Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

FerngesprächFerngespräch

Ich werde die Nacht nie vergessen, in der mein Leben gerettet wurde.
Und das meiner Tochter.
Ich erinnere mich noch an jede kleine Einzelheit. Klar und deutlich. Es war die Nacht, in der ich nicht durch die Tür aus Glas ging. Ich war im Begriff sie zu durchbrechen. Aber in diesem Augenblick läutete das Telefon. Und es hörte nicht auf. Ich verharrte mitten in der Bewegung und wartete, dass es aufhörte zu klingeln. Ich stand, nur im Nachthemd und barfuss, auf den weißen Fliesen in der dunklen Küche. Meine Zähne schlugen aufeinander, obwohl ich weder Kälte noch Schmerz verspürte. Um meine Füße hatte sich eine kleine Pfütze dunklen Blutes gesammelt. Das Telefon wollte nicht aufhören zu schrillen.
Der Ton erzwang meine Aufmerksamkeit, drängte mich stehen zu bleiben und verlangte, dass ich ihm lauschte. Ich glaubte zu spüren, wie das dringliche Läuten mir befahl: Geh an den Apparat. Sofort!
Schließlich gehorchte mein betrunkener Körper, wandte sich von der Tür ab und ging schwankend durch das angrenzende Esszimmer ins Wohnzimmer. Meine Fußsohlen hinterließen feuchte, rote Teilabdrücke auf dem hellen Laminat. Und große Blutstropfen fielen auf die dicke Berberbrücke vor dem Telefon.
Die blauen Leuchtziffern auf dem Videorekorder verrieten mir, dass es 2.38 Uhr war.
Das elles nahm ich überdeutlich wahr.
Ich trank den Rest aus der Wodkaflasche, bevor ich zögernd den Hörer aufnahm. Das Klingeln endete augenblicklich.
„Hübel“, meldete ich mich mit schwerer Zunge.
„Hallo, hier ist die Telefonseelsorge. Ist alles in Ordnung bei Ihnen“, fragte eine ruhige Frauenstimme mich freundlich.
„Was ist ...?“ Ich war verwirrt.
„Hier ist die Telefonseelsorge. Ich rufe nur an um zu fragen, ob alles in Ordnung ist.“
„Ich glaube, ich blute doll“, antwortete ich unsicher. „Und ich habe Marie-Christin sehr, sehr weh getan.“
Dann weinte ich hemmungslos. WEITER

Marie-Christin wurde vor vier Jahren geboren und war unser Wunschkind. Ich liebte sie von dem Augenblick an,  als ich sie zum ersten Mal in meinen Armen hielt und sie mich mit ihren blauen Babyaugen ansah.
Auch Robert, mein Mann, war überglücklich. Er war einer der fürsorglichsten und verständnisvollsten Menschen, die ich kannte. Er nannte das Neugeborene zärtlich: meine kleine Blume. Schon vom ersten Tag ihres Lebens an hatte Marie-Christin ihren Vater fest in ihrer winzigen Hand.
Am Tag ihrer Geburt schwor ich mir, dass es ihr bei mir immer gut gehen sollte. Gleichgültig, was das Leben uns bringen mochte. Ich würde sie niemals schlagen, so wie mein Vater mich geschlagen hatte. Nie! Bei den kleinsten Vergehen wurde ich ins elterliche Schlafzimmer beordert. Vater setzte sich auf das Ehebett und befahl mir, ihm meinen Hintern völlig nackt hinzuhalten. In der Zeit, in der ich mich zitternd vor Angst entkleidete, zog er mit beinahe zärtlichen Bewegungen seinen Gürtel aus der Hose.
Untenherum völlig nackt, legte ich mich gehorsam über seinen Schoß. Das Gesicht nach unten. Am ganzen Leib bebend. Alles andere hatte keinen Zweck, verschlimmerte die Situation nur. Das wusste ich aus leidvoller Erfahrung. Also legte ich mich widerstandslos hin und er verabreichte mir meine Strafe. Erst mit seiner großen, starken Hand, dann, wenn sein Schnaufen lauter wurde, nahm er den Gürtel um mich zu schlagen. Und wenn ich vor Schmerzen schrie, wurden seine Hiebe schmerzhafter und immer hektischer, bis er  ganz plötzlich mit einem eigenartigen Laut aufhörte.
