Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

HeimwehHeimweh

Seit sie laufen konnte, war der  alte, schwere Eichenschrank Lisas Versteck. Wenn sie Schutz oder Zuflucht suchte, versteckte sie sich in seiner Dunkelheit und schob den kleinen, innen liegenden Riegel vor.  Durch ein winziges Astloch konnte sie nach draußen spähen.
Niemand wusste, warum das Möbel im Innern einen Riegel hatte. Lisas  Vater hatte immer behauptet, dass der Schrank vor langer Zeit  von einem Zauberer gebaut worden war. Einzig weil er wusste, dass Lisa eines Tages auf der Welt sein  und ihn als Unterschlupf brauchen würde.
„Stimmt ja gar nicht!“,  hatte Lisa dann gerufen. Aber nur, weil sie die immer gleich lautende Erwiderung auf ihren Zwischenruf hören wollte. „Stimmt ja gar nicht!“
„Ich leiste einen Heiligen Eid, dass vor 400 Jahren im fernen Reich der Franzosen ein Weiser lebte. Er konnte in die Zukunft sehen. Er vollzog geheimnisvolle Rituale. Der Zauberer hieß Nostradamus. Und wenn das nicht stimmt, soll mich der Blitz auf dem Scheißhaus erschlagen.“
Dabei hatte Vater dröhnend gelacht. Und Lisa hatte wie verrückt gekichert.
Nicht über den Zauberer, sondern über das Scheißhaus. Was für ein herrliches, verbotenes Wort!
Später, als sie älter wurde und lesen konnte, fand sie in der Bibliothek ein Buch über Michel de Notresdame. Geboren 1503. Nostradamus. Es gab ihn wirklich! Von da an war der Eichenschrank zu etwas Mystischem für sie geworden und er war und blieb ihre liebste Zufluchtstätte.
Auch jetzt saß sie darin, und guckte mit einem tränenfeuchten Auge durch das Astloch.
Sie sah ihn kommen. Der Mann hockte sich vor den Schrank und versuchte durch das kleine Loch in das Innere zu linsen. Er sah nur Lisas graues Auge.
„Komm doch bitte wieder raus“, bat er freundlich.
Lisa schüttelte den Kopf, dachte nicht daran, dass er sie nicht sehen konnte.
Das graue und das braune Augen schauten sich durch den Spalt an. Manchmal blinzelte eines. Schließlich brach Lisa das Schweigen: „Ich will nach Hause“, sagte sie kläglich.
Der ältere Mann vor dem Schrank nickte. „Ja, ich weiß. Komm einfach raus zu mir, dann können wir darüber reden.“
„Ich habe nichts Böses getan!“
„Natürlich nicht“,  der Mann redete in einem Ton, in dem man mit kleineren Kindern sprach. Freundlich. Geduldig. Nicht zu laut.
Paul! Paul hieß der Mann, das fiel Lisa jetzt ein.  „Paul.  Ich will nach Hause. Bitte. Ich will den Bi-Ba-Butzemann besuchen.“ WEITER
„Du weißt, dass das nicht geht. Dein Zuhause ist hier. Bei mir. Ich habe es dir erklärt. Du kennst mich doch, oder nicht?“
Sie antwortete nicht.
„Komm, wir gehen in den Garten und unterhalten uns dort weiter.“ Paul rüttelte vorsichtig an der Schranktür, bis Lisa einen erschrockenen Laut ausstieß.
Er überlegte kurz. Dann stand auf und verließ ihr Zimmer. Es musste ihr Zimmer sein, denn ihr Schrank stand ja darin. Aber es war nicht ihr Zuhause. Der Ort war ihr fremd. Und wo waren ihre Eltern? Und der Butzemann? Sie wollte Butzemann so gern besuchen.

„Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann, in unserem Haus herum,“ sang sie zaghaft, bis sie hörte, dass der Mann zurückkam.

