Juli 2003, Max Braun, 15 Jahre alt, Klasse 10a, Christopherus Gymnasium.
August 2005, Florian Brandner, 16 Jahre alt, Klasse 11b, Christopherus Gymnasium.
Juni 2006, Kevin Preuß, 16 Jahre alt, Klasse 10c, Christopherus Gymnasium.
Sie alle hatten sich Müllbeutel über den Kopf gezogen und waren erstickt.
Dass diese Quote außergewöhnlich hoch war, fand Diana Köster ebenfalls. Zumal die Opfer auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten aufwiesen außer, dass sie dieselbe Schule besuchten.
Auf der Wache legte sie Peter Ochs den Sachverhalt dar und bat um Unterstützung, da er ihr in Sachen Technik haushoch überlegen war. Ochs sollte – soweit vorhanden – die Computer der toten Jungen einsammeln und den Dateninhalt auf der Wache nach Berührungspunkten abklopfen.
„Eventuell gehörten sie einem Selbstmord-Forum an oder einer Sekte. Obwohl … die Sache mit Max Braun ist fast drei Jahre her. Selbst wenn die Eltern den PC noch haben, sind die Dateien sicher gelöscht oder überschrieben.“
Ochs zuckte mit den Schultern. „Das macht vielleicht nichts. Die meisten Anwender löschen die Dateien – aber nicht die Festplatten. Wer weiß? Möglicherweise haben wir Schwein und seither hat niemand das Gerät effektiv genutzt. Versuchen können wir es.“
Ochs behielt Recht und verbiss sich noch am selben Tag in die Dateien. Er schüttelte den Kopf über die verrückten Mailabsender bei Max: Dark Dog, Hackfresse, Aragorn, Castitas, Thor, Darling, Arschkarte …
Er stutzte, ging drei, vier Adressen zurück.
Castitas@yahoo.de.
Der Mail hing eine mpeg-Datei an, ein Videoclip. So eine hatte er auch bei Kevin entdeckt. Auf die Idee, sich den Clip anzusehen, war Ochs an jenem Tag bei Vera Preuß nicht gekommen. Warum auch? Eine Notwendigkeit bestand zu diesem Zeitpunkt nicht.
Wenn jetzt auch noch Florian … Sekunden später hatte er die Daten verglichen.
„Match found“, flüsterte er. Übereinstimmung gefunden!
Castitas hatte tatsächlich allen Jungen eine Mail geschickt. Ochs ließ die Videos nacheinander laufen: Ein blonder nackter Mann, den man nur von hinten sah, kniete vor einem entblößten Jungen und befriedigte ihn mit dem Mund. Es war in allen drei Fällen derselbe Mann, aber jedes Mal ein anderer Junge: nämlich Max, Florian und Kevin.
„Zum Kotzen“, entfuhr es Ochs.
Diana schaute auf. „Was meinst du?“
„Komm, schau dir das an.“
Sie tat es und verzog das Gesicht.
„Ich wette, der Typ ist Castitas.“ Ochs schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Na und? Was beweist das? Nur, dass ein Pädophiler Sex mit Teenagern hatte.“
„Was“, spann Ochs den Faden weiter, „was, wenn Castitas nicht wollte, dass jemand von seinen Amouren erfährt? Vielleicht ist er verheiratet? Oder ein Politiker. Unter Umständen sogar ein Priester.“
„Priester könnte passen. Ich habe nämlich herausgefunden, dass Castitas eine der sieben Tugenden ist. Castitas, die Keuschheit, bildlich gerne als Lilie dargestellt.“
Ochs pfiff durch die Zähne. „Vielleicht hat er seine jeweilige Liebschaft umgebracht, aus Angst vor den Konsequenzen.“
„Möglich ... obwohl die Ergebnisse der Spurensicherung und die Autopsie dagegen sprechen. Zeig mir noch einmal den Film mit Kevin. Geht das auch in Zeitlupe?“
„Klar.“ Ochs´ Hände bewegten sich auf der Tastatur hin und her, kurz darauf flimmerten die Bilder über den Monitor.
