Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

OdinOdin

Für alle anderen ist es die Haltestellte Gottsched Universität – für mich ist es ein Ort des Schreckens. Am schlimmsten sind die Tage, an denen der Zombie da ist. Und er ist oft da, sehr oft. Er hat wirres graues Haar, Augen wie Brunnenschächte und seine Haut scheint aus gespanntem Wachspapier zu bestehen.
Er hört nicht auf, Blumen auf den Bahnsteig zu legen. Gelbe Arnika. Dieser Anblick bringt mich jedes Mal zum Erbeben, denn auch ich habe Freya geliebt. Auf meine Art, anders als ihr Vater – der Zombie, vor dem ich insgeheim zittere.
Jedes Mal, wenn die U-Bahn hält und die Menschen aus den Wagons strömen, wühlen seine Blicke in der Menge, als suche er nach jemandem.
Zuerst dachte ich, er würde noch immer nach seiner Tochter Ausschau halten, aber mittlerweile bin ich sicher, dass er auf der Suche nach Odin ist.

Vor vier Monaten war Freya an der Haltestelle Gottsched Universität ums Leben gekommen, zerfetzt von der U-Bahn, die von Norbert Kühn gesteuert wurde - ihrem Vater, der einem Kollegen zuliebe die Schicht getauscht hatte und nur deswegen den verhängnisvollen Zug fuhr.
Nach Freyas Urnenbegräbnis hörte ich ihn mit gepresster Stimme zu einigen ihrer Kommilitonen sagen: „Ich sah alles überdeutlich vor mir, als hätte ich es mit einem Zoomer herangezogen. Einem Zoomer, der nicht nur alles vergrößert, sondern die Bilder auch langsamer laufen lässt.
Freya wirbelte mit wehenden Haaren durch die Luft. Ihre Augen wirkten im fahlen Neonlicht grau, regenwolkengrau, mit Pupillen wie Tuscheflecken.
Der Mund formte ein großes O, der Schlund war ein dunkler Abgrund. Ihr schwarzer Mantel bauschte sich, die Hände hatte sie weit vorgestreckt, sie glich der Windsbraut, die an Wotans Seite durch den Sturm jagt. Ich konnte die Raben Hugin und Munin sehen, die hinter ihrer Schulter flatterten, und auch das bleiche Gesicht des Totengottes, denn Odin stand nah bei ihr.
In meinen Träumen verwandeln sich die Raben in schwarzen Schwingen, die Freya im letzen Augenblick davontragen - aber in Wirklichkeit sah Freya mich einfach nur an. Sekundenbruchteile später knallte ihr Körper wie ein Geschoss gegen die Scheibe der Lok, Freya verschwand aus meinem Blickfeld, fiel auf die Schienen und ich ... ich überfuhr sie.
Ich spürte keinen Widerstand, als sie überrollt wurde, ich hörte keinen Schrei, sondern nur das Kreischen der Bremsen und wusste, dass es zu spät war. Ich kann nicht glauben, dass sie gesprungen ist. Es ist unmöglich ... Ich habe sie so geliebt.“
O ja, es war einfach, Freya zu lieben!

Drei Tage nach Beginn des letzten Semesters lernten Freya und ich uns in der U-Bahn-Station kennen. Wir hatten die gleiche Strecke, stiegen beide an der ersten Haltestelle ein und an der Gottsched Uni wieder aus.
„Wir sind erst kürzlich hergezogen“, erzählte sie. „Ich kenne hier noch keine Menschenseele. Außer einen der U-Bahnführer, das ist nämlich mein Vater.“
Von dem hatte sie auch ihren Namen bekommen. „Er steht total auf altgermanische Mythologie“, sie zuckte kurz mit den Schultern und lachte, „da kann man nichts machen. Wenigstens hat er sich nicht für Hulda entschieden.“
Ich fand, der Name Freya passte ausgezeichnet zu ihr. Sie war groß, blond, wirkte auf mich absolut verlockend, und obwohl ich mit Eve so gut wie verlobt war, konnte ich Freya nicht widerstehen.
Eve studierte am anderen Ende Deutschlands Medizin, ich hier Literatur und Theaterwissenschaften und stand kurz vor meinem ersten Vertragsabschluss für eine Telenovela. Dank meiner großen Begabung und Eves Hilfe - ihr Vater war ein hohes Tier beim Fernsehen, und verfügte über gute Kontakte.
In der Theatergruppe der Uni spielte ich häufig unter Freyas Regie, denn das war ihr Berufsziel, und sie hatte das Zeug dazu.
Und da passierte es.
„Anne, so steht keine Frau herum, die man eben leidenschaftlich geküsst hat!“ Freya schüttelte den Kopf und winkte mich zu sich. „Ich stelle mir das folgendermaßen vor“, sagte sie zu Anne gewandt und befahl mir: „Küss mich!“ Ich tat es - und irgendwie geriet der gespielte Kuss außer Kontrolle. Ehe ich es begriff, hatte meine Zunge den kurzen Widerstand ihrer Lippen durchbrochen und glitt in ihren Mund. Einen Herzschlag lang geschah nichts. Dann schlang Freya ihre Arme um meinen Nacken und erwiderte den Kuss.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir unter dem Schmunzeln und den Frotzeleien der anderen dastanden und uns umklammerten, aber mein ganzer Körper wurde von diesem Kuss durchdrungen; kribbelnd und kitzelnd wie Kohlensäure.
In derselben Nacht schlief ich mit Freya.
Wir fielen schon im Hausflur übereinander her, taten es auf der Treppe, dann in ihrem winzigen Wohnzimmer, bis wir endlich ins Schlafzimmer gelangten. Es war der beste Sex meines Lebens.
Von Eve erwähnte ich ihr kein Wort, auch nicht, als ich wusste, wie es um Freyas Gefühle stand.
Wir hatten die Vernissage eines Bekannten besucht, waren danach chinesisch essen gewesen und anschließend durch die Nacht gebummelt. Im Park unter der Trauerweide, vor den Blicken anderer verborgen, schliefen wir miteinander.
Sie saß auf mir, den Rock hochgeschoben und die Bluse aufgeknöpft. Sie kam zweimal, danach schaute sie mich an und flüsterte: „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, erwiderte ich automatisch. „Mehr, als ich je irgendjemanden geliebt habe.“
Und das stimmte soweit.
Es gab nur eine Person, die mir noch mehr am Herzen lag.
Ich.

