Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

MolochPhase V

Phase V

4.20 Uhr.
Benja ist wach.
Obwohl ich das Babyphon ausgestellt habe, dringt ihr Greinen bis in den letzten Winkel unseres Schlafzimmers. Ich warte darauf, dass Peter nuschelt: „Inge, die Kleine ist wach.“
„Ich weiß“, werde ich erwidern und er, sich auf die Seite drehend: „Du bist dran.“
Ohne Licht zu machen werde ich auf nackten Füßen ins Kinderzimmer tappen um zu tun, was eine Mutter tun muss: In der Dämmerung - fast blind und mechanisch - füttern, waschen, Windeln anlegen und Benja wieder ins Bettchen legen.
Stumm, und mit spitzen Fingern.
Dabei male ich mir aus, wie ich das Baby nehme und mit ihm in die Wälder fahre, ganz tief hinein, es auf ein Bett aus Moos lege und zurücklasse.
Taub für das Weinen, und ohne zurückzublicken. Die Vorgeschichten sind fast immer gleich; unsere ist da keine Ausnahme: Wir hatten uns beruflich etabliert, unser Leben eingerichtet und ein Nest geschaffen. Die Situation war ideal, und gemäß der allgemein gültigen Richtlinien für Lebensplanung war nun die richtige Zeit für ein Baby.
Nichts leichter als das!, dachte ich. Das ist unsere Natur, wir sind auf der Welt, um uns fortzupflanzen, Leben zu schenken.
Eifrig und voller Vorfreude machten wir uns ans Werk, warteten Monat für Monat auf erste Anzeichen einer Schwangerschaft - und wurden immer wieder enttäuscht. Deswegen stellte ich mir dauernd die gleichen Fragen: Warum klappt es nicht? Liegt es an ihm? Oder schlimmer: an mir? Peter blieb gelassen, aber ich wollte Gewissheit.
Manchmal sind es nur ein, zwei kleine Worte, die eine Welt zum Einsturz bringen. Bei mir lauteten sie: Ashermann-Syndrom.
„Adhäsionen, Verwachsungen an der Innenseite der Gebärmutter“, diagnostizierte Dr. Anders, meine Gynäkologin. „In diesem Fall inoperabel. In ihrer Gebärmutter kann sich kein Ei einnisten.“
Wir würden kinderlos bleiben und wahrscheinlich etwas eigenartig werden, wie die meisten kinderlosen Paare. Ich sah mich schon verbittert in einer Dachluke liegen, von wo aus ich mit Vogelschrot auf lärmende Kinder schoss, weil das helle Lachen mich sicher noch mehr ärgern würde als Taubendreck.
„Vielleicht habe ich eine Lösung für Ihr Problem“, unterbrach Dr. Anders meine Zukunftsvisionen und drückte mir die Visitenkarte einer Privatklinik in die Hand. „Besuchen Sie mich heute Abend gegen 20.00 Uhr.“

Die Klinik lag vor der Stadt, inmitten eines Waldes. Sie war nicht groß, und wirkte wie ein Hochsicherheitsgefängnis zwischen den hohen Mauern mit dem Stacheldraht obenauf.
Dr. Anders kam uns schon am Eingang entgegen, lächelnd und mit einer kleinen Willkommensgabe, die sie mir überreichte: ein verschmitzt aussehendes Ferkel aus rosa Marzipan. Einen Glücksbringer, den ich in ihren Augen wohl bitter nötig hatte.
„Kommen Sie, ich möchte Sie mit jemandem bekannt machen. Ihr Name ist Fricka. Wenn Sie ein bisschen Mut haben, könnte Fricka die Lösung Ihres Problems sein indem sie als Leihmutter fungiert.“
Peter und ich wechselten einen raschen Blick. Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten. Außerdem wusste ich tief in mir, dass ich es niemals ertragen könnte, wenn eine andere Frau unser Kind in sich wachsen lassen und es zur Welt zu bringen würde. Ehe jedoch einer von uns reagieren konnte, öffnete Dr. Anders eine Tür.
Wir blieben stehen, erstarrten und rissen die Augen auf. In meinem ganzen Leben hatte ich nichts Vergleichbares gesehen. Entweder erlag ich einer Sinnestäuschung oder Dr. Anders war verrückt.
„Darf ich vorstellen?“, hörte ich ihre Stimme hinter mir. „Das ist Fricka.“
Mir schwindelte. Halt suchend griff ich nach Peters Hand. Sie war ebenso kalt wie meine.

