Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

Raphael

Rotgolden ging die Sonne auf, ein neuer Tag brach in Timmendorf an. Die meisten Feriengäste schliefen noch und die Strandpromenade wurde neben mir nur von wenigen Joggern genutzt.
Schon früh am Morgen war die Luft wunderbar mild. Als ich zum Strand runter lief, hörte ich das leise Plätschern der Wellen, die wie flüssiges Gold über den feinen Sandstrand krochen, und sah, wie die Vermieter ihre Strandkörbe vorbereiteten.
Ein junges Paar in Discooutfit, wohl die letzten Nachtschwärmer, ließ sich in einem der Körbe nieder und begann ein zärtliches Spiel. Ich schaute weg, als ich an ihnen vorbeilief, und beobachtete schmunzelnd die halbwüchsigen Jungs, die sich gegenseitig anfeuerten, bevor einige lärmend in die kühlen Morgenfluten der Ostsee sprinteten, die Möwen aufscheuchten und dann prustend und lachend durch das Wasser pflügten. Ich passierte im lockeren Trab “Timm 4“, die Hauptwache der Rettungsschwimmer, winkte kurz Ralf zu, der gerade die weiße Flagge mit dem blauen Logo der DLRG und dem auf das Wasser spähenden Adler hisste, und keuchte hinunter zum feuchten Ufersand um meinen letzten und anstrengendsten Laufabschnitt in Angriff zu nehmen.
Die ersten Urlauber deponierten Handtücher in ihren angemieteten Strandkörben, und die weißen Bojen auf dem schimmernden Meer tanzten mit den Wellen. Alles war wie immer. Ich ahnte nicht, dass dieser Tag mein Leben verändern würde. Denn an diesem Morgen begegnete ich Raphael. ... WEITER

Der einsame mit vereinzelten Grasbüscheln bewachsene Trampelpfad, der zu meinem Haus führte, war eine Wohltat nach dem anstrengenden Strandlauf. Gemächlich ging ich ihn entlang, da hörte ich aus den dichten Ginstersträuchern ein Bersten.
Ich blieb stehen und lauschte.
Nichts.
Gerade als ich weitergehen wollte, knackte es erneut: Trockenes Laub raschelte und Zweige brachen, als würde sich jemand ins Dickicht schmiegen um sich zu verstecken. In meinem Hals pulsierte etwas im Takt meines Herzschlages. Ich schluckte trocken.
„Hallo? Ist da wer?“
Keine Antwort - bloß ein Schnaufen.
Ich spürte, wie sich mein Haarboden mit einer feinen Gänsehaut überzog, die in meinen Nacken rieselte und sich dann prickelnd über meinen ganzen Körper verteilte. Lauerte da irgendein mieser Typ? Ein Perverser vielleicht?
Entschlossen, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, ging ich auf die Sträucher zu. „Raus da!“, rief ich, so forsch ich konnte. „Ich weiß, dass Sie in den Büschen sitzen!“
Erst knackte es leise und dann hörte ich es: ein kehliges Grollen. Unwillkürlich wich ich zurück. Das warnende Knurren steigerte sich. Ich sank langsam in die zitternden Knie und spähte vorsichtig in die Schatten des Gesträuches. In diesem Augenblick schoss er hervor; seine Lefzen so hoch gezogen, dass ich das drohende, tadellose und sehr starke Gebiss gut erkennen konnte.
Ein Köter.
Riesengroß, eine Farbe wie nasser Sand und eindeutig feindselig gestimmt. Ich hatte Angst vor Hunden, spürte förmlich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.
„Schitt!“, flüsterte ich und wollte mich langsam aufrichten, was der Riesenköter jedoch mit einem erneuten Knurren quittierte.
Ich erstarrte mitten in der Hocke.
Der Hund hielt inne.
Ich bewegte mich einen Millimeter.
Der Köter geiferte warnend.
Ich verharrte und spürte, wie sich jede einzelne Pore meiner Haut gleichzeitig öffnete und mir der Schweiß ausbrach.
Die Töle verhielt sich still und sabberte.
Was nun?
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, während ich dem Hund mit gesenkten Lidern und beschwichtigender Stimme erzählte, dass ich Bewegungstherapeutin war, mein Mann mich verlassen hatte und ich in einem kleinen Haus in der Nähe wohnte. Betrogen, gebrochen und allein. Furchtbar allein. Ich vertraute ihm auch an, dass ich Katzen viel lieber mochte als Hunde. Schon wegen des Geruchs, den Hundefell bei feuchtem Wetter verströmt. Widerlich!
Der Bastard lauschte mit hochgezogenen Lefzen. Allerdings sah es irgendwie nicht mehr bedrohlich aus. Eher so, als würde er grinsen und sich prächtig amüsieren.
„Blödsinn!“, sagte ich zu mir selbst. „Hunde grienen nicht.“
Ich konnte nicht länger in der Hockstellung bleiben, hatte schon kein Gefühl mehr in den Waden und setzte mich deshalb vorsichtig auf den Hintern. Stöhnend streckte ich die Beine aus, und das Blut begann schmerzhaft zu zirkulieren.
Der Köter feixte, während er mich wachsam aus hellbraunen Augen anschaute, die jede meiner äußerst bedachten Bewegungen verfolgten. Schöne Augen. Irgendwie … seelenvoll. Jedenfalls ganz und gar nicht die einer Bestie. Aber misstrauisch!
„Ich muss zur Arbeit!“, erklärte ich schließlich, erhob mich in Zeitlupe, erwiderte sein Hundegrinsen und ging rückwärts den Pfad entlang. Der Hund zog sich wieder in die Sträucher zurück. Kurz darauf war er nicht mehr zu sehen. Doch wenn man genau horchte, vernahm man ein leises Grollen aus dem Gebüsch.

