Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

Ewige NachtEwige Nacht

Er könnte behaupten, die Stimme in seinem Kopf sei schuld. Eine Männerstimme, die mit samtweichem Timbre auf ihn einflüsterte.
Aber das wäre nur ein Teil der Wahrheit. Das Schicksal legte ihm zwei Dinge mit in die Wiege. Eines war seine Blindheit, der er verdankte, dass seine übrigen Sinne überdurchschnittlich entwickelt waren. Doch durfte er den Worten anderer glauben, hatte er trotzdem wunderschöne Augen.
 „Sie funkeln wie Aquamarine, Arno“, behauptete seine Mutter oft. „Genau wie die Augen deines Vaters.“
Seines Vaters!
Sie nach ihm zu fragen brachte nichts, das wusste er von klein an. Er erhielt stets die gleiche Antwort: „Ich hoffe, er schmort in der Hölle.“
Also fragte er nicht mehr.
„Wie sehen Aquamarine aus?“, wollte er stattdessen einmal wissen. „Wie fühlen sie sich an?“
Sie nahm seine Hand, benetzte den Handrücken mit ihrer Zungenspitze und pustete auf die nasse Stelle.
„Diese Farbe haben Aquamarine.“ Sie gab Arno ihren Ring, dessen Stein er betastete. „Und so fühlen sie sich an.“
Danach wusste er, dass seine nutzlosen Augen nicht nur schön, sonder auch kalt und hart waren. Er lächelte. Das passte zu ihm, denn das zweite, was das Schicksal ihm mit auf den Lebensweg gegeben hatte, war eine abgrundtiefe Bosheit. Sie blühte in der einzigen Farbe, die er kannte: schwarz.
„Du bist grausam, Arno!“ Es war Mutters bebende Stimme, die ihn schon früh veranlasste seine Bösartigkeit geschickter zu verbergen. In solchen Momenten hörten sich ihre Worte laut und schrill an. Eine tiefer Vorwurf lag darin, der ihr eigentliches Empfinden jedoch nicht überdecken konnte: Unbändige Angst.
Nicht, dass ihr Vertuschungsversuch irgendetwas geändert hätte, nein, er war völlig nutzlos, weil er Angst riechen konnte. Es war ein ursprünglicher Geruch nach Moschus, Salz und würzigem Wasser. Er wollte mehr davon, viel mehr.
Aber nach der Sache mit dem Meerschweinchen Bobby musst er äußerst achtsam sein.Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Die Stallkaninchen von gegenüber, sein Hamster, Nachbars Katze – das alles lief im Verborgenen ab. Doch bei Bobby hatten ihn seine Empfindungen fortgerissen: Der sich windende, pelzige Körper, schwache Pfeiftöne, das fieberhafte Pochen in Bobbys Hals, als Arno zudrückte ... ein unbeschreibliches Gefühl: wohlig, kribbelnd. Hell! Wie eine siedende Strömung brannte es hinter seinen Lidern, beinahe, als könnte er sehen - im gleichen Augenblick hatte seine Mutter plötzlich neben ihm gestanden.
„Ich war ungeschickt“, versicherte er hastig – doch sie war argwöhnisch, so viel stand fest.
Dass Bobby wenig später aus seinem Käfig ausgebüchst und spurlos verschwunden war, glaubte sie nicht. „Du bist grausam, Arno“, flüsterte sie. „Grausam.“
Natürlich bekam er nie wieder ein Haustier, sie ließ auch nicht zu, dass eines in seine Nähe kam. Nicht einmal einen Führerhund, da konnte er noch so betteln.
„Nicht jeder Blinde hat einen Hund, Arno. Es geht auch ganz gut ohne.“
Das stimmte.
Und später brauchte er keinen Hund oder irgendein anderes Tier mehr. Da war er aus solchen Kindereien herausgewachsen, ging lieber jede Nacht spazieren - auf die Pirsch, wie es ihm die samtweiche Stimme in seinem Kopf zuflüsterte. Er hatte sein ganzes Leben in diesem Viertel verbracht und kannte jede Unebenheit auf den Wegen, jede Windung und Steigung.
Wenn er den Mondaufgang spürte,  hielt ihn nichts mehr im Haus. Er schlenderte stundenlang durch die Gassen, hörte und roch alles um sich herum, saugte es in sich hinein wie ein Blutegel und lauerte auf das Eine: Leichte Frauenschritte.
