Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

ZerlegtZerlegt

Helen stand in der Küche, fuhr mit der rechten Hand über die raue Tischkante und rieb sich so die juckende Stelle zwischen den Fingern, bevor sie einen Topf aus dem Schrank holte. Sie schälte gerade ungeschickt die Kartoffeln für das Mittagessen, als es klingelte.
„Ein Päckchen für Sie.“ Der Postbote lächelte und überreichte ihr  einen kleinen Karton. Er hob die Hand zu einem Gruß und weg war er.
Neugierig schüttelte sie das schmuddelige Paket. Nichts zu hören. Schwer war es auch nicht. Der Absender war verschmiert und nicht mehr zu entziffern, aber ihr Name und die Adresse standen in ungelenken Druckbuchstaben deutlich lesbar darauf.
Helen Sander, Hainallee 7, 44532 Lünen. Und: Vorsicht! Empfindlich!
In der Küche griff sie zu einer Schere und öffnete umständlich das Paket. Behutsam holte sie einen Gegenstand heraus, der in mehreren Gefrierbeuteln steckte.  Als sie die letzte Plastikhülle fortzog, schrie sie. Und sie konnte nicht wieder damit aufhören. ... WEITER

Kurt Sander warf einen genervten Blick auf das schellende Telefon. 12.45 Uhr. Er hatte seit einer Viertel Stunde Mittagspause und wollte einmal zum Essen nach Hause fahren.
Trotzdem griff er zum Hörer. „Juwelier Sander, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
Er hörte ein Würgen, dann ein heftiges Weinen.
„Kurt, komm schnell!“
„Helen! Ist etwas ist passier?“
„Es ist ... unglaublich! Komm!“ Seine Frau schluchzte, dann hörte er nur noch unverständliches Stottern.
Normalerweise brauchte Kurt Sander zwanzig Minuten für die Heimfahrt.
Diesmal schaffte er es in zwölf.

Er fand Helen in der Küche. Sie hockte neben der Spülmaschine auf dem Boden, den Telefonhörer noch immer umklammert und blickte ihn aus glasigen Puppenaugen an. Soweit er sehen konnte, war sie nicht verletzt. Es gab auch keine Spuren eines Einbruchs. Helen wiegte sich sanft vor und zurück.
Unwillkürlich dachte er an ein verschrecktes Kind. Er kniete sich vor sie hin.
„Was ist los, Helen? Sag schon! War jemand im Haus? Hat man dir wehgetan?“
Sie schüttelte heftig den Kopf und deutete auf ein Päckchen auf dem Tisch.
Als Kurt den Deckel hob, verstand er. Sein Brüllen war unmenschlich und Helen zog erschrocken den Kopf ein.
In der Schachtel lag ein Finger.

Es war ein Mittelfinger. Schlank, zart, der Nagel einst sorgfältig manikürt und dezent lackiert. Nun blätterte der hellrosa Nagellack an den Spitzen ab. Die Haut des toten Gliedes hatte sich steingrau verfärbt un unten lugte ein elfenbeinfarbener Knochensplitter heraus.
Ein Ring steckte an dem Finger. Ein mattgoldener Reif mit einem springenden Delfin in der Mitte, dessen Auge ein Diamantsplitter war. `585er Gold´, dachte Kurt fassungslos. Er kannte den Ring, hatte ihn selbst gefertigt.
Ihn übermannte das Gefühl, dass er hier und jetzt seinen Mageninhalt von sich geben müsste. Diesen toten, kalten Finger hatte er zuletzt vor drei Monaten an einer Frauenhand gesehen. Warm und rosig, mitsamt dem Schmuckstück, das er Helen zum fünfzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte.
Es war Helens Ring. Und ihr Finger.
„Sei endlich still!“ fuhr er seine noch immer vor sich hin jammernde Frau an. Sie sah ihn mit den Augen eines verstörten Kindes an.
Sofort bedauerte er seine harschen Worte.
„Es tut mir Leid,“ sagte er sanft. „Ich bin nur so erschrocken, verstehst du?“
Helen ließ einmal ruckartig den Kopf nach von fallen.
Kurt entdeckte den speckigen, leicht zerknitterten Briefumschlag, der dem Päckchen beilag.
Die Schrift auf dem einfachen Blatt wirkte plump, die Buchstaben hüpften über und unter die Linien, der Stil war unausgegoren, trotzdem war Kurt der Inhalt völlig verständlich.

