Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

ich bin böseIch bin böse

„Sei still!“, hatte sie gesagt. „Sei still und geh da rein!“ Sie hielt die Tür weit auf. Dahinter gähnte ein schwarzes Loch.
„Sei still!“, wiederholte sie. „Es ist besser, wenn du nicht sprichst. Sprich nie. Niemals. Wer weiß, wer dich hört. Und was dann geschieht. In der Dunkelheit … wenn du alleine bist.“
Seine Spucke war vollständig verschwunden, der Mund so trocken wie der eines toten Kindes.
Die Finsternis vor ihm schien sich zu bewegen. Seine Stirn glänzte. Er konnte den Schweiß nicht sehen, aber seine feuchte Kälte spüren. Und riechen. Er roch scharf nach ungewaschenen Kleidern. Er roch nach Angst.
Er hätte gern gebettelt, ihr Bein umschlungen und – natürlich nur ganz leise - geflüstert: „Mama, bitte nicht …“
Aber er tat es nicht.
Er wusste, es machte sie rasend.
„Sei besser leise. Sonst holen sie dich ...“ Sie stieß ihn in das Schwarz und schloss die Tür.
Er konnte hören, dass sie den Riegel vorschob. Ihre eiligen Schritte entfernten sich, stiegen die Treppe hinauf und kurz darauf fiel die Kellertür mit einem endgültigen Knall ins Schloss.
Es war finster. Stockfinster, und absolut still. Bis auf das Keuchen, das er hörte. Aber das war nur sein eigener Atem.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Angsterfüllt hielt er die Luft an, versuchte das Dröhnen seines Herzens zu dämpfen, das Rauschen in den Ohren zum Verstummen zu bringen und für kurze Zeit das Luftholen einzustellen, damit er besser lauschen konnte – und doch vermochte er nicht zu sagen, ob da etwas war.
Seine Blicke irrten durch die Finsternis. Er war allein. Mutterseelenallein.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
„Dreh dich nicht um!“, hatte sie gesagt. „Nie. Niemals. Wer weiß, wer hinter dir steht. Und was geschieht, wenn du dich umschaust. In der Dunkelheit … wenn du alleine bist.“
Argwöhnisch beobachtete er das tiefe Dunkel vor und neben sich. Doch es dauerte lange, sehr lange, bis er es wagte, sich umzudrehen um die vollkommene Schwärze hinter seinem Rücken in Augenschein zu nehmen.
Erst drehte er den Kopf ein bisschen, dann die Schulter. Schließlich, ganz langsam, den ganzen bebenden Körper.
Da war niemand.
Da war nichts.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht – WEITER und es war jetzt hinter ihm, denn er spürte ein Kribbeln … Zuerst auf seiner Kopfhaut, dann im Nacken.
Angsttierchen!
Es kitzelte, als sie über seine Haut huschten, wie haarige Spinnen, die so schwarz waren wie die Finsternis und von seinen Schultern über die bloßen Arme hasteten.
Sie hatten es eilig!
So entsetzlich eilig …
Warum nur?
Er rieb sich mit den klammen Händen kräftig über die Arme. Das Kitzeln hörte auf, als wären die Angsttierchen von ihm abgefallen und auf dem feuchten Kellerboden gelandet.
Sie kamen nicht zurück, krochen nicht seine nackten Beine hinauf, bissen nicht zu, waren fortgelaufen.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht - womöglich wurden sie von etwas in der Finsternis gefressen. Von etwas Giererfülltem, das auf dem Boden lag, das er nicht kannte, nicht sehen konnte und das jetzt vielleicht durch die Schwärze lautlos zu ihm kroch, verharrte, sich aufrichtete und hinter ihm lauerte.
Hätte er doch nur Augen im Hinterkopf, mit denen er die Dunkelheit hinter sich beobachten könnte!
Widerwillig streckte er die Arme aus, suchte nach einer Kellerwand, an der er sich zu seinem Lager tasten konnte. In seinen Fingerspitzen pulsierte der Takt seines furchtsamen Herzschlages. Endlich fand er die Mauer, kurz darauf die Matratze. Er setzte sich, lehnte sich gegen die kalte Wand, damit sein Rücken geschützt war. Langsam verwandelten sich seine Knochen in pures Eis.
Er hasste diesen Ort! Und er zitterte vor ihm …
Wenn er böse war, quengelig oder ungefragt redete, wurde er hier eingesperrt. In das Loch zwischen Kartoffel- und Kohlenkeller, gegenüber der Waschküche. Direkt über der Hölle.
Eine Matratze lag da. Ein Eimer für seine Notdurft stand in der Ecke. Es gab kein Licht, kein Fenster, und es war nicht geheizt.
Seit dem Morgen war er nun hier unten und hatte keine Ahnung, für wie lange. Noch ein paar Stunden, oder den Rest der Woche?
