Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

RemoRemo

`Remo´ stand auf dem Schild. Und: `täglich frische Pizza und Nudelspezialitäten aus Italien´.
„Gut“ murmelte ich zufrieden vor mich hin. Gemächlich ließ ich mein Auto an der kleinen Pizzeria vorbeirollen. Es war keine Menschenseele zu sehen; alles war dunkel. Enttäuscht wollte ich meine Suche fortsetzten, als ich bemerkte, dass eines der Fenster auf Kippe geöffnet war. Nun konnte ich auch erkennen, dass aus den hinteren Räumen Licht sickerte.
Kurzentschlossen parkte ich den Wagen und stapfte durch den eisigen Januarregen auf das Lokal zu.
`Täglich durchgehend von 11.00 bis 23.00 Uhr geöffnet – kein Ruhetag ´ verkündete eine kleine Tafel an der Tür.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr: 18.20 Uhr. Trotzdem sah es aus, als wenn das Lokal geschlossen hätte.
Die Gier auf eine Pizza Salami – extrascharf – hatte zwischenzeitlich solche Ausmaße angenommen, dass ich machtlos gegen diesen Drang war. Ich drückte die Klinke herunter. Die Tür schwang lautlos auf. Zögernd betrat ich einen düsteren Raum. ... WEITER

Das kleine Restaurant war nach italienisch-rustikaler Art eingerichtet. Etwas bäuerlich mit derben Deckenbalken, von denen mal eine Wurstkrone, Knoblauchknollen oder Korbflaschen hingen. Vermutlich sollte diesem Sammelsurium noch etwas zugefügt werden, denn über einem Stuhl, der mitten im Raum stand, hing ein Strick, so, als hätte gerade eben jemand etwas aufhängen wollen und sein Vorhaben unterbrochen.
„...ein Hauptfehler des Wassermannes ist seine Überempfindlichkeit, besonders gegenüber der Gruppe. Diese Schwäche kann bei ihm tiefe Zweifel an seinen echten Gefühlen hervorrufen. Seine Unsicherzeit macht ihn dann ängstlich...“ teilte mit eine beruhigende weibliche Stimme mit. Sie wurde sphärischen Hintergrundklängen begleitet.
Eine CD oder Kassette. Immerhin würde es niemand einschalten und sich dann nicht anhören, vermutete ich hoffnungsfroh.
Noch immer in meinem ungewöhnlichen Appetit gefangen, fragte ich daher zaghaft: „Hallo – ist jemand da?“
„...er sollte also in sich hineinhorchen und erst sich selbst finden, bevor er versucht, die Gedanken anderer zu beurteilen. Der Wassermann...“ lullte die CD als einzige Antwort weiter.
„Ist hier irgendjemand?“, rief ich diesmal lauter, über die unsichtbare Stimme hinweg.
„Si, si! Uno momento per favore”, aus einem Hinterzimmer kam ein schlanker Mann von etwa vierzig Jahren eilig die drei Stufen zum Lokal herunter, blieb stehen und sah mich an.
„...das größte Talent des Wassermannes..“ erklärte die Stimme vom Band. Wir blickten unisono auf den Apparat, bevor er diesen, peinlich berührt, ausstellte.
„Scusi“

„Kein Problem. Haben Sie geöffnet?“
„Si. Ja, natürlich“, Er sprach mit starkem, italienischen Akzent.
„Gut“, lächelte ich zaghaft. „Ich dachte nur, weil es so dunkel ist ...“
„Ich habe vergessen das Licht einzuschalten.“
„Ach so. Na, macht ja nichts“, sagte ich fröhlich während ich gleichzeitig dachte: seit 11.00 Uhr. Und bei der Dunkelheit?
„Ich habe vergessen, das Licht einzuschalten“, wiederholte er tonlos. „Ich war allein.“
Geflissentlich ignorierte ich dies. „Okay, kann ich etwas bestellen und mitnehmen?“ fragte ich stattdessen.
„Ja. Bitte.“
„ Also, ich hätte gerne zwei Pizza Salami, eine extra scharf, bitte.“ Ich lächelte ihm freundlich zu.
Er schien durch mich hindurchzusehen, während er wiederholte: „Zwei Pizza Salami, eine extra scharf, bitte ... ich war allein ... ich habe vergessen, das Licht einzuschalten.“
Mein Lächeln gefror. Ich spürte, wie eine Gänsehaut mich überlief während mir gleichzeitig klar wurde, dass er noch immer kein Licht gemacht hatte.
Wir sahen einander an und ich überlegte fieberhaft, wie ich meine Bestellung rückgängig machen könnte, ohne ihn zu verärgern. Danach würde ich mit Anstand - aber schnell – die Pizzeria verlassen. Möglichst, ohne den Eindruck einer Flucht zu vermitteln.
Besser, man provozierte ihn nicht, denn eines war wohl klar: irgendetwas stimmte mit dem Pizzamann nicht. Und wäre ich nicht so verdammt verfressen gewesen (mein Appetit war mittlerweile jedoch völlig verschwunden), wäre es mir sicher in dem Moment aufgefallen, in dem ich zur Tür hereinkam.
Welcher normale Mensch ging in ein dunkles, völlig leeres Lokal?
Nervös fuhr ich mit der Zungespitze über meine Lippen.
Seine Augen sahen so seltsam aus. Wie in diesem alten Film, in dem die Menschen von Mars-Parasiten übernommen und gesteuert wurden. Ganz langsam ging ich einen Schritt rückwärts, Richtung Ausgang.
Diese Augen waren blicklos und leer, als wäre keine Seele mehr in dem Mann. Ich tat noch einen vorsichtigen, kleinen Schritt.
Seine Augen waren eindeutig ... Ich blieb stehen und blickte ihm ins Gesicht. Ja, eindeutig: sie schauten traurig.
Schweigend starrten wir uns noch eine Weile an, dann fragte er so unvermittelt, dass ich vor Schreck zusammenfuhr: „Wie heißt du?“
Ich beschloss, mich vorerst kooperativ zu verhalten.
Nervös blies ich mir eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Sabine.“ Ich lächelte ihm beruhigend zu. Zumindest hoffte ich das.
Er nahm einen Teigballen und fing an, ihn zu kneten. Endlich eine normale Reaktion für einen Pizzabäcker! Ich war ein wenig erleichtert – aber immer noch wachsam.
Einen kleinen, winzigen Schritt trat ich wieder auf ihn zu.

