Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Spannung

Miss M.

Schon als Christa die Nummer eintippte und ihr Handy ans Ohr hob, befürchtete sie, dass man ihr nicht glauben könnte.
Das taten sie nie, redeten nur beruhigend auf sie ein, in der Stimme eine Spur freundliche Herablassung, und mit genau demselben nachsichtigen Unterton, den man bei kleinen Kindern anschlägt.
Oder bei Verrückten.
Wenn sie ihre Rufnummer im Display der Telefonanlage erkannten, würden sie Blicke tauschen, mit den Augen rollen und erst dann abheben.
„Polizeidienststelle Kloven, guten Tag, Miss M. Wie geht `s Ihnen heute?“, würden sie sagen. Miss M.! Und das nicht etwa, weil sie Meier, Müller oder Melchior hieß – ihr Nachname lautete Linden - sondern in Anlehnung an Miss Marple.
Dabei war Christa mindestens dreißig Jahre jünger, attraktiv und betrieb eine kleine Gärtnerei.
Am Mittwochmorgen sollte sie im Stadtpark das neu angelegte Rosenbeet bepflanzen. Der Mutterboden war bereits vor zwei Tagen geliefert und aufgeschüttet worden und durch den Regen vorletzte Nacht zusammengesackt.
Sie hatte in der Mitte des Rondells angefangen und mit der Pflanzschaufel das erste Loch für die jungen Pflanzen ausgehoben, als sie etwas Helles zwischen den Schollen bemerkte.
Mit den Händen schob sie die Erde zu Seite – und lächelte unwillkürlich. „Ein Knicker!“, dachte sie verwundert. „In den Boden gedrückt. Wo kommt der denn her?“ Die Murmel war grün, graugrün mit kupferfarbenen Sprenkeln, und ein wenig trübe angelaufen. Erdklümpchen klebten daran. Christa versuchte sie wegzupusten, aber eines entpuppte sich als schwarzer Fleck, der sich nicht fortblasen ließ. Sie entfernte ein bisschen Erdreich mit den Fingern.
Die Murmel wurde größer. Das Grün war von etwas Weißem umschlossen, glatt wie ein gekochtes, geschältes Ei, aber von haarfeinen roten Fädchen durchzogen.
Und plötzlich begriff sie, dass sie keinen Knicker freilegte.
Ihr wurde übel. Mit einem Ruck zog sie die Hände zurück. Was da vor ihr im Sonnenlicht in einem fahlen Grün leuchtete, war eine Iris.
Aus dem Erdloch spähte ein menschliches Auge.

 

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BISHER UNVERÖFFENTLICHT.
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