Er zitterte vor Kälte und wusste, dass es heute nichts mehr zu essen geben würde. Er zog die Beine an den Körper und schlang seine Arme um die Knie, um sich wenigstens ein bisschen Wärme zu verschaffen.
Er fürchtete das Loch mehr als die Beschimpfungen oder die Prügel, doch er weinte nie. Nie!
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht ... jedenfalls nicht vor seinen Geschwistern, bestimmt nicht vor Papa und auf gar keinen Fall vor seiner Mutter.
Aber später … allein im Loch.
Die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein kühles Leinentuch. Er schloss die Augen. Es war ebenso finster, als wären sie noch geöffnet. Und doch gab es nach einer Weile einen Unterschied.
Die Bilder.
Seine Fantasie, die ihm vorgaukelte, er würde draußen durch menschenleere Straßen rennen. Im warmen Sonnenlicht, einfach immer weiter. Irgendwohin. Dabei war er noch nie allein vor der Tür gewesen, obwohl er im Sommer sechs Jahre alt wurde.
Ein leises Scharren war zu hören und riss ihn aus seinen Träumen. Angespannt richtete er sich auf und lauschte.
Das Tapsen unsichtbarer Füße, kurz darauf schmiegte sich ein weicher Pelz gegen seine Waden.
„Katze“, flüsterte er, ging auf alle Viere und gab einen gurrenden Ton von sich. Das Tier schnurrte. Eines Tages war es im Keller aufgetaucht, durch irgendeinen Spalt gekrochen und hatte die Matratze als Schlafplatz auserkoren.
Und ihn adoptiert.
Er ahmte das Schnurren nach, so gut er konnte. Die Katze maunzte. Er wusste, was dieser Ton bedeutete, tastete den Kellerboden ab, bis seine Hand gegen etwas Flauschiges, Warmes stieß.
Ein toter Vogel.
Dankbar imitierte er ein täuschend echtes Miauen.
Dann begann er zu essen.
Später schlief er immer wieder ein. Die Katze kam und ging, legte sich zu ihm, fuhr mit der rauen Zunge über sein Gesicht oder brachte ihm kleine, erlegte Tiere.
Er wusste nicht, wie lange er diesmal dort unten gewesen war, als er Geräusche von oben hörte.
Fußtrappeln, Rufe und die Stimmen mehrer Menschen. Fremde Stimmen.
Nach einiger Zeit wurde vorsichtig die Kellertür geöffnet. Frische Luft strömte herein und nahm ihm den Atem. Ein schmaler Streifen Licht fiel in das Loch.
Er rührte sich nicht von der Stelle, presste sich nur tiefer in seinen Winkel und wagte kaum zu atmen.
Gleißende Lichtkegel von Taschenlampen zerschnitten die Dunkelheit. Wie suchende Finger tasteten sie sich über die Wände, blendeten ihn und verharrten schließlich auf ihm.
Er schlug schützend die Hände vor das Gesicht, hörte, wie die Katze fauchte und eine Frauenstimme rief: „Mein Gott, o mein Gott!“
Die Katze wischte an der Frau vorbei und entkam ins Freie. Ihm gelang das nicht. Er schrie: „Ich bin böse, ich bin böse!“, und schlug schwach nach den Händen, die ihn greifen wollten.
Vergeblich.
Vorsichtig wurde eine Decke um ihn gewickelt und eine Frau trug ihn fort. Hinaus auf die nächtliche Straße, die nicht so finster war wie das Kellerloch. Er kniff die Augen zusammen. Lichter. Sie waren überall: beleuchtete Fenster, Blaulicht auf den Polizeiautos und die Straßenlaternen.
Er wimmerte.
„Scht, mein Kleiner“, flüsterte die Frau und setzte sich neben ihn in einen Wagen, der sie wegbrachte.
Er schaute aus dem Heckfenster und sah, wie das Haus, in dem er gelebt hatte, kleiner wurde.
Die Straße schien länger zu werden und schließlich war am Ende der langen, langen Straße nur noch ein winziger Häuserpunkt, kaum zu erkennen, und bald darauf ganz verschwunden.
Er streckte eine schmutzige Hand danach aus, gab einen erstickten Laut von sich und meinte die Stimme seiner Mutter zu hören: „Sei still!“, hatte sie gesagt. „Sprich nie. Niemals. Wer weiß, wer dich hört. Und was dann geschieht. In der Dunkelheit … wenn du alleine bist.“
Doch er war böse gewesen, hatte mit der Katze gesprochen, und sie waren tatsächlich gekommen um ihn zu holen damit …
Damit … was?
Vor Entsetzen hörte sein Herz einen Moment auf zu schlagen. Einfach so, als hätte es jemand angehalten. Dann hämmerte es gegen seinen Brustkorb wie die Faust eines verzweifelten Kindes. Er hatte Angst, wie nie zuvor in seinem Leben.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht, und es war nur die Hoffnung, die in ihm tobte.