„Sabina“, murmelte er, und walkte den Teigklumpen tüchtig durch, bestäubte ihn mit Mehl und rollte ihn dann geschickt aus. Er nahm den zweiten Ballen zur Hand, und verfuhr mit diesem ebenso. „Sabina.“
Eine Weile war es still. Etwas zu still, für meinen Geschmack.
„Und? Die Weihnachtsfeiertage gut rumgebracht?“ fragte ich in meinem besten Plauderton. Eigentlich wolle ich es gar nicht wissen, es war mir völlig gleichgültig, wie er Weihnachten oder Silvester verbracht hatte. Ich fühlte mich einfach nur sicherer, wenn wir uns unverfänglich unterhielten. Einer Eingebung folgend hatte ich dieses Gesprächsthema gewählt.
Er sah an und antwortete in seinem italienischen Singsang. „Die Feiertage? Si. Allein. Ich war allein. Sie ist weg, weiß du, Sabina. Ich kam nach Hause, und sie war fort. Niemand war da. Alles war leer.” Er schwieg einen kurzen, nachdenklichen Moment. „Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.”
`Scheiße´, dachte ich.
„Allein sein ist schlimm“; erwiderte ich mitfühlend.
Er nickte einmal bestätigend: „Si.“
Sorgfältig legte er die Teigkreise in runde Backbleche, bildete mit der Tomatensoße je ein rotes, feucht glänzendes Herz, bevor er sie liebevoll verteilte und Ananas darauf arrangierte.
Wehmütig lächelte er vor sich, nahm die Sardellen und drapierte sie mit sanften Bewegungen zwischen die Ananas. Große, grüne Oliven gaben dem ganzen ein frisches Aussehen, und der hellrosa Kochschinken leuchtete munter dazwischen hervor, bevor er mit sanftem Schnee von Schafskäse berieselt wurde. Es folgten einige Zwiebelringe und die dreifache Menge an Käse, dann wischte er sich die Hände an der Schürze ab, und prüfte den Pizzaofen.
Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ich auch nur einen Bissen von dieser Pizza kosten sollte - außerdem fehlte die Salami - aber das behielt ich lieber für mich.
Noch immer kam niemand in das Lokal. Vermutlich, weil das Licht noch nicht eingeschaltet war.
Trotzdem verwunderte mich dieser Umstand . Schließlich war ich doch auch hier, oder etwa nicht?
Sinnend betrachtete ich den Stuhl, der unter dem Holzbalken mit dem Seil stand, das lose von der Balkendecke baumelte. Der Abstand zwischen dem Stuhl und dem Ende des Strickes war entsprach in etwas der Größe eines Menschen.
Ich schluckte leer.
Nein! Das wollte ich gar nicht erst denken.
Sollte ich etwa hier sein? Hatte mich irgendwer oder irgendwas hierher geführt? Möglich wäre es.
Der plötzliche Heißhunger auf Pizza, das Betreten der mir unbekannten, dunklen Pizzeria.
Ach Quatsch! Was dachte ich mir da bloß für einen Unsinn zusammen!? Einmal mehr ging meine Fantasie mit mir durch.
Mühsam riss ich mich von diesen Gedanken los als er zu sprechen anfing.

