Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

OkuliOkuli - meine Augen

Prima vista. Der erste Blick – ich kann jenen Nachmittag nicht vergessen: die Begegnung mit Oliver, sein Gesicht, den Mund, die Augen.
Sommer war es, und von irgendwoher schwebte ein Oldie durch die Hitze: Dr. Hook, I looked up, what did I see? Sexy eyes …
Ich stand vor der Eisdiele, hielt ein Hörnchen in der Hand und wollte gerade gehen, da sagte eine Stimme neben mir: „Sie haben da was am Mund.“
Grüne Augen funkelten mich belustigt an.
Rasch fuhr ich mir mit der Zungenspitze in die Mundwinkel.
„Nein, da!“ Er lachte und strich mit seinem Finger federleicht über meinen Mund. Einfach so!
Es prickelte, sodass ich die Unterlippe unwillkürlich einsaugte. Wie gebannt stand ich vor diesem großen Mann. Die flaumigen Härchen in meinem Nacken richteten sich auf, als eine Armee winziger Phantomkäfer mit spinnenfeinen Beinchen über meine Haut huschte.
Das cremige Eis schmolz, rann die Waffel hinunter und sammelte sich kühl und klebrig zwischen meinen Fingern.
„Und da.“ Er glitt mit dem Daumen wie selbstverständlich noch einmal über meine Lippen: träge und so unendlich sanft, dass ich mich nicht länger wie aus Fleisch und Blut fühlte, sondern meinte, meine äußere Hülle würde Stück für Stück von mir abfallen, bis nur noch meine nackte Seele vor ihm stand.
Als er den Daumen fortnahm, klebte Sahne daran. Er lächelte, als er sie ableckte.
In meinem Innersten tobte ein sehnsüchtiger Wirbel.
Ich wollte mehr.
Viel mehr!
Und Oliver gab mir mehr. ... WEITER

Ich brauchte nicht noch einmal ein gebrochenes Herz, wollte keinen Mann, der mir einen Grund zum Weinen gab. Diesen schmerzhaften Weg war ich mehr als einmal gegangen, und das sagte ich Oliver auch!
Nach der Trennung von Guido, erlebte ich noch zwei böse Enttäuschungen mit anderen Männern. Thomas und Dirk. Damals hatte ich noch Probleme endgültig Abschied zu nehmen. Ich tat es trotzdem und fühlte mich danach viel besser.
Seitdem war Oliver der erste Mann, der mir wieder etwas bedeutete. Er verwandelte meine Ängste in einen Feuerwerksköper, den er anzündete und in den Himmel schoss, wo er sich in glitzernde, bunte Sterne verwandelte.
Sein Flüstern ließ mich aufhorchen, seine Blicke machten mich schön und das Streicheln seiner Hände begehrenswert.
Es war die Art, wie er mit mir umging, wie er mich liebte. Seine Zungenspitze zeichnete meine Lippen nach, bevor er sie in meine Mundhöhle schob und sein Kuss erweckte ein Gefühl in mir, als würde sich in meinem Innern etwas Lebendiges bewegen; flatternd und pulsierend, direkt unter meiner Bauchmitte.
Wenn wir miteinander schliefen und er spürte, dass ich zum Höhepunkt kam, umfing er mein Gesicht mit seinen großen Händen. „Sieh mich an!“, drängte er mit rauer Stimme, und flüsterte immer wieder meinen Namen: „Magdalena … Magdalena … Ich will in deine Augen sehen, wenn du kommst.“
Mit seinen süßen, langsamen Bewegungen in mir brachte er ich mich zum Lächeln, dann zum Weinen, Schreien und schließlich zum Fliegen. Dann zerfiel die Welt für mich in unzählige schwirrende Teilchen, mit denen ich davon glitt.
Wenn er sich in mir ergoss, gab er diesen kleinen, heiseren Laut von sich. Ein Ton, der mir durch und durch ging und der nur mir gehörte und ich konnte mich in seinen Augen sehen.
Ich glaubte, diesmal würde es für immer so weitergehen. Endlich einer, der treu sein konnte! Nicht wie die anderen Typen. Nicht wie mein Vater, vor dem kein Rock sicher gewesen war und der mit seinen Affären meine Mutter am Ende zerstörte. Sie erhängte sich im Schlafzimmer. Ich fand sie, als ich von der Schule nach Hause kam. Unter ihren Füßen hatte sich eine Pfütze gebildet, weil im Augenblick des Todes ihre Blase nachgegeben hatte.
Nein. Oliver war sicher anders.
Aber dann schloss er irgendwann seine Augen, wenn wir uns liebten.
Da ahnte ich es.

Unglücklicherweise lässt das Verlangen in den Augen der meisten Männer rasch nach. Ihre Blicke schweifen ab, irren umher, suchen, bis sie ein neues Zwiegespräch beginnen.
Wie Papas.
Oder Thomas’, Dirks, Guidos – und Olivers Blicke.
„Überstunden!“, stöhnte er des Öfteren und schüttelte bedauernd den Kopf. „Laufend diese Überstunden.“
Oder nach Feierabend das Bier mit den Arbeitskollegen. „Ich kann doch nicht immer Nein sagen, Magdalena!“
Ausreden, nicht besonders einfallsreich, aber genau mit der richtigen Dosis Unbeschwertheit vorgetragen, von Seufzern begleitet oder mit einer kleinen Anekdote gewürzt.
Ich hätte ihm geglaubt, weil ich ihm glauben wollte – wäre er nur nicht meinen Blicken ausgewichen. Wie letzte Woche, als er mir endlich beichtete, dass es eine andere gab.
Britt. Seine Arbeitskollegin.
„Erst war es nur ein harmloser Seitensprung“, versicherte Oliver.
Doch nun musste es wohl die große Liebe geworden sein!
Von einem Augenblick zum anderen, dachte ich, wischte mir zornig die Tränen aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da hatte er nur Augen für mich.
Und so sollte es wieder sein! Ich würde mich nicht zerstören lassen, wie Mama. Es gab eine Methode, um Olivers Augenmerk wieder auf mich zu richten. Und ich wusste genau, wie ich das anstellen musste.