Unsere Mutter und meine großen Brüder standen vor der abgeschlossenen Tür. Mutter starr und stumm, Volker verzweifelt weinend und der ältere Thomas fluchend und mit der Faust gegen die Schlafzimmertür hämmernd.
Es half nichts.
Einmal hatte Thomas versucht mich daran zu hindern, in das Schlafzimmer zu gehen. Daraufhin zerrte mein Vater ihn in das Zimmer. Die Tür wurde wie üblich zugeschlagen und verriegelt. Ich weiß nicht, was dann geschah. Obwohl ich deutlich Geräusche von Schlägen hörte, gab Thomas keinen Mucks von sich. Als er wieder herauskam, waren beide Augenbrauen aufgeplatzt und Blut lief über sein bleiches, angespanntes Gesicht.

Mit zwölf bekam ich meine Periode. Ich war nicht ausreichend aufgeklärt und zu Tode erschrocken. Mutter drückte mir eine Binde in die Hand und meinte, dass ich nun Babys bekommen könnte und mich vor „dem anderen Geschlecht und seinen Schweinereien“ fernhalten sollte. Ansonsten wäre ich das, was man allgemein als Hure bezeichnete. Was immer das sein mochte.
Am gleichen Tag bekam ich eine Tracht Prügel nach dem üblichem Muster, weil ich eine Mathearbeit verpatzt hatte. Ich fühlte mich wegen meiner Blutungen erniedrigt wie nie zuvor und leistete mir selber einen Schwur: `Sollte ich jemals Kinder bekommen, werde ich sie nie schlagen. Egal, was geschieht!´
Den Schwur erneuerte ich am dem Tag, als Marie-Christin geboren wurde.

Keine vier Jahre später, ich war seit fünf Monaten alleinerziehende Mutter, brach ich den Eid. Marie-Christin hatte sich beim Spielen vergessen, und in die Hose gemacht. Es war nicht so schlimm, nur Pipi. Ich weiß nicht, warum der Jähzorn mich packte und ich ihr ins Gesicht schlug. Zum ersten Mal in ihrem Leben schlug ich sie. Ich wollte es nicht! Doch ich tat es. Sehr hart. Sie schrie vor Schock und Schmerz auf, was mich nur noch wütender machte. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich auf sie einschlug. Nur, dass ich es tat und dann wütend das Kinderzimmer verließ.
Ihr Wimmern und Schluchzen verfolgte mich noch eine Weile und je mehr meine Wut verebbte, desto elender fühlte ich mich. Endlich war sie still!
Als ich in ihr Zimmer schlich, fand ich sie zusammengerollt neben der Heizung liegend. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen. Deutlich erkannte ich feuerrote Abdrücke meiner Hand in ihrem zarten Gesicht. Die Oberlippe war geschwollen und die Nase hatte geblutet.
Ich habe mich noch nie so geschämt! Ich weinte heiße Tränen und strich ihr das schweißfeuchte, feine Haar aus der Stirn. Sie erwachte nicht. Vorsichtig zog ich sie aus und legte sie in ihr Bettchen.
Im Wohnzimmer goss ich mir einen Weinbrand ein. Nur einen kleinen. Ich war nicht an Alkohol gewöhnt und die wohltuende Wirkung setzte fast augenblicklich ein. Für den Moment half es mir. Ich fühlte mich gelöst und entspannt. Reuevoll erneuerte ich den Schwur, meine Tochter nicht zu schlagen. Nie, nie wieder! Ich genehmigte mir noch einen Drink. Einen größeren.
Es sollten noch viele folgen.
Eide, die ich brach, und Drinks.

Es gab gespenstische Augenblicke, in denen ich meinte, einen Blick in meine Vergangenheit zu werfen.
Genau wie ich damals lernte auch Marie-Christin schnell die Situation einzuschätzen.
Kinder, die misshandelt werden, entwickeln eigene Strategien um sich zu schützen. Schon die Jüngsten! Das wusste ich aus eigener Erfahrung, und daran erinnerte mich mein Unterbewusstsein. Auch, wenn ich es verdrängte.
