Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

Ihtr SongIhr Song

David grinste, als die Musik in der Wohnung nebenan voll aufgedreht wurde und ihn von seinen Matheaufgaben ablenkte.
Er stellte sich vor, wie Frau Bertelsmann ihren Besen hervorholte und den Stiel gegen die Decke rammte, so, wie sie es stets tat. Schon hörte er die ungeduldigen Stöße, unterstützt vom Gekläffe ihrer Töle.
Kurz darauf brüllte Herr Patzek aus der oberen Etage durchs Treppenhaus: „Mach die verdammte Musik leiser, oder ich rufe die Bullen!“ Er rannte die Stufen hinunter, klingelte abwechselnd Sturm und hämmerte gegen die Tür.
Völlig umsonst, natürlich! David fragte sich, wann sie das endlich kapieren würden. Außerdem dauerten diese Musikanfälle selten länger als zehn Minuten und kamen nur drei-, viermal im Monat vor - immer dann, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren.
Damit konnte man leben, fand David. Das sagte er auch den Polizisten, die Herr Patzek tatsächlich einmal alarmierte.
„Eigentlich ist es meine Schuld“, erklärte er.
„Wie kann es deine Schuld sein, wenn du hier draußen stehst und die Ausgeflippte da drinnen ist?“, wollte einer der Beamten wissen.
„Ich war es, der ihr diesen Song zum ersten Mal vorgespielt hat. Für alle anderen ist es nur ein Lied, aber für sie ist es mehr. Megamehr. Sie liebt es.“ Und dann hatte er ihnen alles haarklein verklickert. (WEITER)

Drei Monate zuvor waren die Orloffs eingezogen.
„Russlanddeutsche“, hatte Davids Mutter gesagt. „Ich hörte, dass nur der Vater richtig Deutsch kann, er ist schon seit drei Jahren hier. Sie haben eine Tochter in deinem Alter, David. Du könntest dich ein bisschen um sie kümmern ...“
„Sie ist `n Mädchen, Mom! Ich häng doch nicht mit Mädchen ab!“
Noch nicht“, schmunzelte sie, ließ es aber dabei bewenden.
Am Samstagnachmittag war er mit ein paar Freunden zum Skaten. Abends kam er zum Essen nach Hause. Das Board unterm Arm, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, polterte er die Treppen hoch. Als er auf seiner Etage ankam, blieb er verdutzt stehen. Da stand mit dem Rücken zu ihm ein dunkelhaariges Mädchen und schaute aus dem Hoffenster. Die Neue. Aus Russland. Die ihm nicht antwortete, obwohl er „Hallo“, sagte.
Vielleicht hatte sie Angst vor ihm, oder sie verstand kein Deutsch. Sie lehnte die Stirn gegen die Scheibe, um besser sehen zu können. Im Hof plärrte irgendwelche Discomucke und man konnte ein paar Mädchen singen hören. David wusste, dass sie sich dort regelmäßig zum Tanzen trafen. Bestimmt wollte die Russin gern dabei sein.
Ihr Problem, dachte er und ließ sie stehen.

Drei Tage später traf er sie wieder im Treppenhaus. Diesmal saß sie auf der Fensterbank, ließ die Beine baumeln und schaute sehnsüchtig in den Hof.
„Hallo“, rief David und stellte sich neben sie. Die Neue hatte große, runde Augen, die ihn so erschrocken anschauten, als wäre er ein bösartiger Köter, der sie beißen wollte. Schnell rutschte sie von der Fensterbank und drückte sich rücklings an die Wand, ohne einen Mucks von sich zu geben.
Ganz schön bescheuert, fand David. Von nun an sagte er nichts mehr, wenn er ihr begegnete. Meist würdigte sie ihn eh keines Blickes, beobachtete stattdessen die tanzenden Mädchen.
Ganz schön bescheuert.

Nach und nach wurde die Neue ein wenig
zugänglicher, grüßte ihn sogar mit erhobener Hand oder sagte etwas, das er nicht verstand. Er war erschocken über die quäkenden Töne und ihre Sprechweise, die sich in seinen Ohren unnatürlich anhörte. Zu laut, lallend, als ob sie betrunken wäre. Oder eben bescheuert.
In der Woche vor den großen Ferien sah er sie im Hof bei den Mädchen stehen. Zuerst dachte er, sie lachte mit ihnen, doch schnell wurde ihm klar, dass die anderen sich über die Neue lustig machten.
„Irre Irma!“, johlten sie. „He, irre Irma, tanz! Tanz!“
Sie tanzte, wie ein tollpatschiges Kind, äffte die Bewegungen der anderen nach, bewegte sich ohne jeglichen Rhythmus, plump, irgendwie zu ausladend, zu übertrieben und kicherte.
„Die hat einen Knall!“, rief ihm ein Mädchen aus seiner Klasse zu. „Deswegen geht sie auch in eine Beklopptenschule.“
„Wer sagt das?“
„Das weiß doch jeder! Oder hast du sie schon mal bei uns in der Schule gesehen?“
„Nee.“
„Na also! Tanz, irre Irma! Tanz!“
Und die irre Irma tanzte.

