- Atemlose Stille
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Die schlimmen Sachen passieren nur anderen Leuten!, hatte Jan früher gedacht. Dann ereignete sich diese Geschichte im Sommer.
Es begann damit, dass er mit seinen Taxifahrerkollegen ins Brauhaus ging. Fünf Pils trank er, und zum Schluss zwei Klare. Trotzdem stand er sicher auf den Beinen, als er sich verabschiedete. Erst draußen auf dem Parkplatz spürte er den Alkohol. Ein böiger Wind war aufgekommen und Gewitterwolken verdunkelten den Abendhimmel.
Er klimperte zögernd mit den Schlüsseln und warf einen Blick auf sein Taxi, als ein Platzregen niederprasselte und ihm die Entscheidung abnahm. Eilig warf Jan sich hinter das Steuer. Es war ja nicht weit! Er würde vorsichtig fahren.
Die Straßen lagen verlassen da. Regen verwandelte sich auf dem aufgeheizten Asphalt in dunstige Schwaden und die Tropfen klatschten mit solcher Wucht auf die Scheibe, dass die Wischer nicht mehr nachkamen.
„Scheißwetter!“, fluchte Jan.
Er fuhr gegen den Bordstein, nur leicht, und kurz bevor er auf die Landstraße einbog, touchierte er das Wartehäuschen einer Bushaltestelle. Bloß ein bisschen mit der Stoßstange, kaum der Rede wert.
Ein Blitz zuckte auf und blendete ihn. Es folgte ein Grollen, das die Luft erzittern ließ.
„Ab nach Hause!“, brummte er und gab Gas.
Mit der Rechten tastete er nach dem Radioknopf. Nur für einen Moment wandte er den Blick von der Fahrbahn ab, da sah er etwas Gelbes aufblitzen. Es folgte ein dumpfer Schlag, ein Holpern über ein Hindernis und dann rammte er – viel zu spät - den Fuß auf die Bremse ...
Ein paar Atemzüge vergingen, bevor Jan die Taschenlampe aus dem Handschuhfach riss, ausstieg, zur Motorhaube taumelte und sich im strömenden Regen niederkniete. Er kniff die Augen zu, als könnte er mit seiner Weigerung hinzusehen alles ungeschehen machen. Schließlich beugte er sich vor und zwang sich unter den Wagen zu schauen.
Nichts!
Als er aufstand verwandelte das Licht eines Blitzes seine Erleichterung in Entsetzen, zeigte erbarmungslos, dass weiter hinten ein, nein zwei Bündel auf der Straße lagen. Jan stolperte hin und richtete den Lichtkegel darauf.
Der Hund war tot, das erkannte er sofort an dem verformten Schädel. Ein Rottweiler. Die lange Zunge hing ihm aus der Schnauze, einige Zähne waren abgebrochen und aus den geschlossenen Lidern sickerte eine breiige Flüssigkeit. Er trug ein rotes Halstuch mit gelben Knochen darauf.
Das Mädchen lag daneben wie eine fortgeworfene Schlenkerpuppe, die Arme und Beine grotesk verrenkt. Sie hielt noch immer die Hundeleine in der Hand. Ihr abgerissener kleiner Finger lag gekrümmt in einer Pfütze. Er sah aus wie eine große Garnele.
Die Kapuze des Regenmantels war nach hinten gerutscht. Ihr braunes Haar klebte an ihrem Kopf und Regen lief ungehindert in die aufgerissenen Augen. Dunkel waren sie, feucht und schimmernd, wie nasse Steine in einem Bach, und aus den Augenwinkeln rann ein ununterbrochener Strom von Tränen, als würde sie um ihren toten Hund weinen.
Jans Faust fuhr zu seinem Mund und erstickte einen Schrei. Immer wieder schüttelte er den Kopf.
„Nein!“, ächzte er, dann wich er ein paar Schritte zurück. Auf einmal saß er im Auto und raste davon.
Alles verloren!, heulte es in seinem Innern.
Ein Kind tot, der Führerschein weg, damit sein Job. Vielleicht musste er sogar in den Knast! Was sollte aus seiner Frau und seiner Tochter werden?