Marie-Christin war gerade vier Jahre alt, aber sie wusste, wann sie besser von der Bildfläche verschwand. Ihre Strategie war es, sich unsichtbar zu machen.
Dass ich mein kleines Mädchen misshandelte, gestand ich mir nicht ein.
Und auch nicht, dass ich zu viel trank.
Wenn ich die Grenze zur Alkoholikerin noch nicht überschritten hatte, dann würde es in naher Zukunft so weit sein. Den ersten Schluck nahm ich bereits nach dem Frühstück! Scheinbar half der Alkohol. Er wirkte schnell und machte mich binnen kürzester Zeit zu einer gut gelaunten, leutseligen Mama, die liebend gern mit ihrer Tochter spielen, kuscheln, lesen oder fernsehen wollte. Der Schnaps gaukelte mir vor, ich wäre die Mutter, die ich sein wollte. Und ich glaubte es. Lustig, überschwänglich oder überdreht, so wie nur Säufer es sind, wenn sie ihren erste Tagesdosis intus haben, widmete ich diese Zeit meiner Tochter.
Nach dem sechsten oder siebten Glas Wodka wurde ich schläfrig. Immer.
Dann war Marie-Christin einStörfaktor. Sie wollte essen, ich wollte schlafen. Sie wollte trinken, ich wollte schlafen. Sie wollte schmusen, ich wollte schlafen. Ich war müde und ausgelaugt.
Ihre harmlosen, alltäglichen Bedürfnisse machten mich aggressiv. Ich brüllte sie an - und das Schreien machte mich wach, schürte meine Wut und ließ sie wachsen. Sie loderte so stark in mir, dass ich meinte es nicht länger ertragen zu können! Dann schlug ich zu. Immer zuerst auf ihre linke Gesichtshälfte. Es folgte die Raserei.
Manchmal kam es jedoch nicht dazu, denn sie konnte sich wieselflink davonmachen. Ich habe nie herausgefunden, wo sie sich verkroch. Sie blieb stundenlang verschwunden.
Sie aß immer, was sie finden konnte. Manchmal lag ein Paket Cornflakes oder Fruit Loops auf dem Boden ihres Zimmers. Sie aß die Flocken trocken, wenn ich ihr nichts gab, weil ich volltrunken im Wohnzimmer auf der Couch vor mich hindöste.
Sie ging ins Bett, wenn sie müde war und sicher sein konnte, dass ich ihr nicht weh tun würde, weil ich meinen Rausch ausschlief und leise vor mich hin schnarchte. Das war ein sicheres Zeichen für sie, dann kam sie herbeigeschlichen und legte sich schlafen.
Ihr Haar war immer öfter ungekämmt und strähnig. Sie kaute ständig an ihren Fingernägeln und knibbelte sich die viel zu langen Zehennägel ab. Ihre Kleidung war schmuddelig und ungepflegt.
Genau wie ich.
Marie-Christins Blick war stets wachsam und sie beobachtete mich. Wenn meine trunkene Fröhlichkeit zum Vorschein kam, setzte sie mechanisch das von mir erwartete Lächeln auf. Es war starr,  lag auf einem Gesicht mit bangen Augen. Sie behielt ihre „ich-bin-ein-fröhliches-Kind“ - Maske so lange auf,  bis es Zeit für sie wurde, sich unsichtbar zu machen.
Meine Tochter vertraute mir nicht mehr. Sie wurde ängstlich, misstrauisch und zum Bettnässer.
Das alles sah und erkannte ich deutlich, wenn ich nüchtern war. Und dann schämte ich mich entsetzlich! In diesen Augenblicken versprach ich mir fest, dass ich aufhören würde mit der Trinkerei. Aber das brachte Robert auch nicht wieder zurück. Ich musste meine Probleme angehen und sie lösen. Allein! Mein Kind brauchte eine vernünftige Mutter und ein anständiges Zuhause. Eine Zukunft!
Dann nahm ich mich zusammen! Für kurze Zeit funktionierte es: Ich badete meine Tochter, die es unwillig und steif über sich ergehen ließ. Ich wusch unsere Wäsche, bügelte sie und putzte gründlich die Wohnung und den Hausflur.
