Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

NichtsNichts

Ich halte Wache.
Die ganze Nacht, obwohl ich nicht weiß ob er kommen wird.
Oder in welcher Gestalt.
Musik von Glashaus hämmert in meinen Kopfhörern:
Bei Gott, es fehlt ein Stück!
Haltet die Welt an – es fehlt ein Stück.
Immer dasselbe Lied. Ich kann es auswendig, schreie es  innerlich der zerfetzten Seele in meinem Bauch zu: Haltet die Welt an - sie soll stehen!
Einmal.
Zweimal.
Und die Welt dreht sich weiter,
und dass sie sich weiter dreht  …
Tausendmal in den schlaflosen Nächten.
… ist für mich nicht zu begreifen,
merkt sie nicht, dass jemand fehlt?
Jede Nacht, seit er nicht mehr da ist.
Und ich starre in sein Gesicht, sehe sein typisches Grinsen, ein wenig schief, den linken Mundwinkel nach unten gezogen, den rechten nach oben. Auf dem letzten Foto, das von ihm geschossen wurde.
Blaue Augen … so blau. Das Haar rötlichblond, die sahnige Haut übersät von Sommersprossen, die er nicht ausstehen konnte - und die ich so liebe.
Jede einzelne!
All das kann ich nur undeutlich erkennen, verschwommen, weil sich die Tränen wie eine ständige Blende vor meine Augen geschoben haben. ... WEITER
Dann und wann streichle ich über das Porträt, fahre mit den Fingern darüber, als könnte ich so noch einmal die Weichheit seiner Wangen ertasten, ihn ganz leicht zwicken oder den Duft seines Atems riechen.
Meist roch er nach Hubba-Bubba. Himbeere.
Ständig hatte er einen dieser Kaugummis im Mund und machte Blasen. Auch auf diesem Bild sieht man, dass unter der rechten Wange ein dicker Knubbel sitzt. Und ich weiß genau, dass er rosa war und nach Himbeeren duftete.
Sebastians Lehrer hatte alle Schüler für den Kunstunterricht fotografiert. Die Aufnahmen sollten als Vorlage für ein Selbstporträt dienen. Die Kinder mussten einzeln nach vorne kommen, sie stellten sich unter dem Gejohle der Mitschüler in Positur und bekamen vor Lachen den Satz nicht heraus, den sie aufsagen sollten, um ein natürliches Grinsen hinzubekommen: „Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach.“
Sebastian konnte sich das Gekicher noch immer nicht verkneifen, als er Dirk und mir davon erzählte. … fliegen Fliegen Fliegen nach …  Wir lachten mit ihm.
Das war am Donnerstag. Vor jenem Sonntagabend, an dem Basti einfach nicht zu Bett gehen wollte. Er zögerte es endlos hinaus und ich dachte schadenfroh: `Na, der wird morgen in der Schule hundemüde sein!`
Noch um kurz vor elf hörte ich, wie er sich etwas zu trinken aus der Küche holte und einmal mehr „Gute Nacht“ brüllte.
„Gute Nacht!“, rief ich zurück. „Schlaf endlich gut!“
Danach wurde es still.
Am Montagmorgen stand ich auf, deckte den Tisch und machte Frühstück. Im Radio dudelten sie Haltet die Welt an von Glashaus und ich sang mit: „Wie konnte man uns trennen?! Mein Herz trägt deinen Namen …”
Dirk trank seinen Kaffee und fragte: „Sag mal, wo bleibt eigentlich Basti? Es ist schon kurz vor sieben.“
„So spät schon?  Vielleicht hat er vergessen den Wecker zu stellen, ich schau mal nach.“
In seinem Zimmer war es ruhig und dunkel. Ich stolperte über seine achtlos auf den Boden geworfene Kleidung. Es roch nach Schlaf und Basti.
„Lange genug geschlafen, du Murmeltier! Komm, du musst aufstehen!“, rief ich munter. „Du hättest dich halt früher hinlegen sollen!“
Keine Antwort.
Ich zog die Rollläden hoch und die Sonne knallte ungehindert auf sein zerwühltes Bett.
Und da konnte ich ihn sehen.
Kein Augenblinzeln, weil es plötzlich zu hell war, kein Meckern und Murren, keine trägen Bewegungen unter der Decke, weil er noch nicht fit für den Tag war, kein vorwurfsvolles: „Mama!“
„Basti?“ Ich erkannte meine eigene Stimme nicht.
Mein Junge lag so friedlich und reglos da, als schliefe er.
„Basti?“
Wenn seine Lippen nicht gewesen wären. Die waren weiß.
Ich tastete nach Sebastians Hand. Ein fast verheilter Kratzer zog sich quer über den bleichen Handrücken. Sie fühlte sich kalt an, richtig kalt, wie ein Stück Fleischwurst.
„Neeeiiinnn!!“
Es war, als würde eine Faust schmerzhaft durch meinen Brustkorb rammen, nach dem Herzen greifen und es festhalten. Für einen Augenblick schlug es nicht mehr, stotterte und blieb stehen, wie ein kaputter Motor. Dann hämmerte es qualvoll in meinem Hals.
 „O Gott, bitte nicht!“
Ich schüttelte Basti, damit er endlich die Augen aufschlug, sich reckte und bettelte: „Nur noch fünf Minuten, Mama!“
Aber Basti erwachte nicht.
„Neinneinnein!“
Ich konnte nicht aufhören, lag auf den Knien und schrie. Dirk polterte zur Tür herein, brüllte irgendwas und war wieder verschwunden.