„Weiß du wie das ist, wenn der Mensch den du am meisten liebst, nicht mehr bei dir sein will?“ , fragte er leise. „Wenn du das Schönste, was dir je passiert ist, verlierst?“
Ich antwortete nicht darauf, legte ihm aus einem Impuls heraus lediglich mitfühlten meine Hand auf seine Schulter. Wir sahen uns an und lächelten uns zaghaft zu.
Er zog eine Brieftasche aus der Jeans und nahm ein Foto heraus. Wir rückten etwas näher zusammen und er zeigte mir das Bild einer ganz gewöhnlich aussehende Frau, die, mit dunklem, dauergewelltem Lockenkopf und etwas zu rundlichen Wangen, in die Kamera grinste.
„Ist sie nicht schön?“ Ohne meine Antwort auch nur abzuwarten, begann er zu reden.
Er redete und redete ... und er weinte.
An mich geklammert, den Kopf an meiner Schulter geborgen, umklammerte er das Foto und weinte hilflos.
Ich hörte ihm zu, sagte nichts – das war auch nicht nötig – er wollte einfach nur, dass jemand zuhörte. Das tat ihm gut und er war nicht länger allein.

An seiner Geschichte war nichts außergewöhnliches. Sie war, wie tausend andere Geschichten auch. Ewig alt und doch immer wieder neu. Sie passierte täglich vielen Menschen, überall auf der Welt.
Deswegen tat es nicht weniger weh.
Die Geschichte eines Mannes, der seine große Liebe in einer ihm noch immer fremden Heimat findet. Eine Frau, der er ein gutes, ein schönes Leben bieten will.
Eine Idee, die Gestalt in Form eines Restaurants annimmt. Viel, viel Arbeit, wenig Zeit.
Die ersten glücklichen Jahre.
Schließlich eine Frau, die sich unattraktiv, ungeliebt und überflüssig fühlt, weil sie zuviel allein ist. Ein Mann, der sich missverstanden und im Stich gelassen glaubt, weil sie ihren Job als Sachbearbeiterin nicht aufgeben will.
Die letzten beiden unglückliche Jahre.
Zwei Menschen, die litten.
Sie hatten keinen Weg zurück gefunden.
Später die große Frage: Wird es noch einmal gut?
Dann, in der ungewohnten Einsamkeit die Erkenntnis, dass er sich selbst nicht kannte, dass er sich selbst erst verstehen musste, bevor er lernen konnte, andere oder seine Frau zu verstehen.
Deswegen auch die seltsame astrologische CD über den Wassermann. Ein Freund hatte sie ihm gegeben. Ein Freund, der leider keine Zeit, aber immerhin eine CD hatte.
Auch hierzu sagte ich nichts. Weder kritisierte ich, noch versuchte ich eine Erklärung zu finden oder erteilte Ratschläge.
Ich respektierte einfach seinen Kummer und ließ zu, dass er reden konnte.

Das einzige Licht, dass uns begleitete, war das Glühen des großen Pizzaofens, welches warm und lebendig durch die Scheiben der Ofentüren glomm.
Nach fast zwei Stunden lagen beide Pizzas, in all ihrer Scheußlichkeit, in Schachteln verpackt vor mir. Er sah mich unangenehm berührt an und sagte: „Bezahlst du nix – für`s zuhören. Ist mir sonst peinlich.“
Ich fragte mich kurz, warum immer mehr Menschen für ganz selbstverständliche Dinge etwas bezahlten wollten und erwiderte:
„Kommt überhaupt nicht Frage! Ich will hier reinkommen können, meine Pizza bestellen, erstklassig zubereitete Pizza bekommen und diese dann angemessen bezahlen. Sonst ist MIR das peinlich, klar?“
„Aber ich will mich bedanken! Irgendwie zeigen, wie froh ich bin, dass du zugehört hast. Wie gut es war, dass du gekommen bist, mit mir geredet hast. Dass du da warst. Du verstehst ja nicht ... weiß ja gar nicht ...“ stammelte er mit hochroten Wangen. Sein Blick strich verweilte für eine Sekunde bei dem Strick.
„Doch. Ich verstehe. Alles! Aber du brauchst dich nicht zu bedanken“, schnitt ich ihm kurzerhand das Wort ab. Und da sagte er nichts mehr.
Einträchtig gingen wir zu Tür, er öffnete sie zögernd und wir sahen hinaus in den Regen.
„Was kann ich tun, um Danke zu sagen?“, fragte er leise.
Breit grinsend antwortete ich: „Wenn ich jemanden zum Reden und Zuhören brauche, komme ich wieder. Garantiert! Und dann bist DU da. Vergiss das nicht.“
Er erwiderte mein Grinsen: „No. Ich vergesse nicht Sabina. Ich werde da sein.“

Ich drehte mich nicht mehr um, als ich durch den Regen zu meinem Wagen ging, doch als ich langsam an seinem Restaurant vorbeifuhr, da war es hell erleuchtet.
Er hatte das Licht eingeschaltet.
Jede noch so kleine Lampe.