In diesen Zeiten plauderte ich auch ab und an mit Frau Banasch, meiner ältlichen Nachbarin. Sie war sehr freundlich und seit etwa einem Jahr Witwe. Einige Mal fragte sie mich, ob ich nicht mit ihr auf den Friedhof gehen wollte. Aber ich lehnte jedes Mal mit einem stummen Kopfschütteln ab.
Wenn ich nüchtern war und unsere Sozialhilfe von der Sparkasse abgeholt hatte, ging ich einkaufen. Dabei dachte ich daran, dass Marie-Christin bald in den Kindergarten kam. Dann könnte ich wieder als Bürokauffrau arbeiten. Wenigstens vormittags. Das malte ich mir aus. Alles würde gut werden! Zuversicht durchströmte mich und ich glaubte sogar, mein Leben ohne Robert in den Griff zu bekommen.
Ich versuchte, ein neues Vertrauensverhältnis zu meiner kleinen Tochter aufzubauen, die ich von ganzem Herzen liebte! Aber sie blieb misstrauisch. Sie wusste inzwischen, dass diese Phasen nie lange anhielten.
Mal rührte ich drei Tage keinen Tropfen an. Manchmal sechs. Das Längste waren zwei Wochen. Dann nahm ich zur Entspannung einen kleinen Wodka und Marie-Christin machte sich unsichtbar.
Der Teufelskreis hatte wieder begonnen.
Aber die Dinge bleiben nicht gleich. Sie entwickeln sich weiter, verändern sich und manchmal eskalieren sie. Zum Guten oder zum Schlechten. Es gibt einen Wendepunkte im Leben eines jeden Menschen. Die Nacht, in der die Telefonseelsorge anrief, war so ein Punkt in meinem Leben.
Zufällig hatte ich an diesem Tag eine Sendung über anonyme Alkoholiker im Radio gehört. Ein Mann erklärte, dass kein Trinker je geheilt oder trocken wäre. Er hätte lediglich seit soundso vielen Tagen nicht getrunken. Der Mann selbst hatte seit 2482 Tagen nicht getrunken. Ich hatte seit vier Tagen nicht getrunken.
Es war kurz nach 23.00 Uhr, als ich es nicht mehr aushielt. Wozu auch? Schließlich war ich keine Alkoholikerin! Das erste Glas trank ich auf ex. Ich zog mein Nachthemd an, trank einen zweiten, großen Wodka und setzte ich mich ins Wohnzimmer auf die Couch. Eine Weile zappte ich durch das Programm, schließlich sah ich mir eine alte Folge der Lindenstraße an.
Marie-Christin kam ins Wohnzimmer, warf einen Blick auf mich und machte hastig kehrt. Sie begriff sofort, dass ich betrunken war. Sie schlug die Wohnzimmertür zu und ich hörte ihre eiligen, nackten Füße über den Boden tappen. Dann war es still.
Wut stieg in mir auf! Was glaubte das kleine Luder eigentlich, wer sie war? Mich, ihre eigene Mutter so zu behandeln!
Ich würde ihr schon Manieren beibringen!
Erst schüttete ich einen doppelten Wodka in mich hinein und dann machte ich mich auf die Suche nach diesem kleinen Miststück.
Aber ich fand Marie-Christin nicht. Sie war mal wieder wie vom Erdboden verschluckt.
Ärgerlich zwang ich mich, wach zu bleiben. Ich lauerte auf sie. Sie würde ihrer gerechten Strafe nicht entgehen! Ich trank, wartete und täuschte schließlich Schlaf vor.
Irgendwann trieb der Hunger sie aus ihrem Versteck.
Sie schlich in die Küche, nahm ein trockenes Brötchen und einen Apfel. Als sie zurück in ihren Unterschlupf wollte, versperrte ich ihr den Weg.
Voller Zorn versetze ich ihr eine schallende Ohrfeige. Dann noch eine. Sie hob ihre mageren Ärmchen, um ihren Kopf zu schützen. Unermüdlich prasselten meine Hiebe auf sie nieder, egal, wo ich sie erwischte.
„Du glaubst, du kannst deiner Mutter die zuschlagen?“, zischte ich, und erkannte meine eigene Stimme nicht, so boshaft und hasserfüllt klang sie.
„Nein, Mami! Nein! Es tut mir Leid! Es tut mir Leid... bitte“, stammelte sie mit ihrer Kleinmädchenstimme, die meine Wut nur noch weiter anfachte.