18. Februar ...
Sehr geehrte Dame,
als wir Ihr Unfallauto mit Totalschaden zerlegten, fanden wir vorne an der Beifahrerseite im Hohlrahmen dieses. Er muss wohl irgendwie hineingeraten sein, und wir geben ihn hiermit zurück, damit Sie sich kratzen können.
Mit freundlichen Grüßen
Schrottverwertung
Wolters & Kilian

Seit dem Unglück litten Helen und Kurt unter Schlaflosigkeit. Helen geisterte durch das Haus und versuchte vergeblich der Phantomschmerzen und des Juckreizes des abgetrennten Fingers Herr zu werden. Kurt wurde immer wieder von Albträumen über den Unfall aus dem Schlaf gerissen.
Ein Reisebus war Mitte November im Schneetreiben von der Fahrbahn abgekommen. Kurt konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und krachte in das Heck des Busses. Feuerwehr und Notarzt mussten die schwer verletzte Helen aus dem Wrack herausschneiden. Sie verlor an diesem Nachmittag zwei Finger ihrer rechten Hand, abgetrennt durch das vom Bus aufgeschlitzte, messerscharfe Türblech. Der Ringfinger wurde gefunden und konnte erfolgreich wieder angenäht werden. Der Mittelfinger blieb unauffindbar.
Bis heute.
Gut konserviert durch den Frost der Wintermonate hatte er auf dem Schrottplatz auf seine Entdeckung gewartet.
Kurt fragte sich, was für Menschen das waren, die Körperteile mit der Post verschickten?

Harri Wolters und Georg Kilian, genannt Schorsch, betrieben die Schrottverwertung seit über neunzehn Jahren. Alle Arten von Fahrzeugen wurden angenommen und ausgeschlachtet.
Über zwei Hallen verteilt, türmten sich unzählige Haufen von maschinellen Eingeweiden, fein säuberlich voneinander getrennt. Alles was sich demontieren, verkaufen oder sonst wie verwerten ließ.
In einer Ecke deponierten sie Kartons, vollgestopft mit Sachen, die sie bei den Zerlegearbeiten in den Schrottautos fanden. Natürlich versuchten Harri und Schorsch die Sachen zurückzugeben. Doch manchmal waren die Leute bei dem Umfall ums Leben gekommen oder einfach nicht zu ermitteln.
Unter dem Sammelsurium befand sich ein ausgestopfter Dachs und ein Kistchen mit antiken Nacktaufnahmen, an denen besonders Schorsch seinen Spaß hatte. Ein Koffer voll  Glasaugen, Musterstücke einer inzwischen Pleite gegangenen Fabrik.
Eine Beinprothese, vier Gebisse, Schirme, Handys, Schlüsselbunde  und massig Kleingeld - um nur einiges zu nennen.
Außerdem ein hässlicher Wackeldackel aus Plastik und ein fetter, schwarzer Mischlingsrüde, der putzmunter über den Platz wuselte und in Harris Wohnzimmersessel schlief.
Einmal fanden sie einen Fuß. Einen Herrenfuß in einer schwarzen Stiefelette, der unter dem Gaspedal verkeilt war.
Der Mann war bei dem Unfall gestorben und Harri hatte damals ungläubig die Augen verdreht, als Schorsch sich ins Auto setzte, um dem zuständigen Beerdigungsinstitut den Körperteil rechtzeitig vor der Einäscherung auszuhändigen.
Harri schüttelte auch den Kopf, als Schorsch den Mittelfinger der Frau sorgfältig in Trockeneis packte, um ihn zur Post zu bringen.
„Spinnst du? Nach so lange Zeit können sie ihr das Ding eh nicht wieder annähen. Das bringt doch nichts!“
Doch Schorsch wusste, was er tat.
Vorsicht!, malte er langsam auf den Karton. Empfindlich!
„Weißt du, Harri, das ist der Mittelfinger einer lebenden Frau. Der abgerissene Finger wird ihr von Zeit zu Zeit wehtun, brennen, ziehen oder jucken. Und es wird sie zur Raserei treiben, weil sie nichts dagegen tun kann.“
„Wie kann etwas schmerzen, das gar nicht mehr da ist?“
„Phantomschmerzen“, erklärte Schorsch gewichtig und nickte bedächtig. „Glaube mir. Eine verdammt unangenehme Sache!“
Das wusste er mit Bestimmtheit, denn er hatte durch seine Zuckerkrankheit zwei Zehen eingebüßt und es machte ihn verrückt, wenn die nicht vorhandene Gliedmaßen juckten.
„Es bringt nichts, wenn ich wie besessen an den Stümpfen rubbele, denn ich spüre deutlich, dass es die amputierten Glieder sind, die jucken. Nicht die Stummel.“
Wie oft hatte er sich seither gewünscht, er hätte seine Zehen mit nach Hause genommen, um sich Erleichterung verschaffen zu können.
Die Frau konnte das nun tun.
Er versuchte es Harri zu erklären, aber der tippte sich bloß gegen die Stirn.
„Hat man je so einen Blödsinn gehört!“
Unwillig vor sich hinmurmelnd ging er davon.  Den fetten Köter im Schlepptau.

„Bringst du mir ein Bier mit?“, fragte Kurt, als Helen vor den Abendnachrichten in die Küche ging.
Sie nickte.
Bevor sie das Bier aus dem Kühlschrank nahm, riss sie die Tiefkühltruhe auf.
Der Finger ruhte in einem hellblauen Tupperdöschen auf einem durch die Kälte steifen Wattebett.
Helen grabschte nach der Dose, holte eilig ihren Mittelfinger heraus, kratzte ausgiebig daran und ließ eine kurze Massage folgen.
Schließlich stöhnte sie erlöst auf. Entspannt packte sie den Finger wieder ein und legte ihn zurück aufs Eis. Dann holte sie das Bier und machte es sich in ihrem Fernsehsessel gemütlich.