Die Menschen sagen, die Augen seien die Spiegel der Seele.
Ich glaube, sie haben Recht damit. Mehr noch, ich bin überzeugt davon, dass die Seele auf Erden darin ihren Wohnsitz hat. Deswegen schließen wir sie, wenn wir etwas nicht ertragen, und können uns an den Menschen, die wir lieben, nicht satt sehen.
Olivers Iris war grün. Jadegrün. Beschämt hatte er die Lider gesenkt, als er mir sagte, dass er zu Britt ziehen würde. Endgültig.
Das hatte ich erwartet.
Er ging ins Schlafzimmer um seine Taschen zu packen. Ich folgte ihm und bettelte: „Nur noch einmal, Oliver. Das schuldest du mir zum Abschied …“
Ich wusste, er würde es mir nicht abschlagen und stellte den CD-Player an. Unser Lied. Sexy Eyes. Ich zog mich zum Rhythmus der Musik aus,
in meinem Hals ein sich windender Strang unterdrückter Tränen, der mich beinahe erwürgte. Trotzdem setzte ich mich auf ihn und nahm seinen Steifen in mich auf.
Ein letztes Mal.
Der Schaschlikspieß, der sonst in der Schublade in der Küche lag, lauerte unter dem Kopfkissen. Das Laken fühlte sich kühl an, als meine Hand darüber glitt, unter das Kissen fuhr und kurz darauf das glatte Metall umklammerte.
Ich rammte die silberne Spitze in seine Brust, traf die Lungen und zog ihn wieder heraus.
Zurück blieb lediglich ein kleines Loch.
Es blutete, aber nicht viel. Ein Schleier feinster Tröpfchen sprühte in mein Gesicht und es zischte, als ließe jemand die Luft aus einem Fahrradreifen.
Olivers Augen weiteten sich, die Pupillen wurden groß und noch dunkler. Wie fettes, schweres Erdöl schwammen sie in der jadefarbenen Regenbogenhaut. Das schwärzeste Schwarz. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Schwarz mich in seine Tiefen ziehen würde, wenn ich nicht aufpasste.
„Bitte, Magdalena“, röchelte er. „Hör auf!“
Ich stach nicht noch einmal zu. Nein, ich hatte kein Mitleid, ich wollte die Hoffnung in seinen Augen sterben sehen.
Der warme Sprühregen und das Zischen hörten auf. Als seine Augen brachen, konnte ich mich darin sehen. Nur mich!
Sexy Eyes …

Geschickt zog ich mit den Fingern der linken Hand die Lider auseinander und schöpfte das Auge ohne Schwierigkeiten: Mit einem Esslöffel glitt ich unter das obere Augenlid, stieß ihn leicht schräg nach unten und schälte den Augapfel gekonnt aus der warmen Höhle. Es ging wie von selbst, ich traf auf keine erwähnenswerten Widerstände, als löffelte ich lediglich eine Kiwi aus ihrer Schale.
Wie ein gekochtes, gepelltes Ei ruhte es kurz darauf auf dem Löffel: Glänzend, weiß und glatt; nur in der Mitte glitzerte es grün.
Ich wunderte mich, dass es so wenig blutete, eigentlich hätte es eine schlimmere Bescherung geben müssen.
Beim zweiten Augapfel verletzte ich die Leder- und Aderhäutchen mit dem scharfen Löffel. Ich bekam Angst, dass es auslaufen würde wie Eiklar.
Aber es verfärbten sich nur ein paar winzige Blutgefäße und das Augenweiß rötete sich leicht. Es sah aus, als hätte Oliver geweint. Ich nahm meinen Tacker und klammerte das Lid unter der Braue fest. So wurde ich weniger behindert und hatte beide Hände frei.
Es gab keine Probleme mehr und kurz darauf ließ ich auch diesen Augapfel in das vorbereite Glas gleiten.
Beinahe unversehrt strahlten die Augen mich an. Klar und grün in einem Bad aus Formaldehyd.
Ich spielte noch einmal unser Lied und drehte die Musik lauter. Selig tanzte ich aus dem Zimmer, über den Korridor, und balancierte das Glas in der Hand. Ich lächelte vor mich hin und schlenkerte es. Die Flüssigkeit rotierte, bildete einen Strudel und die Einlage wirbelte im Kreis. Die Augen schauten mich bei jeder Runde an, mich allein.
Sexy Eyes ...
Olivers Seele gehörte nun mir und hatte nur noch Augen für mich.
Sorgfältig verschloss ich das Gefäß und stellte es in den Kühlschrank.
Ganz weit hinten in das Kästchen neben der großen Tube Senf, wo die anderen Augen standen.
Thomas’, Dirks und Guidos …