„Das hättest du dir eher überlegen sollen! Damit du aber nicht vergisst, dass man so etwas nicht mit seiner Mutter tut, erteile ich dir jetzt eine Lektion, die sich gewaschen hat“, tobte ich.
Es war das erste Mal, dass ich sah, wie einem Menschen alles Blut aus dem Gesicht wich. Sie wurde kreidebleich und zitterte. Tränen kullerten über das kleine Gesicht. Verzweifelt versuchte sie sich aus meinem Griff zu befreien, aber ich war stärker! All das stimmte mich nicht gnädiger, sondern provozierte meinen Hass - meinen Hass auf alles und jeden.
Und meine Unfähigkeit.
Sie ließ das alte Brötchen und den Apfel fallen und machte Pipi in die Hose. Wie von Sinnen zerrte ich sie zu der Wohnzimmertür, die sie mir vor der Nase zugeschlagen hatte.
Marie-Christin wehrte sich, doch ich prügelte sie dorthin und riss an ihren Haaren, und einige blieben an meinen klammen Fingern kleben.
Rasend nahm ich die zerbrechliche Kinderhand mit den abgekauten Nägeln, schob sie mit Gewalt zwischen Tür und Angel –und klemmte ihre Finger brutal ein.
Ihr Schrei war so markerschütternd, so furchtbar, dass ich schlagartig nüchtern wurde und die Tür wieder aufriss. Das Kind machte sich mit einem Ruck von mir los, nutzte das Überraschungsmoment und rannte, hohe Schmerzlaute ausstoßend, davon. Blitzschnell verkroch sie sich in ihrem Versteck und ich konnte sie nicht finden.
Ich weinte und lockte sie mit meiner zärtlichsten Stimme: „Kleine Blume, bitte verzeih mir ... bitte verzeih mir ... komm zu Mami ... bitte... ich tue dir nicht mehr weh ... nie wieder ... Alles wird gut ... alles wird gut ...“
Natürlich kam sie nicht. Es blieb totenstill. In meiner Verzweiflung trank ich noch mehr Wodka.
Gedankenkreisten unaufhörlich in meinem Schädel wie in einer irren Karussellfahrt. Wie sollte ich das alles länger ertragen? Warum tat ich so furchtbare Dinge? Was, wenn ich sie umgebracht hatte? Totgeschlagen? Das Liebste, was ich auf der Welt hatte. Was, wenn ich diesmal zu weit gegangen war und sie so schwer misshandelt hatte, dass sie Kopfverletzungen davongetragen hatte? Oder wenn sie nie wieder ihre Hand gebrauchen könnte? Wo hatte sie sich versteckt? Vielleicht war ihr kleines, gequältes Herz einfach stehen geblieben, nachdem ich sie gefoltert hatte.
Ich wollte das doch gar nicht! Was für ein krankes Monster war ich? Ich war eine  Teufelin; ihrer nicht wert. Ich war gar nichts wert. Ich sollte tot und begraben sein.
Über Stunden blieb es still in der Wohnung. Ich rollte mich wie ein Embryo auf dem Teppich zusammen. Ich machte kein Licht, ließ die gnädige Dunkelheit in alle Räume, damit ich das Schlimme nicht sehen musste.
Und ich trank weiter, in der Hoffnung, dass ich auf diese Art - feige und ohne etwas dazu zu tun - krepieren würde. Totgesoffen. Dann wäre ich wenigstens bei Marie-Christin, wenn sie tot war, und...
Da!
Ich setzte mich auf und lauschte angestrengt. Hatten mir meine trüben Sinne einen Streich gespielt?
Dann hörte ich es wieder: Ein leises Wimmern, ein kaum hörbares Rascheln.
Marie-Christin!
Blind stand ich auf. So schnell es mir in meinem Zustand möglich war, rannte ich durch die Küche auf die Laute zu, die ich gehört hatte.
Die Welt verwandelte sich für einen Augenblick in einen Ball aus Lärm, Finsternis und Schmerz. Es war, als liefe ich mit aller Macht gegen eine Wand und im gleichen Moment hörte ich ein solches Krachen und Splittern, dass mir die Ohren weh taten! Ein Höllenlärm, laut wie ein Düsenjet, brach über mich herein und ich wusste nicht, woher das Getöse kam. Ein harter, schmerzhafter, für mich unsichtbarer Regen prasselte auf mich nieder.