Wieder sah sie nach draußen. Er trug ein Tablett und darauf  standen ein großer Krug mit frischem Eistee und ein Glas. Plötzlich bemerkte Lisa, wie durstig sie an diesem heißen Sommertag und wie stickig es in ihrem Schrank war. Sie schluckte trocken.
Paul stellte das Tablett auf die Dielen vor den Spind.
„Komm wenigstens heraus, um einen Schluck zu trinken. Ich werde im Garten auf dich warten.“
Er ging davon. Misstrauisch ließ Lisa einige Minuten verstreichen, bevor sie vorsichtig die Schranktür öffnete. Dann stürzte sie sich auf das eisgekühlte Getränk.
Frisch gestärkt durch den Tee, und eine Banane, die sie aus der Schale vom Tisch genommen hatte, fasste Lisa einen Entschluss.
Sie würde sich allein auf den Weg nach Hause machen. Heimlich zu Mama gehen. Und Butzemann auf dem Friedhof besuchen.

„Er rüttelt sich und schüttelt sich, und wirft sein Säcklein hinter sich“

Die alte Frau stahl sich davon.
„Seit wann wird sie vermisst?“, wollte der Polizeibeamte mürrisch wissen.
Paul konnte sich nicht helfen, aber der Beamte machte einen gelangweilten Eindruck. Er hörte eindeutig  mit einem Ohr der Radioübertragung eines Fußballspieles zu. Neben dem Telefon lag eine angebissene Rosinenschnecke auf einem Teller.
„Ich weiß nicht, wann sie das Haus verlassen hat. Zuletzt habe ich sie gegen 15.00 Uhr gesehen.“
„Und wo genau war das?“  Für den Polizisten war alles nur Routine.
„Sie saß in ihrem Schrank. In ihrem Zimmer.“
„In ihrem Schrank?“
„Ja.“
„Warum saß sie in dem Schrank?“
“Sie hält sich eben gern dort auf. Es ist ihr Versteck. Ihre Zuflucht vor der Welt.“
„Ein Schrank?“
Paul wurde ungeduldig. „Ja, ein Schrank! Manche finden ihre Zuflucht in einem Glas Schnaps. Andere springen mit Fallschirmen aus Flugzeugen. Ist das weniger merkwürdig?“
Der Polizist erwiderte nichts, verzog nur unwillig die dicken Lippen.
„Haben Sie sie geschlagen?“
„Selbstverständlich nicht!“ Paul war entrüstet.
„Wie spät war es, als sie zuletzt mit ihr gesprochen haben?“
„Etwa 15.00 Uhr. Das sagte ich doch bereits!“, erwiderte Paul erregt.
Der Beamte warf einen Blick auf seine Uhr. „Das ist noch keine drei Stunden her. Da die Vermisste das 18. Lebensjahr überschritten hat, brauchen wir gar nicht weiter zu reden! In diesem Falle können Sie keine Vermisstenanzeige erstatten. Ein erwachsener Mensch kann sich aufhalten, wo und wie lange er will, ohne hiervon irgendjemanden in Kenntnis zu setzen.
Eine polizeiliche Fahndung wird nur eingeleitet, wenn Gefahr für Leib und Leben der abgängigen Person besteht.“
Bender leierte seine Litanei ohne großes Interesse runter und biss danach herzhaft von seiner Schnecke ab. Ein paar Krümel klebten in seinem Mundwinkel.
Paul langte entnervt über den Schreibtisch und stellte das Radio ab.
„Verdammt noch mal! Ich habe versucht, es Ihnen zu erklären! Hören Sie eigentlich nicht zu? Die vermisste Person ist weiblich. Sie ist 1,55 m groß und wiegt etwa 52 Kilo. Sie hat weißes, aufgestecktes Haar, heißt Elisabeth Wagner, ist 95 Jahre alt und sie ist meine Mutter. Sie leidet an der Alzheimer Krankheit!