Warum sie ausgerechnet den Film mit Kevin noch einmal sehen wollte, wusste Diana Köster nicht zu sagen. Es geschah aus dem Bauch heraus, war einfach nur so ein Gefühl, dem sie nachgab.
`Intuition´, sagte sie sich. Aber vielleicht hatte sie es da ja bereits registriert und darauf reagiert. Jedenfalls lief der Clip stark verlangsamt, und dann passierte es: für den Bruchteil einer Sekunde war da eine Lilie. Reinweiß. Schimmernd, wie aus Mondlicht gegossen.
Der Film lief weiter, dann schoss ein neues Bild hervor: ein Junge, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie hörten eine Stimme, die wegen der langsamen Laufgeschwindigkeit bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war. Erst als Ochs an einigen Knöpfen drehte, flüsterte es eindringlich aus den Lautsprechern: „Tu es.“
Wieder der Film und dann Ochs, der er auf die Stopptaste drückte und brüllte: „Scheiße! Subliminals!“

„Subliminals können auf verschiedene Art funktionieren“, antwortete er auf Dianas Frage.
„Und die Betonung liegt auf können – Wissenschaftler streiten sich, ob diese versteckten Botschaften überhaupt etwas bewirken! Es gibt akustische und optische Subliminals, die Musik- oder Filmsequenzen unterlegen, aufgenommen in einer Frequenz, die unser Bewusstsein gar nicht wahrnimmt.
Im Gegensatz dazu erkennt das Unterbewusstsein die verdeckte Botschaft, und es handelt angeblich danach, denn es nimmt fraglos jede Information wertfrei als gut richtig auf.“
„In diesem Falle würde man eine Programmierung zum Selbstmord implizieren … Ochs! Ich bitte dich! Das kann nie im Leben funktionieren.“
„Wieso? Es hat doch bereits bestens geklappt! Ob du es wahr haben willst, oder nicht; unsere Selbstmörder sind offenbar allesamt Opfer der genialsten Subliminals, die ich je gesehen und gehört habe.“
„Unterstellt, es wäre so ... können wir herausfinden, wer sich hinter Castitas verbirgt? Kannst du die Mails zurückverfolgen?“
„Schwierig, falls er sich über Anonymus eingewählt ha. Oder wenn er einen Proxyserver benutzt hat, der leitet die Daten des Nutzers zum Server, wodurch der Server die IP-Adresse des Nutzers nicht lesen kann. Außerdem löschen die meisten Provider ihre Daten spätestens nach drei Monaten und …“
„Versuch es trotzdem.“

Sie hatten Glück. Die ID konnte zugeordnet werden, der zuständige Provider verwies an die Eheleute André und Susanne Bronstert.
Bronstert unterrichtete Deutsch und Geschichte. Seine Frau, ebenfalls Lehrerin, Informatik. Beide am Christopherus Gymnasium im Ort, eine Tatsache, die Ochs erneut ein „Match found!“, entlockte.
Trotzdem würden sie nicht dramatisch agieren, sondern systematisch vorgehen. „Wie immer“, mahnte Diana Köster, und nahm eine Hausbefragung vor.
Sie teilten den Bronsterts mit, dass sie in mehren Selbsttötungsdelikten ermittelten.
„Allesamt Schüler Ihrer Klassen, Herr Bronstert. Sie standen in einem engen Verhältnis zu den Jungen. Vielleicht wäre es Ihnen lieber, wenn wir mit Ihnen allein sprechen?“
„Das wird nicht nötig sein.“ Er winkte sie ins Haus, bat sie, ihm in sein Büro zu folgen. Als er ihnen den Rücken zuwandte und vorausging, war Diana klar, dass es sich bei ihm um den Mann handelte, den sie auf den Clips gesehen hatte: Die blonden Haare, die Frisur, die Statur.