In dem infernalischen Krach hörte ich eine Stimme. Ein lautes Rufen, das allen Lärm übertönte. Nur ein einziges Wort. Meinen Namen: „Christina!“
Abrupt blieb ich stehen.
Ich atmete schwer. In meinen Ohren pfiff es und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, taub zu sein. Ich spürte kitzelnde, kleine Bäche, die wie Tränen von meiner Stirn und meinen Wangen über mein Gesicht liefen. Sie sickerten aus meinem Hals, meinen Armen und quollen aus meiner Brust und aus meinem Bauch. Das hellblaue Nachthemd fühlte sich warm und feucht an. Um meine Füße sammelte sich Blut, das aus zwei tiefen Wunden aus meinem linken Bein rann. Mein rechter Arm wies einen tiefen, waagerechten Schnitt in der Armbeuge auf, dort, wo Ärzte das Blut abnahmen. Es blutete sehr stark.
Schmerz fühlte ich nicht.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich sah, bis ich begriff, was geschehen war. Ich war vor die geschlossene Glastür zwischen der Küche und der Diele gerannt, und sie zerbrach unter der Wucht des Aufpralles. In ihrer Mitte sah ich ein großes, gezacktes Loch, gerahmt von armlangen, dolchspitzen Splittern, die mich an Eiszapfen erinnerten.
Das Mondlicht brach sich in gläsernen Stalagmiten und Stalaktiten.
Hätte ich nicht geglaubt, seine Stimme zu hören und wäre weiter gerannt - ich wäre tot. Aufgespießt von einem Stalagmiten aus Glas oder durchbohrt von einem Glaszapfen  im oberen Türrahmen.
Blutend stand ich im Mondlicht und eine Erkenntnis traf mich mit voller Wucht: Ich wollte tot sein. Ich hatte versagt, mich am eigenen Kind versündigt. Meine Tochter, die ich über alles liebte, hatte Angst vor mir. Zu Recht! Ich war trunksüchtig. Eine schlampige, gewalttätige Säuferin.
Hilflos und einsam. Ich war verloren.
Marie-Christin wäre ohne mich besser dran. Sie war niedlich und es würde sich schnell eine liebevolle Pflegefamilie für sie finden.
Ich war zu einem Menschen geworden, der ich nicht sein wollte, und hatte nicht die Kraft, das zu ändern.
Hier und jetzt sollte Schluss sein.
Ich würde diesen letzen Schritt tun. Es würde wie der Unfall einer Betrunkenen aussehen.
Langsam machte ich einen Schritt nach vorn. Ich wollte durch die gläserne Tür hindurchgehen.
In diesem Augenblick läutete das Telefon. Und es hörte nicht auf. Ich verharrte mitten in der Bewegung und wartete. Ich stand, nur im Nachthemd und barfuss, auf den weißen Fliesen in der dunklen Küchen. Meine Zähne schlugen aufeinander, obwohl ich weder Kälte noch Schmerz verspürte. Um meine Füße hatte sich eine kleine Pfütze dunklen Blutes gesammelt. Das Telefon wollte nicht aufhören zu schrillen. Der Ton erzwang meine Aufmerksamkeit, drängte mich stehen zu bleiben und verlangte, dass ich ihm lauschte. Ich glaubte zu spüren, wie das dringliche Läuten mir befahl: Geh an den Apparat. Sofort!
Schließlich gehorchte mein betrunkener Körper, wandte sich von der Tür ab und ging schwankend durch das angrenzende Esszimmer ins Wohnzimmer. Meine Fußsohlen hinterließen feuchte, rote Teilabdrücke auf dem hellen Laminat. Und große Blutstropfen fielen auf die dicke Berberbrücke vor dem Telefon. Die blauen Leuchtziffern auf dem Videorekorder verrieten mir, dass es 2.38 Uhr war.
Das alles nahm ich überdeutlich wahr.
Ich trank den Rest aus der Wodkaflasche, bevor ich zögernd den Hörer aufnahm. Das Klingeln endete augenblicklich.