Als ich zuletzt mit ihr sprach, saß sie in ihrem alten Schrank, wähnte sie sich 6 oder 7 Jahre alt und wollte den Bi-Ba-Butzemann auf dem Friedhof besuchen. Jeder Depp müsste doch wohl endlich begreifen, dass, obwohl die Vermisse volljährig ist, es von größter Dringlichkeit ist, sie zu finden!“ Paul war außer sich vor Angst. Seine Augen funkelten zornig.
„Wie weit fortgeschritten ist die Krankheit?“, fragte der Polizist kleinlaut.
„Im Augenblick befindet sie sich einem heiklen Zustand. Sie weiß an den meisten Tagen nicht in welchem Jahr wir leben, dass sie Witwe ist oder, dass ich ihr Sohn bin. 
Sie lebt immer häufiger in ihrer Kindheit, und benimmt sich wie ein kleines Mädchen. Manchmal sieht sie Dinge und Menschen, die niemand sonst sehen kann.
Sie ist noch nie weggelaufen! Haben Sie eigentlich eine Vorstellung, was für Sorgen ich mir mache?!“ Paul schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.
„Obwohl ihr Kurzzeitgedächtnis stark geschädigt ist, ist meine Mutter körperlich völlig gesund. Sie ist sehr rüstig für ihr Alter! Aber jetzt ist sie völlig orientierungslos da draußen, und braucht dringend Hilfe. Kapieren Sie das?“,  fragte Paul mit bebender Stimme.
Bender nickte. Sein Gesicht nahm endlich so etwas wie einen tatkräftigen Ausdruck an: „Haben Sie eine Ahnung, wo wir mit der Suche beginnen könnten?“
„Ja. Sie wird nach Hause gehen. Auf den Friedhof ihrer Heimatstadt. Nach Asel.“
Der Polizist wurde blass: „Sie meinen...“
Paul nickte erschöpft: „Sie wird das alles nicht verstehen. Und sie kann nicht schwimmen.“
Jetzt sprach Bender  hektisch mit einigen Kollegen. Kurze Zeit später rasten drei, vier Fahrzeuge mit Martinshorn und Blaulicht davon. Es war ein großes Gebiet, dass abgesucht werden musste.
„Sie fahren mit mir,“ stellte Bender klar.
Unterwegs brüllte der Polizist über das Heulen der Sirene: „Wer ist eigentlich der Bi-Ba-Butzemann?“
„Fritz Gehrke. Er war ihr kleiner Bruder und starb mit drei Jahren an Masern.“
Asel liegt  auf dem Grund des Ederstausees. Seit fast neunzig Jahren schläft es dort unten, mit seinen Häusern, Straßen und Brücken. Mit Weiden und Ställen. Mit seiner Kirche,  mit seinem Friedhof, seinen Toten und dem Bi-Ba-Butzemann.
Die Alten behaupteten, dass man in nebligen Nächten die Glocken der Kirche von Asel durch das Wasser hinauf schlagen hören kann. Und wer den Glockenschlag hört,  der wird sterben.
Dumme Geschichten, denn die Kirche hatte gar keine Glocke mehr. Man hatte sie vor ihrem Untergang  mitgenommen.  Abergläubisches Gerede, dem niemand Glauben schenkt. Trotzdem gehen nur wenig Einheimische bei Nebel hier spazieren.
Es war heiß im Sommer 2003. Seit Wochen hatte es nicht geregnet und es war so trocken, dass Asel aus seinem nassen Grab aufstieg.
Der Pegel sank rasend schnell: 30 Zentimeter täglich! Das Wasser wich immer weiter zurück, und lies den Stausee schrumpfen. In einer bizarren Landschaft aus getrocknetem Schlamm und Steinen erstand das Dorf auf.
Zuerst sah man die Spitze des Kirchturmes auftauchen, dann kamen nach und nach die ersten Bauten des 1914 gefluteten Ortes zum Vorschein. Dort waren die Stallungen von Schloss Waldeck. Weiter hinten stand die Mühle.