Wie in dieser Nacht. Die Kirchturmuhr schlug zwei. Er wollte gerade von der Parkstraße in die Nonnengasse einbiegen, als eine Haustür geöffnet wurde, jemand auf die Straße trat und er das ersehnte Geräusch hörte.
Arno schmiegte sich an den schroffen Wandputz und verschmolz mit den Nachtschatten. Das Nächste, was er wahrnahm, war ein leichter Duft nach Rosen. „White Rose. Ich liebe dieses Parfüm!“, flüsterte die samtweiche Stimme in seinem Kopf und gab der Frau ihren Namen: „Magdalena.“
Die Stimme gab ihnen jedes Mal Namen. Die Erste nannte sie Marja, nach einer altitalischen Frühlingsgöttin, denn ihre Kleider dufteten nach Blumen.
Melitta, die Honigsüße, erhielt den Namen der Nymphe, weil ihr Haar nach Honig roch.
Und nun Magdalena – nach den Rosen, die einem alten Mythos zufolge durch die Tränen Maria Magdalenas von roten Rosen zu weißen verblassten.
Als ihre Schritte leiser wurden, löste er sich aus den Schatten.
Ihr Geruch unter dem Parfum und Make-up, der zarte Geruch, den sonst nur Hunde wahrnehmen können, wehte hinter ihr her. Und Arno nahm die Witterung auf.
Die Nacht wurde zu seiner Komplizin, als er sich an die Fersen der Frau heftete. Partikelchen ihres Schweißes, Hautschuppen, Staub aus ihren Kleidern drangen zu ihm, setzten sich in den sensiblen Härchen seiner Nase fest. Die Geruchsmoleküle wogten in den Rachenraum, benetzten den Gaumen und seine Zunge: die winzigen Geschmacksrezeptoren ließen ihn Magdalena so eindeutig schmecken, als würde er sie ablecken.
Er hörte ihren Herzschlag, das Rascheln der Lungenflügel wenn sie Luft holte, das Rauschen ihres Blutes – alles ruhig, alles gleichmäßig.
Zu ruhig für sein Verständnis.
Arnos Schritten wurden länger, trotzdem achtete er darauf, dass sie im Einklang mit den ihren lagen. Unmerklich holte er auf. Die Intensität ihres Geruches verriet ihm, dass sich die Entfernung zwischen ihnen verringerte. Augenblicke später unterbrach er den Gleichschritt.
Beinahe sofort stoppte sie für Sekundenbruchteile. Das bedeutete, sie warf einen Blick über die Schulter, versuchte die Finsternis zu durchdringen, weil sie wissen wollte, wissen musste, wer hinter ihr ging. Er nahm an, ihre Nackenhaare richteten sich auf, als wäre er ihr schon so nahe, dass sie seinen Atem spüren konnte.
Ihr Geruch veränderte sich. In der Luft hing jetzt ein Hauch von Ammoniak, Harnsäure und Natriumchlorid, dessen leicht salziges Aroma er mehr kostete als roch.
Schweiß.
Üppig und dicht wie Sahne.
Angstschweiß.
Die samtweiche Stimme frohlockte.
Magdalena ging schneller, ihre Atemzüge wurden holpriger, das Herz tobte in Aufruhr.
Arno erhöhte sein Tempo, konnte hören, dass sie sich wieder nach ihm umschaute, und dann erkannte sie wohl einen Blinden mit weißem Stock und dunkler Brille - nicht, dass er diese Utensilien gebraucht hätte! Er benutzte beides lediglich, weil die meisten bei ihrem Anblick sofort verstanden, dass er blind war. Ein gängiges Bild, das hatte ihm die Stimme versichert, es machte in harmlos.
Ihre Panik verflog, sie ging entspannter weiter, das Aroma ihrer Angst verflüchtigte sich. Er war ja nur ein Behinderter.
„Jetzt!“, befahl die samtweiche Stimme. „Jetzt!“
„Hallo?“, rief er. „Ist da wer?“
Magdalena blieb stehen.