„Den hat sicher ein Tourist dagelassen!“, meinte Ralf, als ich am nächsten Morgen beim DLRG Häuschen vorbeilief und ihm – auf der Stelle laufend – von dem Köter erzählte.
„Ein Streuner. Besser, du rufst das Tierheim an. Sollen die sich um das Vieh kümmern.“
Er zog die Flagge hoch, die im Wind knatterte, hob die Hand zu einem kurzen Gruß und kletterte auf den Rettungsturm.
Ich lief weiter und bog in den Pfad ein, der zu meinem Haus führte. Alles war wie am Tag zuvor, außer, dass ich diesmal auf der Hut war.
Der Riesenhund fuhr aus dem Dickicht, knurrte, fletschte die Zähne und geiferte. Doch als ich stocksteif dastand und anfing aus meiner Kindheit zu erzählen, in der mich ein furchtbarer Cockerspaniel namens Bonnie verfolgt hatte, lauschte er grinsend.
Bevor ich ging, sah ich, wie er sich wieder in die Büsche verzog, und da erst fiel mir auf, dass er schrecklich abgemagert war und mit der rechten Hinterpfote hinkte. Ich brachte es einfach nicht über mich, im Tierheim anzurufen. Stattdessen lief ich jeden Morgen eine halbe Stunde früher los und versorgte den Hund mit Futter und Wasser, das ich in einem kleinen Rucksack mitbrachte - wohl wissend, dass dies keine akzeptable Lösung war.
Nach einigen Tagen bellte der Hund nur noch erfreut, wenn ich kam. Als er zum ersten Mal schwach mit seinem Schwanz wedelte, während er mir grinsend entgegensah, traten mir aus irgendeinem Grund Tränen in die Augen.
„Sentimentaler Quatsch!“, murrte ich. Und dann strich ich ihm sanft über sein sandfarbenes Fell. Ganz sacht. Ich konnte die Wirbelknochen unter dem Filz fühlen.
Zwei Wochen ging das so weiter, dann bekam ich eine schlimme Sommergrippe und konnte das Haus nicht verlassen.