Wochen später, an einem feuchtkalten Herbstabend, trafen wir uns unter der Trauerweide und Freya überreichte mir ein Päckchen.
„Ein Geschenk?“
„Mach es auf!“
Ich zog langsam meine Handschuhe aus. Gespannt verfolgte Freya jede meiner Bewegungen.
Es war eine große Tasse, auf der in bunten Buchstaben stand: Papas Kaffepott.
„Nein!“, entfuhr es mir.
„Ja!“ Sie fiel mir um den Hals und sprudelte hervor: „Ich habe mir alles genau überlegt! Wir studieren weiter, ich werde eine Tagesmutter organisieren. Mein Vater wird uns sicher unterstützen, du wirst ihn bald kennenlernen. Du könntest dir einen Nebenjob suchen. Anfangs wird es vielleicht stressig – aber zusammen schaffen wir es.“
Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, als sie mir erklärte, die Wirkung der Pille sei wegen eines Medikamentes beeinträchtigt gewesen, geplant war das Baby jedenfalls nicht.
„Aber wir können es unmöglich wegmachen lassen“, meinte sie. „Es ist doch unser Kind!“
Ich nickte, doch meine Gedanken rasten zu Eve.
Heute Morgen erst hatte ich mit ihr telefoniert. Am 15. würde ich bei einem großen Sender für eine neue Vorabendserie vorsprechen. „Eine reine Formsache“, versicherte Eve mir. „Die Rolle hast du in der Tasche, ebenso wie die Telenovela für nächstes Jahr.“ Und sie sagte mir auch, wann sie unsere Verlobung bekannt geben wollte: Weihnachten.
Ich sah mich schon im Erfolg baden, Geld scheffeln, berühmt werden! Ein Leben in Saus und Braus führen, an der Seite meiner Frau, einer Schönheitschirurgin, und meines einflussreichen Schwiegervaters, stets im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. All meine Wünsche könnten sich erfüllen wenn - ja, wenn da nicht Freya wäre.
Aus mit meiner Lebensplanung und der Riesenchance - denn Eve würde dafür sorgen, dass das Vorsprechen nie stattfand, und es dabei nicht bewenden lassen, dafür kannte ich sie!
„Bringst du mich zu U-Bahn-Station?“ Freyas unbekümmerte Worte weckten mich aus meiner Lethargie. Sie grinste mich an. „Ich weiß, ich brauche gar nicht erst zu fragen. Für den Menschen, den du am meisten liebst, tust du alles.“
„Natürlich.“ Ich lächelte, zog meine Handschuhe über und legte meinen Arm um Freyas Schultern. „Ich tue alles, was nötig ist.“
Zwanzig Minuten später war sie tot.

Die U-Bahn hält an der Haltestellte Gottsched Universität. Er ist da.

Ich schiebe mich ins Freie und der Zombie wühlt erwartungsgemäß mit seinen Blicken in der Masse, sucht nach den Raben. Und nach Odin.

Was, wenn er ihn eines Tages findet?
Was dann?
Der Gedanke lässt mich erschaudern und ich kann meine schweißnassen Hände in den schwarzen Handschuhen nicht verleugnen. Sie sind ebenso feucht wie an jenem Abend am Bahnsteig, als ich Freya blitzschnell gegen die Schulterblätter stieß und sie nach vorn katapultierte, völlig unbemerkt in dem dichten Gedränge und Geschiebe hinter uns.
Ich will nicht behaupten, es sei kinderleicht gewesen oder eine Kleinigkeit. Es war sogar ein elendes Gefühl, sie fallen zu sehen, ihren überraschten Aufschrei zu hören, die Rufe der Menschen und das metallische Winseln der Bremsen – doch schlimmer als alles andere sind die spähenden Zombieaugen, ständig auf der Suche.
Nach mir.

Zu lesen in der aktuellen Anthologie „Unterwegs, Antho?-Logisch!, erschienen beim Lerato-Verlag. www.lerato-verlag.de