Kein Zweifel.
Susanne Bronstert war eine zierliche, fast knabenhafte Frau. Das kurze brünette Haar und die funkelnden Augen verliehen ihr etwas Koboldhaftes.
Beide hörten zu, als Diana den Sachverhalt erklärte und anmerkte, man habe Videos gefunden, pikante Videos, auf denen aller Wahrscheinlichkeit André Bronstert zu sehen sei.
Die Entdeckung der Subliminals verschwieg sie vorerst.
Bronstert erbleichte, als Diana anbot mittels ihres Laptops einen Clip abzuspielen, stimmte, nach einem Blick auf seine Frau, aber zu.
Es wurde still im Raum, als sie dem Geschehen auf dem Monitor folgten.
Danach unterbrach Susanne Bronstert das Schweigen. „Und Sie glauben meinen Mann auf diesen Aufnahmen erkannt zu haben?“
„So ist es“, bestätigte Diana Köster.
Susanne erhob sich. „Es steht nicht zweifelsfrei fest, dass er es ist. Sie sind lediglich aufgrund einer Vermutung hier um …, tja, um was eigentlich zu erreichen?“
„Sehen Sie, die mpeg-Dateien wurde per Email über Ihre ID versandt. Das haben wir überprüft. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Abgesehen davon, dass es sich um verbotenes Filmmaterial handelt, ist das eigentliche Problem, dass wir Subliminals gefunden haben.“
„Aber ich habe niemals solche Mails versandt!“ rief Bronstert hitzig dazwischen, sprang auf und schaltet seinen PC ein. „Sie können das sofort überprüfen. Bitte!“
Ochs ging zu ihm hinüber. Seine Finger flogen über die Tastatur, hielten inne, huschten weiter, kamen erneut zum Stillstand.
„Ein Teil der Nutzeranwendungen sind passwortgeschützt.“
„Meine Frau arbeitet damit. Wir teilen uns den Rechner. Sie wird Ihnen das Passwort geben, nicht wahr, Susanne?“
„Warum sollte ich?“
„Susanne!“
„Sie sind wegen dir hier. Wegen dir, und deiner … Neigungen.“
Währenddessen tippte Ochs `Castitas´ ein. Der Rechner lehnte das Passwort ab.
„Frau Bronstert“, hob Ochs an.

Im nächsten Augenblick stieß sie ihn vom Computer weg, stand mit geballten Fäusten vor ihm und schrie: „Für wen, zum Teufel, halten Sie sich eigentlich?“ Ihr Gesicht war blass, sie zitterte. „Lassen Sie mich in Ruhe. Gehen Sie!“
„Nein!“, widersprach Diana bestimmt. „Nicht, bevor Sie uns erzählt haben, was wir wissen müssen.“
Susanne Bronstert schüttelt nur stumm den Kopf.
„Es ist alles auf der Festplatte, oder? Kennwortgeschützt. Viele benutzen ihren Vornamen als Passwort. Ihrer lautet Susanne. Das kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Lilie. Wie es der Zufall will, ist die Lilie ein Sinnbild der Keuschheit – und so wurde Castitas geboren. Das Passwort lautet „Lilie“, nicht wahr, Frau Bronstert?“
Jetzt nickte Susanne und verbarg das Gesicht in ihren Händen.
„Ich kann nicht gewinnen. Die Jungen sind überall. Schließlich entdeckte ich sie sogar auf unserem Rechner, in unserem Zuhause! André erweckt sie zum Leben, wann immer ihm danach ist. Egal, was ich tue oder sage.“
„Ich kann nichts dafür, dass weißt du!“, verteidigte Bronstert sich. „Wohin ich schaue, sehe ich ihre Gesichter. Ihre Augen sind schön, sie funkelten wie Edelsteine. Ihre Lippen sind schmal und fest, oder voll und weich, eigenwillig geschwungen, oder trotzige Striche, und wenn sie den Mund öffnen, schimmern ihre Zähne wie Perlen in Austernschalen.
