Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

BilligkindBilligkind

In der Schule nennen ihn manche Billigkind. Nicht nur weil er so spindeldürr ist, sondern auch weil er preiswerte Klamotten trägt.
Das Kichern, das Ben gerade hinter seinem Rücken hört, ist nicht neu für ihn. Gereizt fragt er sich, worüber sie diesmal lachen?
„Was sind das denn für Treter?“
Ben erkennt die Stimme des Neuen sofort. Mirko heißt er. Mirko Lausch. Ben bleibt stehen und dreht sich um. Alex steht neben Mirko. Obwohl Ben ihn erst neulich verprügelt hat, damit er endlich seine Fresse hält und nicht länger glaubt, er wäre was Besseres, nur weil seine Eltern Kohle haben.
Der feige Arsch hat sich wohl Verstärkung geholt, denkt er und aus seinem leeren Magen steigt die vertraute Wut auf Typen wie Alex hoch. Er ballt die Fäuste.
„He, Billigkind!“
Für einen Moment glaubt Ben, Mirko schafft es ihn anzuspucken. Doch der dicke Schleimklumpen landet auf dem Asphalt, dicht vor seinen abgetragenen Turnschuhen. No-Names. Keine Pumas, wie Mirko sie trägt. Und sie passen nicht mehr richtig, drücken vorne ein bisschen, deswegen zieht er beim Laufen manchmal die Zehen ein ... (WEITER)
Ben mustert die weiße Spucke, als hätte er so was nie zuvor gesehen. Dann schießt sein funkelnder Blick nach oben, direkt in Mirkos Gesicht.
„Nicht getroffen, du Loser. Glück gehabt, sonst hättest du es ablecken dürfen.“ Ben stellt den Rucksack mit den Schulbüchern neben sich und stemmt die Hände in die Hüften. Herausfordernd schiebt er ein Bein nach vorn.
Das Herz hämmert gegen sein Brustbein. Es tut weh – aber das wissen die beiden Idioten nicht. Und er wird sich nichts anmerken lassen. Das tut er nie. Im Gegenteil. Die Zeiten sind vorbei.
„Wie hättest du das angestellt, Billigkind?“ Mirko mustert ihn mit geringschätzig nach unten gezogenen Mundwinkeln und Alex lacht beifällig.
Mit einem Riesenschritt geht Ben auf Mirko los. Er sagt kein Wort, rammt ihm nur mit voller Wucht die Faust in den Unterleib und setzt routiniert einen zweiten Schlag nach. Es tut gut zu spüren, wie Mirkos Bauchdecke unter seiner knochigen Faust nachgibt. Ein berauschendes Gefühl, das durch seine Blutgefäße rast und ein Verlangen nach mehr davon in Ben weckt.
Mirkos Atem streift Bens Gesicht, bevor er erschlafft und zu Boden geht. Seine Atemluft riecht nach Salamibrot und Bens Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.
„So“, zischt Ben. „War doch ganz einfach! Und so.“ Er holt mit dem rechten Fuß aus und tritt mit aller Kraft zu. Direkt in Mirkos Solar Plexus. „Fühlt sich wie jeder andere Schuh an, oder?“
Mirko gibt erstickte Laute von sich und sein Gesicht ist so bleich wie seine Spucke, neben der er jetzt liegt. Ben vermutet, dass seine Mutter einen Brief von der Schule bekommen wird. Eine Extraeinladung, wie der Direktor es nennt. „Frau Casper“, wird Direktor Korn sagen. „So geht das nicht weiter mit Bens aggressivem Verhalten!“
Und Mutter wird die ganze Nacht weinen.
Entschlossen schiebt Ben diese Gedanken in das Fleckchen seines Verstandes, das noch nicht mit dem Gedanken an eine warme Mahlzeit ausgefüllt ist.
Er wendet sich ab, schultert seinen Rucksack und wirft noch einen finsteren Blick auf den vor Angst schlotternden Alex.
Dann macht er sich zögernd auf den Weg zum Schlupfloch. Zum ersten Mal, und das ist ihm unendlich peinlich.
Unterwegs dreht er sich immer wieder um. Schließlich zieht er sich die Baseballkappe tief ins Gesicht und schlägt den Kragen seiner Jacke hoch. Obwohl es Spätherbst ist und dichte Wolken den Himmel bedecken, setzt er seine Sonnenbrille auf. Mit gesenktem Kopf rennt er über die Straße, ohne nach links oder rechts zu schauen.
Ein dicker Mercedes bremst scharf. Es stinkt nach verbranntem Gummi. Der Fahrer flucht so laut, dass Ben es durch die geschlossenen Fenster hören kann.
„Verdammter Bengel! Pass gefälligst auf, wo du hinläufst.“
Ben schaut nicht mal hin, zeigt im Vorbeilaufen nur den ausgestreckten Mittelfinger, denkt: Fick dich, Bonze!
Er hastet weiter und hofft, dass ihm niemand begegnet, der ihn erkennen könnte, bevor er im Hinterhof der evangelischen Kirche verschwindet.
Das muss das Schlupfloch sein.
Die dunkelbraune Flügeltür steht einladend auf, im Flur brennt Licht. Es riecht nach Essen. Das ungleichmäßige Summen vieler Stimmen ist zu hören. Es schwillt an, verebbt, wird wieder lauter. Jemand lacht. Ben bleibt unentschlossen stehen.
Plötzlich ist sie da.
Die Scham.
Sie überschwemmt ihn wie eine Welle siedendes Wasser, färbt sein Gesicht und die Ohren rot und treibt ihm sogar Tränen in die Augen. Sein Kehlkopf wird so dick und hart wie eine Walnuss. Es ist wie beim Untertauchen – der letzte Atemzug sitzt in der Lunge fest und man kann keine Luft holen.
