- Schlüsselkind
`In diesem Haus ist es niemals still.` Tanja lauschte den gedämpften Geräuschen und Stimmen, während sie durch den dämmrigen Korridor ging. Hier hatte sie einmal gewohnt. Damals, nachdem die Sache mit Jennifer passiert war und sie dringend ein Dach über dem Kopf brauchte. Und Menschen, echte Menschen. Nicht solche wie Jens.
Die Absätze ihrer Sandalen klapperten leise, als sie die Treppen nach unten lief.
Vor drei Jahren war sie ausgezogen, doch sie kam regelmäßig zurück. Ehrenamtlich. Hörte zu, tröstete und versuchte Zuversicht einzuflößen. Genau, wie andere Frauen es seinerzeit für sie getan hatten.
Sie prüfte, ob die Fenster geschlossen waren. Auch die vergitterten im Erdgeschoss. Tanja rüttelte an den Klinken sämtlicher Türen. Sie waren abgesperrt. Die Nacht konnte kommen.
In einem der Schlafsäle greinte ein Kind. Abrupt blieb sie stehen.
„Scht! Es war nur ein böser Traum,“ beschwichtigte eine Mutter.
Einen Moment lang glaubte Tanja, dass es ... aber nein. Wie dumm von ihr! Zögernd setzte sie ihren Rundgang fort. Sie kam an der angelehnten Küchentür vorbei. Ein paar Frauen saßen um den Tisch und unterhielten sich leise. Sie wusste, dass einige dorthin zurückkehren würden, von wo sie geflüchtet waren. Nicht alle waren stark genug für ein neues Leben.
So, wie sie damals.
Doch ob sie es ohne Jennifer je geschafft hätte? „Du bist mein Schutzengel! Stimmt´s?“, sagte sie in die verlassene Diele. Wie immer durchströmte sie ein warmes Gefühl, wenn sie an Jenny dachte.
Ein schwaches Kinderlachen war zu hören.
Tanja stieß die Tür zu einem kleinen Büro auf. Sie gähnte, ließ sich hinter dem alten Schreibtisch nieder und zog das Telefon in ihre Reichweite. Heute würde sie den Nachtdienst versehen.
Ein weißes Fädchen lag auf der Tischplatte. Sie wischte den Fussel mit einer zornigen Handbewegung in den Mülleimer. ... WEITER
Ihr Blick fiel auf den riesigen Schlüsselkasten an der Wand. Fünfundzwanzig Hausschlüssel fanden darin Platz. So viele Zimmer gab es im Frauenhaus nicht. Aber es waren fünfundzwanzig Schlafplätze. Im Augenblick hingen ein Dutzend Schlüssel an den Haken.
Schlafplatz Nummer acht - Leberriss. Seit der Entlassung aus der Klinik lebte die Frau hier. Nummer vier – Vergewaltigung in der Ehe. Nummer elf – kleiner Sohn vom Vater zusammengeschlagen. Die Eins - Verbrennungen zweiten Grades im Genitalbereich ...
„Ich will nicht daran denken. Sie sind jetzt hier und könnten es schaffen. Wie ich! Und Jenny.“ Sie sprach laut, damit sie es hören konnte. Das gab ihr mehr Zuversicht.
Tanjas Schlüssel hatte auch einmal in dem Kasten gehangen, aber inzwischen lebte sie in ihrer eigenen Wohnung. Ohne Jens. Gott sei Dank!
Manchmal kehrte sie in Gedanken zurück in die Arthur Schopenhauer - Straße 12, einem gepflegten Einfamilienhaus direkt neben der evangelischen Kirche. Zu Jens. Ihrem Mann. Er war eine angesehene Persönlichkeit in seinem Heimatdorf.
Ein Grund mehr, warum die Tanja von damals nicht auf den Gedanken kam wegzulaufen. Sie hatte weder Familie, noch eigene Freunde. Und wenn Jens sie gefunden hätte, hätte er ihr klargemacht, was er von einer rechtschaffenen Pastorenfrau erwartete.
Erst Jenny gab ihr den Mut zu handeln. Jennifer war ihr kleiner, blutiger Schlüssel zur Freiheit.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem ihr neues Leben begann. Oder besser, an dem ihr altes endete.Ein Faden. Es war ein kleiner, weißer Faden gewesen. Etwa so lang wie ein Zeigefinger und haarfein. Tanja hatte ihn übersehen. Beim Saugen in der Düsternis unter dem Bett war ihr das Fädchen nicht aufgefallen.
Das war schlimm!
Denn der Bindfaden war etwas Besonderes und lag nicht zufällig da. Er war ein Zeichen des Wahnsinns.