Die alte Steinbogenbrücke aus dem Jahr 1890 spannte ihren Bogen, ganz wie ihn alten Zeiten,
über den Flusslauf. Arbeiter hatten sie vor ein paar Tagen saniert. So, wie es vor neunundachtzig Jahren vereinbart wurde: Sollten die Bauten jemals aus den Fluten auftauchen, dann wären die Talsperrenbetreiber verpflichtet  sie zu erhalten und zu pflegen.
Und sie hielten Wort!
Hinter der Brücke, nahe bei der Kirche, lag der Friedhof frei.
Auf der Brücke stand Elisabeth Wagner,  sechs Jahre alt, und fragte sich, was geschehen war. Sie weinte, weil sie ihr Elternhaus in dem trocknen Schlamm nicht finden konnte. Lisa erkannte die Schule und den Kaufladen. Manche Häuser hatten eingestürzte Mauern, in vielen waren keine Fenster mehr. Die Gärten lagen unter Morast begraben. Es gab keine Bäume.
Sie sah den Friedhof, wusste aber nicht, in welchem Grab  Butzemann schlief, denn viele der alten Grabsteine waren umgestürzt.
„Es tanzt ein Bi-Ba-Butezmann, in unserem Haus herum,“ summte sie. Dabei hatte sie ein deutliches Bild des kleinen Jungen vor Augen, wie er ausgelassen durch die elterliche Küche hüpfte, in der es herrlich nach frisch gebackenem Apfelkuchen duftete.
Seine braunen Augen strahlten und die dunkelblonden Locken tanzten auf und ab, während  Mutter kochte und Vater die Geschichte vom Zauberer zum Besten gab.
Sie sah, wie das Windrad der Mühle sich drehte, und das Korn zu Mehl mahlte. Sie lachte über die störrische Stute vom Milchbauern Schulze-Kleinalsen, der fluchend auf seinem Kutschbock saß und schließlich abstieg, um dem Pferd so lange zu schmeicheln, bis es weiter ging.
Lisa sah den Frauen zu. Wie sie auf  dem Markt die Waren prüften, lauthals feilschten und einkauften,  dann in Grüppchen zusammen standen um zu tratschen.
Das Vieh graste auf der Weide. Bald würde es heimgetrieben werden, denn der Abendstern war aufgegangen.
Die Bilder verblassten vor ihren Augen. Zurück blieben die Mondlandschaft aus trockenem Schlamm, und dahinter der Stausee.
Es wurde dämmrig und kühler. Lisa war allein. Die meisten Schaulustigen, die täglich hierher pilgerten um das außergewöhnliche Auftauchen dieser sonst versunkenen Welt mitzuerleben, waren längst nach Hause gegangen.
Als Lisa Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Ein dicker Polizist stand abwartend am Fuß der Brücke. Und der Mann, Paul, kam langsam  auf sie zu. Irgendwie war er ihr vertraut. Sein Anblick beruhigte Lisa, weil er sie an den Butzemann erinnerte. Als er neben ihr stand, schob sie ihre Hand in seine.
Sie blickten auf Asel. Paul dachte, dass seine Mutter ihre alte Heimat unwiederbringlich verloren hatte. Die einzige Heimat, an die sie sich erinnerte. Mit dem nächsten Regen würde der Pegel steigen, und das Dorf wieder versinken. Wie ihre Erinnerungen an ihr heutiges  Heim in den Fluten ihrer Krankheit versunken waren.
Paul erinnerte sich an die Zeile eines Gedichtes,  das er irgendwo einmal gelesen hatte:
Heimatlose –
               
Wanderer zwischen den Welten

                 für die Heimwege nichts gelten

 denn keiner führt sie jemals Heim...

 

©Sabine Ludwigs