Der mit weißen Fliesen gekachelte, blitzsaubere Raum war wohltemperiert. An der gegenüberliegenden Wand gab es Schaltpulte, Bildschirme und mehrere blinkende Lichter. Für mich sah das ganze wie die Kommandozentrale der Nasa aus.
Von irgendwoher berieselte uns in dezenter Lautstärke Mozarts Zauberflöte, und in einem Haufen Stroh, auf einem Apfel kauend, stand ein pralles Schwein und schaute mit funkelnden Äuglein zu uns herüber.
Dr. Anders eilte zu der Sau und kraulte sie hinter den Hängeohren. „Fricka gehört der dritten Generation von Schweinen an, die genetisch modifiziert wurden, damit sie noch besser als Organspender für den Menschen geeignet sind; oder, wie in Frickas Fall, um sie als Leihmutter einzusetzen. Sie wird garantiert keine moralischen Bedenken oder eigensüchtige, finanziellen Interessen äußern. Es ist uns gelungen, ihre natürliche Tragezeit von knapp vier auf die nötigen zehn Monate zu bringen.“
Ich schaute auf meine klebrige Hand, in der sich das Marzipanferkel in einen rosa Klumpen verwandelt hatte.
„Gebärschweine werden zweifellos Furore machen!“, begeisterte sich Dr. Anders. „Die Prozedur läuft in fünf Phasen ab. In der ersten wird Fricka Ihre mit Peters Sperma befruchtete Eizelle eingepflanzt. Die Befruchtung wird in vitro erfolgen. Für Fricka wäre es die erste Gravidität mit einem menschlichen Embryo.“
Das Gebärschwein grunzte und hörte erst auf, als Dr. Anders es wieder liebkoste.

„Die zweite Phase ist die kritischste: innerhalb der ersten drei Monate darf das Ei nicht abgestoßen werden, muss sich festsetzen und weiter entwickeln. Es folgt Phase drei: Wachstum und Reifung des Fötus. Währendessen viel frische Luft, nur beste und gesunde Nahrung, Obst, Gemüse.“ Sie lächelte. „Und wir können garantieren, dass weder Alkohol noch Nikotin oder andere Drogen die fötale Entwicklung beeinträchtigen.“
Fricka quiekte, trabte zu mir und verschlang den Marzipanbatzen. Ihr Rüssel war warm, weich und feucht.
„Phase vier: Risikolose Entbindung per Kaiserschnitt zum errechneten Geburtstermin.
Phase fünf - Übergabe eines gesunden Neugeborenen an seine leiblichen Eltern. Entlassung aus der Klinik nach sieben Tagen, mit allen erforderlichen Papieren. Das Familienleben kann beginnen.“
Wir schwiegen.
Obwohl … Phase V gefiel mir. Unser leibliches Kind. Nach all der Zeit!
„Nun?“, fragte Dr. Anders. „Was sagen Sie?“
Ich wusste nichts zu sagen. Ich wusste nicht mal, was ich denken sollte, streichelte wie betäubt die Schweineschnauze, als die Stimme von Dr. Anders meine Bedenken versenkte wie einen Stein in den Tiefen des Ozeans: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über …“, hier legte sie eine kleine Pause ein, bevor sie weiter sprach: „das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht."
Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, als ich „Amen“ flüsterte.