Ihre Haare sind hell und leuchtend wie ein Sommertag, oder dunkel und schimmernd wie eine Sternennacht, glatt und kurz, oder lockig und lang.
Die Körper schlank und knochig, oder mollig, kräftig und muskulös, oder schmächtig und zart.
Sie sind Amoretten, Tänzer, Athleten, Krieger; laufen herum, lachen und reden, spielen Fußball oder schauen einfach nur nachdenklich vor sich hin.
Sie sitzen auf Mauern, hocken auf dem Rasen oder lehnen im Schatten, wie gefallene Engel. Sie warten, senden Signale, versteckte Zeichen, die nur wenige wahrnehmen. Und mancher kann sich nicht dagegen wehren.“
„Halt den Mund, André! Halt endlich deinen Mund!“ Sie sah ihren Mann nicht an. „Ich habe fünf Subliminals erstellt und an die Lustknaben meines Mannes gesandt. In dem Alter sind sie leicht zu beeinflussen, dachte ich, noch nicht gefestigt genug. Doch nur drei von ihnen haben ... André verlassen. Die Methode ist offenbar nicht effektiv genug.“
„Susanne!“
Sie achtete nicht auf ihn, wandte sich direkt an Diana Köster: „Darf ich mir noch frisch machen, bevor ich mit Ihnen fahre?“
Diana stimmte zu. Ihr kam gar nicht in den Sinn, dass Susanne Bronstert versuchen könnte zu fliehen. Sie gab Ochs lediglich die Anweisung, den PC nach den zwei restlichen Subliminals und den Jungen zu überprüfen.
Im Bad nahm Susanne ihren Zahnputzbecher, füllte ihn mit Wasser, spülte ein dutzend Valium hinunter und ließ den Hahn weiter laufen.
Sie zog den Plastikbeutel aus dem Mülleimer, stülpte ihn sich über den Kopf, klebte ihn mit Leukoplast fest und wartete.
Für eine Sekunde war da eine Lilie. Reinweiß. Schimmernd, wie aus Mondlicht gegossen. Unter Susannes Atemluft beschlug die Tüte, legte sich vor ihren Mund und die Nase, wie eine Haut, die sich wohltuend über alles spannte, Ecken und Kanten weich zeichnete, sich an sie anschmiegte.
Zuletzt kam der Nebel …

Am 05.07. war Kevins Beerdigung, und Diana Köster wollte wenigstens an der Trauerfeier teilnehmen.
Als sie und Peter Ochs auf dem Friedhof ankamen, waren schon etliche Leute in der Trauerhalle.
Kevins Bild stand auf einem Podest neben dem Sarg, der inmitten eines bunten Blumenmeeres ruhte.
Sie konnte Vera Preuß nur von hinten sehen, erkannte, dass sie weinte. Ihre Schultern zuckten. Sie saß in der ersten Reihe, neben einem dunkelhaarigen Mann, den Kopf an seine Schulter gelehnt.
Kevins Vater, da war sich Diana sicher.
Es kamen immer mehr Trauernde und nicht alle fanden Platz in der Halle.
Glocken begannen zu läuteten und im Hintergrund erklang leise Musik von Xavier Naidoo: Ich will nur in deiner Nähe sein.
Diana Köster hörte das Weinen vieler Menschen.
Ein Pfarrer kam herein, im gleichen Augenblick, wie auf ein Zeichen, hob Vera Preuß den Kopf, drehte sich um und schaute nach hinten, bis sie Diana entdeckte.
Sie nickte ihr leicht zu, als wollte sie Diana danken und gleichzeitig zu verstehen geben: „Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt: Er hat sich nicht einfach so umgebracht.“

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