Und doch ist da noch dieses andere Gefühl. Und es ist stärker. Triebhafter. Qualvoller.
Die Leere, das Grummeln und Gluckern, das schmerzhafte Zusammenziehen, als würde der Magen sich selbst verdauen.
Resigniert lehnt er sich gegen die Hauswand. Vor seinen Augen flimmert es und ihm wird so schwindelig, dass er sich an der Mauer festhalten muss.
„Scheiße! Stell dich nicht so an, du Lusche!“, beschimpft er sich selbst und geht auf den hellen Hausflur zu.
Bevor er eintreten kann, löst sich aus dem Licht ein Schatten. Ein kräftiger Mann mit Glatze und dunklem Vollbart schaut ihn an und für einen winzigen Augenblick denkt Ben daran, sich herumzuwerfen und davonzurennen.
Doch sein Hunger frisst zuerst die Scham und dann den letzten Fetzen Stolz.
Ben bleibt stehen.
„He Junge. Kann ich dir helfen?“, fragt der Glatzkopf mit sanfter Stimme.
Ben schweigt, schaut zu Boden und ballt die Hände in den Taschen seiner Jacke, die zu dünn ist für die kühle Jahreszeit.
„Hast du Hunger?“
Widerstrebend nickt Ben. Das Schamgefühl kehrt zurück und breitet sich in ihm aus, wie das Fieber einer Krankheit.
Der Mann kommt näher. „Ich heiße Eric Siebert und bin Sozialarbeiter. Wie ist dein Name?“
„Ben“, würgt er hervor. „Ben Casper.” Sein Magen knurrt laut. Verlegen nimmt er die Sonnenbrille ab und schaut Siebert an. „Meine Mutter kann nichts dafür!“, verteidigt er sie und sich. „Sie hat ihren Job verloren. Wir sind jetzt seit drei Jahren arbeitslos. Ich habe ausgerechnet, dass wir am Tag 5,24 Euro für Essen zur Verfügung haben. Manchmal ist gar kein Geld da. Wenn Mama nirgendwo welches herkriegt oder borgen kann, dann essen wir eben nicht.“
Das Arbeitslosengeld seiner Mutter reicht meist nur bis zum 18., bestenfalls 20. eines Monats. Dabei sparen sie an allen Ecken und Enden. Häufig geht Ben ohne Frühstück aus dem Haus und drei warme Mahlzeiten in der Woche sind Luxus. Die letzten Tage des Monats müssen sie extrem strecken.
„Du hast heute wohl noch gar nichts in den Magen gekriegt, hm?“ Siebert erwartet keine Antwort. Er nimmt Ben an den Schultern und schiebt ihn vor sich her in den Speisesaal der Suppenküche. Heute stehen Nudeln mit Schinken-Käse-Sahne Soße auf dem Speiseplan, die Ben besonders gern isst. Etwa 30 bis 40 Kinder sitzen an den langen Tischen und unterhalten sich über Fußball, Musik und die neusten Kinofilme.
„Wie gut, dass du uns pünktlich zum Essen besuchst. Komm, setz dich hin und hau rein.“ Eric lächelt ihn aufmunternd an und stellt ihm einen gefüllten Teller hin.
Ben schlingt die Portion dampfende Nudeln hinunter und reiht sich noch einmal bei der Essensausgabe ein, während sein Blick durch den Raum huscht.
In der Nische beim Fenster isst eine ganze Familie zu Mittag. Eltern, zwei Mädchen und ein Kleinkind. Am Tisch gegenüber vertilgt ein etwa achtjähriger Junge seine Mahlzeit.
Zwischendurch kommen immer mehr Kinder in die Suppenküche.
Billigkinder, denkt Ben. Wie ich.
Nachdem er einen zweiten Teller geleert hat, geht er in den Clubraum, wo bereits mit Feuereifer Billard, Kicker oder Tischtennis gespielt wird, und schaut eine Weile zu. Später, auf dem Weg nach draußen, muss er wieder durch den Speisesaal. Und da entdeckt er ihn.
Den Neuen.
Er sitzt alleine an einem Tisch, ganz hinten in der Ecke, und isst mit hastigen Bissen. Als er aufschaut, sieht er direkt in Bens Gesicht. Mirkos Augen weiten sich, er wird rot und wendet sich ab.
Ben weiß genau, wie sich das anfühlt. Er kennt das Glühen in den Wangen und das Brennen im Bauch nur zu gut. Er denkt an die Walnuss in seinem Hals. Und doch ist es bei weitem nicht so schlimm wie Hunger.
 Er sieht, wie Mirkos Schultern sich straffen, als er zu seinem Tisch geht. Ben starrt auf die Pumas, bis Mirko seinem Blick folgt und die wortlose Frage beantwortet: „Von meinem Cousin“, murmelt er. „Sie passen ihm nicht mehr. Ich bekomme alle seine abgelegten Klamotten.“
Langsam schiebt er sich eine Gabel Nudeln in den Mund und kaut darauf herum. Seine Augen glitzern verdächtig. Doch er weint nicht, schaut Ben stattdessen trotzig an.
Der stemmt die Hände in die Hüften und nagt nachdenklich an seiner Unterlippe. Blitzschnell hebt er den Arm und Mirko zuckt zusammen, wartet auf den Schlag ins Gesicht.
Aber der kommt nicht.
Nur eine Hand berührt ihn kurz an der Schulter, als Ben ihn anstößt und grinst. Ein wenig schief und verloren.
Aber satt.
„Billigkind“, sagt er.