„Hübel“, meldete ich mich mit schwerer Zunge.
„Hallo, hier ist die Telefonseelsorge. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte eine ruhige Frauenstimme mich freundlich.
„Was ist...?” Ich war verwirrt.
“Hier ist die Telefonseelsorge. Ich rufe nur an um zu fragen, ob alles in Ordnung ist.”
„Ich glaube, ich blute doll“, antwortete ich unsicher. „Und ich habe Marie-Christin sehr, sehr weh getan.“
Dann weinte ich hemmungslos.
„Scht“, sagte die Stimme am Telefon beschwichtigend. „Scht, Christina. Sei ganz ruhig. Alles wird gut.“
„Das glaube ich nicht“, flüsterte ich.
„Doch, vertrau mir! Willst du mir sagen, wo du blutest?“
„Im Gesicht, an der Brust und am Bauch. Aber am schlimmsten am Bein. Und aus meinem Arm blutet es. Viel.“ Ich wurde müde.
„Das hast du mir gut erklärt, Christina“, sagte die Frau gelassen. „Bleibe jetzt bitte am Telefon und höre zu, was ich dir erzähle, ja?“
Ich nickte, doch die Frau konnte es ja nicht sehen und fragte noch einmal nach: „Hörst du mir zu, Christina?“
„Ja, ja. Aber ich will schlafen.“
„Später kannst du dich ausruhen, jetzt musst du mir zuhören, Christina. Blutet Marie-Christin auch?“
„Nein ... ich weiß nicht. Ich habe sie geschlagen ... Ins Gesicht, am Kopf ... überall ... die Finger eingeklemmt. Sie hat sich unsichtbar gemacht.“
„Ich verstehe“, hörte ich die beruhigend Stimme. „Das ist jetzt nicht so wichtig, wir können uns gleich darum kümmern. Warum blutest du so stark, Christina?“
„Ich bin durch die Küchentür ... gefallen. Fast. Die Glastür ...“ Ich schaffte es nicht, den Satz sinnvoll zu beenden. „Zu viel Wodka.“
„Es ist gut, Christina. Pass auf, ich werde jetzt ein paar Freunde von mir vorbeischicken, die sich um Marie-Christin und dich kümmern werden, in Ordnung? Du musst die Tür öffnen und du darfst nicht einschlafen. Kannst du das?“
„Ich glaube ja.“
„Gut! Das machst du wirklich gut, Christina!“, sagte die freundliche Unbekannte „Du kannst zuhören, wie ich meine Freunde anrufe und zu dir schicke. Wo wohnst du, Christina?“
„Franz Molnàr Ring 8“, antwortete ich wie ein kleines Kind.
„Schön. Jetzt höre zu, wie ich telefoniere. Kannst du das, ohne einzuschlafen?“
„Ich weiß nicht.“
„Versuch es, Christina!“ Die Stimme hörte sich jetzt fordernd an und ich gehorchte.
Ich lauschte einem undeutlichen Gemurmel, dann war die Stimme wieder da und half mir mit viel gutem Zureden, wenigstens meine Wohnungstür zu öffnen.
„Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Christina! Gleich kommt Markus Walser. Er ist Arzt, bekomme also keinen Schreck! Und noch zwei Freunde werden dabei sein. Ein Mann und eine Frau. Sie heißen Johannes Lichtenberg und Katja Schoppe. Es sind Polizisten, Christina, hast du Angst vor der Polizei?“
„Nein. Ich lege jetzt auf. Bin müde.“
„Warte noch! Willst du denn gar nicht wissen, wie es kommt, dass ich dich angerufen habe?“, fragte sie, um mich weiter bei der Stange zu halten.
Ich hörte in der Ferne zwei unterschiedliche Martinshörner von Einsatzfahrzeugen, die rasch näher kamen.
„Warum haben Sie angerufen?“, flüsterte ich.
„Robert hat mich gebeten“, sagte sie mit sanfter Stimme.
Ich fing an zu lachen. Ich lachte und lachte, bis mir Tränen über das Gesicht kullerten, und konnte nicht mehr aufhören! Irgendein rationaler Teil von mir betrachtete das alles und wusste, dass ich hysterisch war. Trotzdem konnte nicht aufhören zu lachen.