Während der Gravidität besuchten wir das Gebärschwein täglich. Es war ein anhängliches, kluges Tier und wusste bald, dass Peter ständig Süßigkeiten mit sich herumtrug. Fricka entwickelte einen regelrechten Heißhunger darauf, wobei sie Vanillekipferl und Gummibärchen bevorzugte.
Sie musste sich in der Schwangerschaft kein einziges Mal übergeben,
doch aus ihrem Wanst ertönten manchmal gluckernde Geräusche. Gegen
Mitte der dritten Phase sah man undeutlich kleine Beulen, die sporadisch Frickas Bauchdecke ausdellten. Ich wusste, dass es die Füßchen unserer Tochter waren, die dem Gebärschwein kraftvolle Tritte verpassten.
Nie habe ich ein Lebewesen mehr beneidet als dieses Borstenvieh!
Oder gehasst.
Peter nahm Sportjournale mit und las Fricka vor dem Einschlafen die Fußballergebnisse vor. „Damit sich das Baby schon an den Klang unser Stimmen gewöhnt.“
Ich saß stumm und neidvoll daneben und beobachtete das Schwein. Es lauschte scheinbar andächtig jedem seiner Worte und schnarchte, wenn es endlich eingeschlafen war.
Einmal, als ich von der Toilette zurückkam, streichelte Peter Frickas gewölbten Bauch, während das Gebärschwein behaglich vor sich hin grunzte.
Er sah auf und lächelte. „Komm schnell, du kannst fühlen, wie die Kleine tritt.“ Er griff nach meiner Hand, doch ehe er sie auf den Schweinebauch legen konnte, schnappte das Tier nach mir und gab ein drohendes Quieken von sich.
Erschrocken fuhr ich zurück.
„Ich glaube“, meinte Peter, „es ist besser, wenn du sie in Ruhe lässt. Fricka sollte sich in ihrem Zustand nicht aufregen.“
Ich schaute ihn an. „Mistvieh.“

Am Pfingstsonntag wurde unsere Tochter per Kaiserschnitt von Dr. Anders auf die Welt geholt. Obwohl wir dabei waren, verzichteten wir aus nachvollziehbaren Gründen darauf, diesen Augenblick filmisch oder fotografisch festzuhalten.
Sie hatte keinen Rüssel oder Schweineohren, wie ich insgeheim, trotz der einwandfreien Ultraschallbilder, befürchtet hatte – sondern war wunderschön! Blonder Flaum bedeckte ihr Köpfchen und sie schaute uns aus babyblauen Augen an. Benja weinte nicht, als Dr. Anders sie einer Schwester gab, die das Baby in die vorgewärmten Tücher legte.
Dafür schrie ich, als ich sie näher betrachtete.
Meine Schreie vermischten sich mit Peters Rufen und dem einsetzende Quieken dieser … dieser Kreatur zu einer Kakophonie schriller Töne, bis Dr. Anders donnerte: „Ruhe! Verdammt nochmal!“
Bis auf das Piepsen der medizinischen Geräte und Frickas Schnarchen wurde es still.
Aber nur für einen Augenblick: „Macht es tot!“, heulte ich.
„Inge!“, stammelte Peter.
„Sofort! Macht beide tot!“ Ich brach in Tränen aus.

„Wie alle Säugetiere besitzen auch menschliche Embryonen in ihrer frühen Entwicklungsphase einen wirbellosen Schwanz, der sich mit der Weiterentwicklung jedoch zurückbildet. Wenn dieser Prozess in irgendeiner Weise gestört ist, werden manche Babys mit einem atavistischem Schwänzchen geboren, das meist drei, vier Wochen später operativ entfernt wird“, erklärte mir Doktor Anders nach diesem Vorfall.
„Das ist alles?“ fragte ich mit zittriger Stimme. „Kein geringelter Schweineschwanz?“
Die Ärztin lächelte. „Nein! Es hat nichts mit dem Gebärschwein zu tun, glauben Sie mir.“
Eine Woche später begann Phase V – die seit nunmehr zwölf Tagen anhält.

4.20 Uhr.
Benja ist wach.
Obwohl ich das Babyphon ausgestellt habe, dringt ihr Greinen bis in den letzten Winkel unseres Schlafzimmers.
„Die Kleine ist wach“, nuschelt Peter.
„Ich weiß.“
Er dreht sich auf die andere Seite: „Du bist dran.“

Ohne Licht zu machen tappe ich auf nackten Füßen ins Kinderzimmer. In der Dämmerung - fast blind und mechanisch - füttere, wasche und wickele ich Benja und lege sie wieder ins Bettchen.
Stumm, und mit spitzen Fingern.
Dabei male ich mir aus, wie ich das Baby nehme und mit ihm in die Wälder fahre, ganz tief hinein, es auf ein Bett aus Moos lege und zurücklasse.
Taub für das Weinen, und ohne zurückzublicken.
Vielleicht wird es ja von Wildschweinen aufgezogen.
Ich stehe schon beinahe wieder auf dem Korridor, als ich das leise Grunzen aus der Wiege höre.
 Langsam drehe ich mich um …

Zu lesen in der aktuellen Anthologie „Satan“, Hrsg. Jennifer Schreiner, erschienen beim Lerato Verlag. www.lerato-verlag.de