Am dritten Tag meiner Krankheit dachte ich, dass ich einen Fiebertraum hätte, als ich zufällig hinausschaute.
In meinem Vorgarten hockte der große, dürre Ginsterköter. Er saß einfach nur da und schaute zu meinem Fenster hinauf, als wüsste er, dass ich hinter der Gardine stand. Ich schob sie zur Seite und der Hund zog feixend die Lefzen hoch. Ich stellte ihm Futter vor die Tür. Es dauerte sehr lange, bis er vorsichtig näher hinkte und mit vor Aufregung zitternden Flanken alles verschlang. Danach war er verschwunden, hockte wahrscheinlich in seinen Sträuchern. Diese Vorstellung versetzte mir einen Stich mitten ins Herz, weiß der Himmel, warum!
Vollgepumpt mit Medikamenten, schluckte ich zusätzlich eine Schlaftablette und schlief ein, obwohl ich durch meine verschnupfte Nase kaum atmen konnte.
In der Nacht brach die Hölle los!

Zwei Uhr.
Er heulte im Garten. Wie ein Wolf. Und genauso saß er auch da: Aufrecht, den Kopf in den Nacken gelegt, die Schnauze in die Luft gestreckt, jaulte er, was das Zeug hielt.
„Scht! Willst du die ganze Nachbarschaft aufwecken?“, zischte ich aus dem Fenster. Der Bastard schwieg. Aber nur kurz, dann verfiel er in ein flehendes Winseln. Ich brachte ihm etwas zu fressen und schleppte mich zurück ins Bett.
Der Hund heulte unbeeindruckt weiter.
Als ich wieder die Haustür öffnete, schnappte er nach meinem Bademantel und riss daran.
„Lass das!“ Ich stieß mit dem Fuß nach ihm, doch er knurrte nur, verbiss sich wieder in meinen Morgenrock und zerrte mich über den Rasen. Der Stoff riss, ich stolperte, verlor einen Hausschuh und fiel rücklings auf die Wiese. Der Köter stürzte sich sofort auch mich! Ich dachte: `Jetzt geht er mir an den Hals!` und schrie wie eine Besessene, da leckte er mir mit seiner langen, weichen Zunge behutsam über das Gesicht. Hundespucke! Ekelig war das. Richtig ekelig. Gut, dass ich nichts riechen konnte!

  1. Nein, riechen konnte ich nichts - aber sehen.

Aus den Fugen und Ritzen des Reetdaches drang dichter, dunkler Rauch. Vermutlich ein Schwelbrand. War eine der uralten Leitungen durchgeschmort und hatte Funken gespuckt? Einerlei!
Ich wollte mich aufrappeln und ins Haus zum Telefon rennen, aber das Gewicht des Hundes und seine großen Tatzen auf meinem Brustkorb nagelten mich auf dem Boden fest. Plötzlich war die Luft von einem Prasseln erfüllt, als würde es murmelgroße Hagelkörner schütten. Jetzt schlugen Feuerlohen aus dem Dach: Grell orange, gelb und rot loderten die Flammen in den Nachthimmel, hüllten sich in Gewänder aus schwarzem Qualm und stiegen wie böse Geister empor. Der alte Dachstuhl brannte wie Zunder, das Feuer hatte in Windeseile mein Schlafzimmer erreicht und verschlang wahrscheinlich gerade mein Bett. Mein leeres Bett …
„Guter Hund!“, sagte ich. Und dann weinte ich und verbarg mein Gesicht in seinem sandigen, übel riechenden Fell. „Guter Hund!“
Als ich aufschaute, grinste er.
Von ferne hörte ich das Heulen der Feuerwehrsirenen.

Ich nannte ihn Raphael. Sein Name bedeutet „Gott heilt“ oder „Heiler Gottes“. Der Erzengel schützt kranke Menschen, vertreibt Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit. Und man sagt, er habe viel Sinn für Humor, sei ein amüsanter Begleiter und Führer auf dem Weg durchs Leben.
Noch immer jogge ich jeden Morgen. Ohne meinen Raphael. Er ist nicht gut zu Fuß - ein schlecht verheilter Trümmerbruch im Hinterlauf. Doch am Ende meiner Runde wartet er auf mich. Bei den Ginsterbüschen. Und wenn er mich kommen sieht, dann grinst er. Und das tut er auf dem ganzen Heimweg.