Die Frau ließ mich lachen. Sie schwieg, aber ich hörte sie atmen.
Unten auf der Straße vor dem Haus verstummten die Sirenen. Ich hörte, dass es bei Frau Banasch nebenan klingelte und wie sie kurz darauf den Türöffner betätigte. Die Schritte mehrerer Leute eilten durch das Treppenhaus.
„Wissen Sie was?“, fragte ich. „Ich glaube Ihnen kein Wort! Sie sind eine verdammte Lügnerin!“
Die Schritte waren jetzt ganz nahe und ich wollte schon auflegen, als die Frau von der Telefonseelsorge sagte: „Ich lüge nicht, Christina, warum sollte ich das tun? Dein Mann rief mich an! Die Verbindung war sehr schlecht, ein ständiges Rauschen und Wispern. Es war ein Ferngespräch. Trotzdem konnte ich deutlich verstehen, wie er sagte: „ Mein Name ist Robert Hübel. Ich bin weit weg von zu Hause. Sie müssen meine Frau Christina anrufen, und ihr helfen. Sofort!“ Dann gab er mir Ihre Telefonnummer.“
Ich schwieg.
„Warum wollen Sie mir nicht glauben, Christina?“
„Weil Robert seit sieben Monaten tot ist. Er hatte einen Autounfall.“
Da wurde mir sanft der Hörer aus der Hand genommen und ein großer, vertrauenerweckender Mann in einem weißen Kittel leuchtete mir mit einer kleinen Lampe in die Augen, bevor er mir eine Spritze gab.
Und dann war alles schwarz um mich.

Ich glaube nicht an übersinnliche Erscheinungen.
Zeichen aus dem Jenseits? Stimmen aus dem Nichts?
Für mich ist das unvorstellbar!
Trotzdem: Ich habe keine Erklärung für das, was passiert ist, und kann die Geschehnisse nur so erzählen, wie ich sie erlebt habe.
Natürlich frage ich mich, wer die hilfsbereite Frau bei der Telefonseelsorge angerufen hat. Eventuell hat sie sich die Geschichte ausgedacht um mich wach zu halten. Oder sie hat sich einfach getäuscht oder sich verhört.
Ich weiß es wirklich nicht!
Was, wenn Robert tatsächlich wollte, dass ich lebe und mich gut um unsere kleine Blume kümmere? So, wie sie es verdiente. Vielleicht konnte er mich nicht erreichen, weil ich von zu viel Alkohol benebelt war.
Ich habe keine Ahnung.
Er wird seinen letzten Willen bekommen.
Seit der Nacht, in der ich gerettet wurde, hat sich mein Leben verändert.
Ich habe seit 32 Tagen nicht getrunken.

Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, überwies man mich in eine Psychiatrische Klinik für misshandelte Frauen und Kinder.
Marie-Christin ist auch dort.
Sie wurde in einer anderen Abteilung untergebracht als ich und wir haben uns seit drei Wochen nicht gesehen.
Ich lerne, Konflikte und Probleme ohne Gewalt zu lösen. Nicht so, wie mein Vater es mich lehrte. Ich verstecke meinen Hass und meine Wut auf ihn nicht länger. Ich lüge und leugne nicht mehr und arbeite ständig an mir.
Die Ärzte, Schwestern und nicht zuletzt die anderen Opfer - die gleichzeitig auch hilflose Täter sind - machen mich stärker. Sie helfen mir. Ich wünsche mir, dass meine kleine Blume mir verzeiht. Ich weiß, sie wird das Schreckliche nie vergessen. Aber sie ist jung. Und ihr Herz ist groß. Sie ist stärker als ich. Wie ihr Papa. Ich bete, dass sie mir verzeiht.
Morgen werde ich sie sehen.
Nur einmal hatte ich schon solche Angst. Als man mir sagte, das Robert tot ist und ich dachte, ich bin allein.
Ich will es schaffen, ein normales Leben zu führen, denn ich bin nicht allein. Es gibt Menschen, die da sind und anderen in ihren dunkelsten Stunden beistehen.
 Hilfe kann viele Formen annehmen: Sie kann die freundliche Stimme einer Helferin der Telefonseelsorge in der Nacht sein. Oder ein Ferngespräch sein von weit, weit her ...