Niemand hat es gesehen! Der Gedanke bohrte sich wie ein hässlicher Splitter durch das Chaos in seinen Kopf. Niemand!
Die nächsten Stunden waren wie schwarze Watte, die an Stelle der Erinnerungen in seinem Hirn steckte. Der folgende Tag verging, ohne dass etwas geschah. Dann der zweite.
Jan aß, arbeitete, spielte mit seiner Tochter und versuchte zu schlafen. Und er sah sich selbst dabei zu, fühlte sich, als wäre auch ein Teil von ihm da draußen gestorben.Am dritten Tag holte ihn der Unfall ein.
„Drecksau!“, schimpfte Pia beim Frühstück.
„Sagt man nicht!“ Tina war begeistert, dass sie ihre Mutter bei einem Schimpfwort ertappt hatte.
„Ab und zu doch! Da fährt jemand ein Mädchen fast tot und haut einfach ab! Das arme Ding liegt im Koma.“
„Was ist Koma, Mama?“
„Ein tiefer Schlaf, aus dem man manchmal nicht mehr aufwacht.“
„Warum nicht?“
„Weil das Gehirn so schwer verletzt ist.“
„Träumt man?“
„Ich weiß es nicht.“
„Ist es ein bisschen wie tot sein?“
„Vielleicht.“
„Kommt man in den Himmel, auch wenn man noch nicht gestorben ist?“
Pia fuhr ihr über das Haar. „Ich glaube, diese Seelen warten an einem Ort zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, mein Schatz. Bis sie sterben und in das Reich der Geister gehen.“
Abrupt schob Jan seinen Stuhl zurück und stand auf. „Komm Tina, du musst in den Kinderhort.“
Sie schaute auf. Ihre Augen erinnerten Jan an ein anderes Paar Augen; dunkel und feucht, wie Steine in einem Bach. Ihn fröstelte.
In dieser Nacht geschah es zum ersten Mal. Es wurde lautlos, die Stille im Schlafzimmer war ohrenbetäubend.
Dann hörte Jan das Hecheln.
Zögernd richtete er sich auf.
Ein großer schwarzbrauner Hund ging im Zimmer umher und schnupperte, bevor er stehen blieb und Jan aus toten Augen anstarrte. Drohend zog er die Lefzen hoch. Jan konnte deutlich die abgebrochenen Zähne erkennen, und aus den Tiefen des kräftigen Leibes stieg ein Knurren. Um den Hals trug er ein rotes Tuch mit gelben Knochen.
„Geh weg!“, kreischte Jan und schleuderte sein Kissen nach dem Rottweiler.
„Was machst du da?“
Er fuhr zu Pia herum, die ihn verschlafen anblinzelte.
„Der Köter!“, wimmerte er. „Siehst du das verdammte Vieh nicht?“
„Da ist nichts. Du hast geträumt.“ Sie drehte sich um und schlief wieder ein.
Das Ding war fort, doch es hatte den unverkennbaren Geruch von nassem Hundefell zurückgelassen.
In den folgenden Nächten kehrte das Wesen zurück, irrte durch den Raum und grollte, sobald Jan sich rührte.
Jan fing an sich vor Hunden zu fürchten. Er wechselte den Bürgersteig, wenn ihm einer entgegenkam, und zuckte bei jedem Gebell zusammen.
„Fühlst du dich nicht wohl?“, wollte Pia einmal besorgt wissen. „Du bist so nervös in letzter Zeit.“
„Ich schlafe nicht gut“, war alles, was Jan sagte, und er dachte dabei voller Grauen an die Nächte.
Wenn er endlich in einen unruhigen Schlummer gefallen war, weckte ihn irgendwann diese unerklärliche Lautlosigkeit. Die Welt war so still, als hätte der Hund alle Geräusche gefressen. Bis auf das Hecheln und Knurren.
„Sie ist nicht hier“, stammelte Jan dann unter Tränen. „Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich habe das alles nicht gewollt! Das musst du mir glauben.“
Das Tier starrte ihn an, während eine helle Flüssigkeit aus seinen Augenhöhlen lief. Jan wagte nie sich zu rühren, er wandte sich nicht einen Augenblick von dem Rottweiler ab. Bis dieser sich irgendwann auflöste.