„Bitte!“, flehte Arno. „Ich höre Sie!“
Sie kam zurück. Als sie sprach, hörte sie sich jung, beinahe kindlich an: „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich wollte bloß zum Zigarettenautomaten.“ Sie trat näher. „Alles in Ordnung?“
Er nickte und nahm die Brille ab. „Alles klar.“
Suchend streckte er eine Hand aus. „Verzeihung ... darf ich?“
Sie nickte, das hörte er am Flüstern ihrer Kleidung, dann fiel ihr wohl ein, dass er sie nicht sehen konnte. „Ja, sicher.“
Seine Finger huschten über ihr Gesicht. Ihre Haut war weich und kühl, an den Wangen ein wenig wärmer. Wahrscheinlich hatten sie sich dort gerötet. Die Lippen waren üppig - ihre Augen hingegen eine Enttäuschung. Nicht so groß, wie er sich erhofft hatte, die Wimpern zu kurz. Die Nase entschädigte ihn: klein, gerade, mit bebenden Flügeln, das gefiel ihm am besten.
Er wusste, dass sie ihre Blicke nicht von seinen Augen wenden konnte; sie waren hypnotisch.
Bedächtig, als täte er es widerwillig, zog er sich zurück und sagte seinen Satz: „Sie sind schön.“
Sie lachte.
Nervös.
Geschmeichelt.
„Und Sie“, Magdalena räusperte sich, „Sie haben unglaubliche Augen.“
Arno tat so, als ob er die Brille aufsetzen wollte – doch ihre Stimme ließ ihn scheinbar innehalten: „Wirklich ... wie Edelsteine.“
Eine Weile schwiegen sie.
Dann wisperte Arno: „Erlauben Sie“? Er ließ Brille und Stock fallen, legte seine Hände rechts und links auf ihr Gesicht, rahmte es ein, hielt es umschlossen.
Ihr Puls erhöhte sich, der Geruch von Moschus wurde intensiver, als seine Hände tiefer glitten, über ihren Hals, den Kehlkopf liebkosten, dort verharrten. Sanft umspannten die Hände ihren Hals, Finger schmiegten sich in den Nacken, die Daumen auf die Kehle ... drückten zu, fest, fester, quetschten das Leben aus ihr heraus – ihre Gegenwehr war nicht mehr, als eine zusätzliche Würze.
Eine Kakophonie an Ausdünstungen wurde in die Nacht geschleudert, wie glühende Lava aus einem ausbrechenden Vulkan.
Er glaubte vor Wollust daran zu ersticken. Ein Orgasmus implodierte in seinem Schädel und ließ ihn schwindeln.
Als sie starb, inhalierte er tief, ganz tief den Geruch des Todes – er legte seinen Mund auf ihren und trank ihren letzten Atemzug, gierig, hemmungslos, stürzte ihn hinunter wie ein Verdurstender kühles, süßes Quellwasser trinkt. Jeden kostbaren Tropfen.
Mit einem wilden Jubelschrei brach die samtweiche Stimme hervor.
Er sackte in die Knie. Es gab keinen Begriff, mit dem man seine Beseligung beschreiben konnte, den Rausch der Sinne, der nur eine Schlussfolgerung zuließ. Die samtweiche Stimme kleidete es in Worte: „Ich will mehr.“
„Viel mehr!“, stimmte Arno trunken zu.
Magdalenas Duft zerrann in der Nachtluft. Er musste fort.
Auf allen Vieren tastete er nach der Brille und dem Stock, hatte Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, weil sein Körper sich noch immer nicht wie sein eigener anfühlte.
Es Kratzte auf dem Asphalt, als eine Schuhspitze die Brille in seine Richtung schob.
„Suchst du die?“
Reflexartig krampfte sich seine Hand um die Brille.
„Mutter!“
„Ich wusste es. Du bist grausam. Du machst mir Angst.“
Sie würgte, das konnte er deutlich hören.
Eine Sekunde später war da dieses eigenartige Schwirren, ein Ton, als würde etwas durch die Luft auf ihn niedersausen.
„Ich hoffe, du schmorst in der Hölle, Arno.“
Er spürte einen flüchtigen Lufthauch, bevor der wuchtige Knauf des Blindenstockes bleischwer auf seinen Schädel krachte, erst die samtweiche Stimme und dann alles andere auslöschte.

Zu lesen in der aktuellen Anthologie „Nacht“ des STUZ Hochschulmagazins in Kooperation mit dem BOD www.stuz.de