Es ist schon lange her, da hatte ich zuviel getrunken und es war, als wenn mein Körper nicht der meine wäre. Ich hörte mich reden, aber ich verstand nicht, was ich sagte. Ich sah meine Hände, doch sie gehörten nicht zu mir, und die Gedanken in meinem Kopf waren die einer Fremden. Sie schwebten einfach davon … Die Dinge um mich herum waren nebelhafte Bruchstücke; mein Fleisch und mein Verstand betäubt.
Da war eine junge Notärztin, die feststellte, dass Basti bereits zwischen sechs und acht Stunden tot war. Sie musste die Kripo verständigen.
Die Beamten brachten einen Seelsorger mit. Doch bevor er sich unser annahm, stellten sie Dirk und mir getrennt voneinander die seltsamsten Fragen. Ich erinnere mich nicht, was ich geantwortet habe, ja, nicht einmal, wie die Fragen eigentlich lauteten.
Plötzlich war die Wohnung voller Menschen: Meine Eltern, Dirks Schwester, die Nachbarn, unsere Tochter Lena, die noch nicht laufen konnte und weinend über den Teppich krabbelte, bis meine Mutter sie auf den Arm nahm.
Sie alle standen wie Skulpturen herum: stumm, starr und konnten nicht begreifen, was geschehen war.
Leute eines Bestattungsunternehmens kamen. Ich weiß nicht, wer sie gerufen hatte, aber sie ließen uns nicht ausreichend Zeit, uns von unserem Sohn zu verabschieden. Sie nahmen Basti mit, einfach so.
„Zum Gerichtsmediziner“, erklärte einer der Beamten betreten. „Das ist Vorschrift, auch, wenn keine äußeren Einflüsse zu erkennen sind, an denen ihr Sohn gestorben sein könnte!“
Eine Sekunde lang dachte ich, dass Basti doch nicht ungewaschen und im Schlafanzug aus dem Haus konnte. Das würde ihm ganz und gar nicht gefallen! Er hatte sich noch nicht die Zähne geputzt und kein Gel ins Haar gemacht!
Ich musste ihm wenigstens was zum Umziehen und seinen Kulturbeutel einpacken, den MP3 Player, mit Green-Day darauf und das Buch, das er gerade las. Anders, von Wolfgang Hohlbein. Das mochte er doch so gern.
Und Fred, seinen zerliebten, gelben Stoffelefanten, den er noch immer am Fußende seines Bettes sitzen hatte und nur in der Wäscheschublade versteckte, wenn seine Freunde ihn besuchten. Außerdem ein Päckchen Hubba-Bubba-Kaugummi.
Himbeere …
Stattdessen durfte ich ein letztes Mal den Körper meines Kindes küssen und streicheln. Unter all den Blicken und der plötzlichen Lautlosigkeit ging ich wie in Zeitlupe zu ihm, meine Glieder so schwer und kalt, als watete ich durch Eiswasser.  Ich traute mich kaum, den Jungen anzufassen. Er sah so anders aus.
Eigenartig … leer.
Mein Baby. Irgendwo tief in mir, wird er für immer mein Baby sein. Ich deckte ihn sorgfältig mit einem Laken zu, denn draußen war es kühl. Ich betete, dass die Zeit stillstehen möge, um dann rückwärts zu laufen.
Aber Gott erhörte mich nicht.
… die Welt dreht sich weiter …
Sie trugen ihn weg, während sie mich festhielten und eine Spritze in meinen Arm stachen. Dann eine zweite. Meine Seele riss endgültig entzwei, wie ein Segel im Sturm.
Niemand sagte mir, dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, unseren Sohn noch länger bei uns zu haben. Natürlich wurde er später in der Trauerhalle aufgebahrt, doch das war nicht das Gleiche. Das war nicht mehr unser Junge, sondern ein Kind, das ihm unglaublich ähnelte, aber viel älter wirkte.
Basti war fort.
Unwiderruflich.
Vier Tage später bekamen wir über die Todesursache Bescheid, noch vor seiner Beerdigung. Das Kuvert war hellgrün und unscheinbar. Mit erstarrten Fingern hielt ich den Umschlag, schaffte es nicht, ihn zu öffnen. Oder zu lesen. Das musste Dirk tun. Wir saßen nebeneinander auf der Couch, und hielten uns an den Händen.
Ich habe gedacht, Basti wäre erstickt. Vielleicht hatte er sich an seinem Kaugummi verschluckt oder erbrochen, weil er was Verdorbenes gegessen hatte. Oder eine Hirnblutung, weil er sich irgendwo den Kopf gestoßen hatte.
Doch nichts davon traf zu.
Die Autopsie führte zu keinem eindeutigen Befund. Sein Herz blieb einfach stehen und hörte auf zu schlagen. Warum? Keine Ursache feststellbar, in deren Folge das Organ seine Funktion einstellte.
Basti hat einfach aufgehört zu leben, als hätte er seine Bestimmung auf Erden mit zwölf Jahren, drei Monaten und acht Tagen erfüllt.
Gestorben an nichts.
… ist für mich nicht zu begreifen …
Ich halte Wache.
In Lenas Kinderzimmer, auf dem Sessel neben ihrem Bett.
Die ganze Nacht, obwohl ich nicht weiß, ob er kommen wird.
Oder in welcher Gestalt - denn der Tod hat unzählige Gestalten.
Und manchmal ist er unsichtbar …