Er wollte den Hund nicht mehr sehen, konnte die vergebliche Suche der Kreatur nach dem Mädchen mit den Bachkieselaugen nicht länger ertragen.
Ebenso wenig die stumme Mahnung an seine Schuld.
Es war Zeit eine Entscheidung zu treffen.„Ich bin die Drecksau.“
„Was?“ Pia sah ihn verständnislos an.
„Ich bin die Drecksau, die das Mädchen fast totgefahren und liegen gelassen hat.“
„Spinnst du?“ Dann erinnerte sie sich an die Beule im Kotflügel und dass er den Wildschaden aus finanziellen Gründen selbst behoben hatte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht.
Eine Minute verstrich.
Eine zweite.
„Hilf mir, Pia!“
Sie hörte zu und weinte mit ihm, bis er die ganze Geschichte hervorgewürgt hatte. Nur von dem Hund sagte Jan kein Wort, aus Angst, sie könnte ihn für verrückt halten.
„Wir müssen zur Polizei.“ Pias Stimme klang leise und erschöpft. „Danach möchte ich mit Tina ein paar Tage zu meinen Eltern fahren. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“
Später, als er von der Wache zurück war und die Tür aufschloss, erschien ihm die Wohnung leblos ohne seine Familie. Fast, als wäre sein Zuhause gestorben.
Er schaute aus dem Fenster in die hereinbrechende Dunkelheit. Es hatte angefangen zu regnen. Draußen erkannte er schemenhaft ein Mädchen im gelben Regenmantel und sein Herz arbeitete wie ein Presslufthammer. Er riss das Fenster auf. „Warte!“
Das Kind sah einen Augenblick zu ihm hin, das Gesicht ein heller Fleck, dann verschwand es hinter den silbrigen Vorhängen des Regens, als wäre es niemals da gewesen.
Jans Hemd klebte an seinem Körper, als er das Fenster zuschlug. Er presste die Hände gegen seine pochenden Schläfen, kämpfte aber nicht länger gegen die Erschöpfung an. Obwohl er wusste, dass er nicht schlafen würde, zog er sich aus, legte sich hin. Und wartete.
Die Lautlosigkeit kam.
Dann das stoßweise Hecheln, dem kurz darauf ein Grollen aus tiefster Kehle folgte. Der Hund hockte nur eine Armeslänge von ihm entfernt und fixierte ihn aus weißen Augen. Plötzlich hob er den Kopf, stellte die Ohren auf und ließ die Schlafzimmertür nicht mehr aus den Augen.
Die Klinke wurde langsam heruntergedrückt. Sacht öffnete sich die Tür einen Spalt und schwang nach innen.
Niemand war auf dem dunklen Korridor zu sehen, doch der Rottweiler sprang auf und wedelte heftig mit dem Schwanz. Er tollte umher und gebärdete sich wie wild vor Freude. Einen Augenblick später stand er still und legte den Kopf schief, als würde er auf Worte lauschen, die Jan nicht hören konnte.
Jan wusste, was es bedeutete, als die Finsternis flirrte und das Mädchen im gelben Regenmantel, wie aus Licht gemacht, in das düstere Zimmer trat.
Bis sie sterben und in das Reich der Geister gehen, erinnerte er sich an Pias Worte.
Der Rottweiler machte Sitz. Das Mädchen tätschelte ihn zärtlich, kniete sich hin und befestigte die Leine an seinem Halsband. Der Hund leckte ihr über das Gesicht und folgte ihr freudig durch den Türspalt.
Kurz darauf hörte Jan, wie draußen vor dem Fenster jemand in Pfützen sprang. Und ein Bellen. Bis auf ein fernes Donnern und das Prasseln der Regentropfen gegen das Fenster wurde es still.In der darauf folgenden Nacht weckte ihn die ohrenbetäubende Lautlosigkeit. Es roch nach nassem Hundefell und er sah, dass die Finsternis flirrte als das Mädchen, wie aus Licht gemacht, mit dem Hund in das dunkle Schlafzimmer trat …