Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Alltag

Feindselig

Ich glaube, es gibt Menschen, die werden böse geboren, so wie mit blonden Locken, Sommersprossen oder einer besonderen Begabung ... und das macht mir Angst.
Zunächst fällt es niemandem auf. Man nennt sie „Spätzchen“ oder „Murkel“ und schubst ihre Schaukel an. Sie werden geliebt, umsorgt und großgezogen, doch sobald sie stark genug sind, schlagen sie plötzlich zu.
Sie sind unkontrollierbar; nichts und niemand kann sie aufhalten, wenn sie wütend sind.
Und er ist wütend.
Irgendetwas hat ihn aufgebracht. Ich erkenne es an seinen Schritten, an der Art, wie er auftritt: schnell, fest und hart.
Ich flüchte mich in dieEcke neben dem Küchenfenster und versuche mich so klein wie möglich zu machen. Von einer Sekunde zur anderen, scheint kaum noch Sauerstoff in der Luft zu sein. Ich höre das Keuchen meiner Atemstöße, spüre, wie sich mein Brustkorb krampfhaft hebt und senkt – und habe trotzdem das quälende Gefühl zu ersticken.
Ich lasse die Tür nicht aus den Augen.
Zuerst fällt sein Schatten auf die hellen Bodenfliesen, verharrt dort, lang gezogen und verzerrt, wie die Gestalt in einem Albtraum.
Die Küche, eben noch ein großer Raum, kommt mir jetzt so eng wie eine Abstellkammer vor.
Der Schatten bewegt sich, er breitet sich aus wie ein grotesker Tintenklecks, als Mike sich hereinschiebt.
Ich sehe seine starken Arme mit den großen Händen, die sich zu Fäusten ballen, sich öffnen und wieder schließen.
Meinen Körper schüttelt es so sehr, dass meine Zähne wie Kastagnetten aufeinanderschlagen.
„Nein!“, schreit eine Stimme in mir. „NeinNeinNein!“ Aber heraus kommt nur ein Wimmern, erbärmlich und so leise wie das eines jungen Hundes.
Seine grauen Augen, die ich so gut kenne, sind keine Augen mehr. Es ist, als hätte sie jemand herausgenommen und durch polierte Kiesel ersetzt. Das Gesicht ist gerötet, die Steinaugen verengen sich zu Schlitzen, als er mich ansieht.
Kalt.
Feindselig.
Mein erster Gedanke ist zu schreien. Mein zweiter, mich zu wehren. Aber beides ist völlig sinnlos. Ich weiß das nur zu gut, und Mike weiß, dass ich es weiß.
Das Zittern hört nicht auf, meine Knie fühlen sich so weich und gefühllos an wie nach einer Betäubungsspritze. Schweißfeuchte Haarsträhnen fallen mir ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung wische ich sie beiseite, damit ich ihn besser sehen kann.
Mike kommt näher ... ganz nah ... steht vor mir. Er verströmt Nikotingeruch und Wut, blanke Wut.
Ich schiebe mich enger in den Winkel, presse mich gegen die Wand und möchte am liebsten in den Beton kriechen.
„Bitte, Mike“, flüstere ich, „bitte ...“
Obwohl ich seine Faust heranfliegen sehe, reiße ich meine Arme zu spät hoch. Der Schlag trifft meine linke Gesichtshälfte zwischen Nase und Wangenknochen. Es knirscht. Blut quillt hervor wie Wasser durch den Riss eines gebrochenen Damms, läuft über meine Lippen, das Kinn und von innen den Rachen hinunter. Es schmeckt warm, süßlich und kupfern, es schmeckt vertraut.
Meine Körpermitte ist ungeschützt, weil ich die Arme um den Kopf gelegt habe und Mike rammt mir blitzschnell seine Fäuste in den Bauch.
Mein Oberkörper klappt nach vorn, als hätte er Scharniere. Ich rutsche an der Wand nach unten, bis ich auf dem Boden sitze.
Der Tritt gegen meinen Hüftknochen ist eine glühende Speerspitze, die sich durch mich hindurchbohrt.
Für einen Augenblick vergesse ich alles, ich weiß nichts mehr, gar nichts, spüre nur meinen Herzschlag in der Brust, in den Fingerspitzen, überall.
Irgendwann lasse ich die Arme sinken, ganz langsam, als wären sie zerbrochen.
Da steht er.
Die fünfzehn Jahre mit ihm rasen wie mit Lichtgeschwindigkeit durch meinen Verstand. Ich habe ihn vom ersten Augenblick an geliebt, konnte ihn nicht oft genug streicheln, seinen Atemzügen lauschen oder seinen Worten – doch jetzt starre ich ihn nur an.
Mike.
Meinen Sohn.
Ich kann nicht sprechen, nicht weinen, ja, nicht einmal wütend sein.
Er bleibt ein paar Sekunden mit ausdrucksloser Miene stehen, dann dreht er sich um, geht, und überlässt mich meinem Gedankenkarussell: Ich glaube, es gibt Menschen, die werden böse geboren  ... und das macht mir Angst.