„Wusstest du, dass Irma irre ist?“, fragte er seine Mutter am Abend.
„Wer?“
„Irma Orloff. Die Neue. Sie geht auf eine Beklopptenschule. Alle sagen das.“
Seine Mutter schüttelte ärgerlich den Kopf. „Quatsch! Erstens heißt sie nicht Irma sondern Natalia und zweitens ist sie ist nicht bekloppt, sondern gehörlos.“
„Was?“
„Sie ist taub, das arme Ding. Stocktaub von Geburt an.“
„Sie ... sie geht gar nicht auf eine Beklopptenschule?“
„Natalia besucht eine Schule für Gehörlose, David.“

Taub.
Er konnte sich nicht vorstellen, wie das war. Er hielt sich die Ohren zu. Es rauschte. Er schob sich Oropax hinein, doch immer noch drangen gedämpfte Geräusche durch.
Es gab ihm einen Stich, als er an ihre ungelenken Bewegungen im Hof dachte, an das Lachen der Mädchen, ihren Spott, den Natalia nie in ihrem Leben hören würde. Genauso wenig wie Musik.
Und plötzlich war sie da, die Idee! Er kramte in seinen CDs, bis er die richtige gefunden hatte.
Kurz darauf stand er vor der Tür der irren Irma, die Natalia hieß und in einer völlig lautlosen Welt lebte.
Ihre Augen wurden noch runder, als sie ihn draußen stehen sah. Sie hob die Hand, winkte von links nach rechts und rief undeutlich: „Ahlloh!“
David erwiderte die Geste. Sie lächelte und bat ihn mit einem Zeichen herein. Neugierig schaute sie auf die CD.
„Musik.“ Er sprach überdeutlich, damit sie von seinen Lippen lesen konnte.
Natalia zeigte nacheinander auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf, doch sie zog ihn an ihren verblüfften Eltern vorbei ins Wohnzimmer und deutete auf eine Stereoanlage.
David legte die CD ein. Er korrigierte die Bässe, veränderte die Balance und fragte schließlich ihren Vater: „Könnten Sie diesen Songtext in die Gebärdensprache übersetzen?“
„Okay“, sagte Herr Orloff. „Warum nicht?“
David drehte die Lautstärke voll auf. Sekunden später waren da Grönemeyers Stimme, die Gebärden von Natalias Vater, die Musik:

Sie sitzt den ganzen Tag auf ihrer Fensterbank
lässt ihre Beine baumeln zur Musik
der Lärm aus ihrem Zimmer macht alle Nachbarn krank
sie ist beseelt, lächelt vergnügt
sie weiß nicht, dass der Schnee lautlos auf die Erde fällt
merkt nichts vom Klopfen an der Wand

                                                  
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, das ist alles, was sie hört
sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt
sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt
dann vergisst sie, dass sie taub ist

Natalias Augen leuchteten, sie ging in die Hocke und presste ihre Handflächen auf das Laminat, fühlte die Töne. Gleichzeitig ließ sie ihren Vater nicht aus den Augen, saugte jede Gebärde in sich auf:

Der Mann ihrer Träume muss ein Bassmann sein
das Kitzeln im Bauch macht sie verrückt
ihr Mund scheint vor lauter Glück still zu schrei’n
ihr Blick ist der Welt entrückt
ihre Hände wissen nicht, mit wem sie reden soll’n
es ist niemand da, der mit ihr spricht

Sie lachte. David erkannte, sie spürte das Gleiche wie er: Die Musik berührte sie, huschte über ihren Körper. Sie fühlte den Sound, Vibrationen unter den Füßen, die ihre Beine hinaufkrochen, ein Kribbeln im Körper, das durch die Venen strömte, das Wummern der Bässe im Bauch, ein Summen. Eine Gänsehaut zog sich über ihre Arme, David konnte sehen, wie sich die Flaumhärchen aufstellten. Er fragte sich, ob auch sie einen tiefen Ton vom Kinn an abwärts und einen höheren vom Hals an aufwärts spürte, jede Schwingung mit ihren Nerven wahrnahm?
Und dann tanzte sie.

Der Polizist hatte sich die Geschichte schweigend angehört. „Zehn Minuten, sagst du?“
David nickte - von drinnen wummerte es: Sie mag Musik nur wenn sie laut ist ...