Eines von vielen Stücken Zwirn, die sich verbunden und zu einem endlosen Strang ausgewachsen hatten, der sie einwickelte, fesselte und knebelte – fünf lange Jahre. Immer in einem anderen Zimmer wurden sie ausgelegt, an versteckten Stellen, die Tanja oft genug nicht aufspürte. Das Glück, dass ihre `Nachlässigkeit´ ohne Konsequenzen blieb, war selten.
Jens war an jenem Tag früher nach Hause gekommen. Er beschwerte sich über das schlechte Essen: Die Kartoffeln zu weich, das Fleisch zäh, der Blumenkohl versalzen.
Sie sagte nichts, obwohl die Speisen einwandfrei zubereitet waren. Sie zählte in Gedanken, damit sie nicht nervös wurde. 963. Zählte und hoffte, dass er es bei Beschimpfungen belassen würde. 1003.
Er ging ins Badezimmer.
1025.
Kam zurück und zerrte sie an den Haaren mit sich, weil die Badetücher nicht gerade ausgerichtet über dem Halter hingen.
In fieberhafter Eile nahm sie die Tücher, faltete sie, ordnete und drapierte sie schnurgerade über den Handtuchhalter.
`Vielleicht reicht ihm das? Nein, ich weiß es besser´.
„Warum nicht gleich so?“ Er schleifte Tanja ins Schlafzimmer, kniete sich vor das Bett und zog triumphierend den weißen Faden hervor.
1089.
Sie spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich.
„Weißt du, was das ist, du Schlampe?“
Ihr Herzschlag stolperte. Sie zwang sich von vorn zu beginnen.
1 ... 2 ... 3 ...
„Das ist der Beweis, dass du den ganzen Tag auf deinem fetten, faulen Arsch sitzt, während ich mich mit dummem Pöbel abgebe, um Geld zu verdienen.“
Ein unkontrolliertes Zittern schüttelte sie.
15.
Ihr fiel ihr auf, wie klitzeklein das Schlafzimmer war.
21.
Und wie hünenhaft Jens.
27.
„Ich muss dir mal wieder klarmachen, was ich unter einer guten Hausfrau verstehe.“ Sanft ließ er den Faden fallen. Der erste Tritt kam so unerwartet schnell, dass sie ihn nicht sah. Sie knickte in der Körpermitte ein. Bittere Galle stieg ihr in den Hals, sie glaubte zu ersticken, wenn sie sich nicht übergeben könnte. Stattdessen schluckte sie den hochkommenden Mageninhalt hinunter. Alles andere würde seine Raserei nur steigern.
Dann hatte er ihr klargemacht, was sie wissen musste, und dafür gesorgt, dass er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit genoss.
Als er mit ihr fertig war, wollte Tanja sich nur noch verstecken. Sie versuchte sich zu verkriechen, in einem Zimmer, das eben noch viel zu winzig für sie beide gewesen war und dessen Ecken nun unerreichbar für sie schienen. Langsam kroch sie auf allen Vieren auf den Winkel hinter der Schlafzimmertür zu. Wie von weit her hörte sie das Hech-hech ihres stoßweise entweichenden Atems. Sie hatte Schmerzen.
Daran war sie gewöhnt, aber diesmal waren die Schmerzen anders. Schlimmer. Markverzehrend. Schrecklicher als alles, was sie sich je vorstellen könnte.
Eine ätzende Qual. Ein Toben an einer Stelle in ihrem Körper, ganz tief in ihrem Inneren, wo seit Wochen ihre größte Kostbarkeit heranwuchs. Das einzig Gute in ihrem Dasein.
Ihr Baby.
Sie hatte es vor Wochen zum ersten Mal auf dem Ultraschallgerät in der Praxis ihrer Frauenärztin gesehen. Das Ungeborene bewegte sich so lebhaft, als könne es begreifen, dass seine Mutter es voll Liebe betrachtete.
Unwillkürlich hatte sie gelacht. Im gleichen Augenblick waren ihr die Tränen in die Augen geschossen.
Heute ging ihr all das durch den Kopf. Das schweißnasse Haar hing ihr strähnig ins Gesicht, aber sie schleppte sich noch ein Stück weiter, um sich hinter der Tür zu verstecken. Zu Atem kommen. Nur kurz. Ganz kurz. Kräfte sammeln.
Als sie es geschafft hatte, weinte sie vor Erleichterung, aber sie war klug genug, es leise zu tun. In diesem Haus schrie man nicht. Man zeterte, schluchzte und weinte nicht laut. Man biss die Zähne zusammen. Man gehorchte. Man passte auf, wenn einem etwas klargemacht wurde und merkte es sich für die Zukunft.
Ihre Gebärmutter zog sich zusammen, wollte das Kind nicht länger halten, es ausstoßen. Das Baby, das sie bis jetzt ohne Probleme und mit Stolz, getragen hatte.
„Wie soll die Kleine heißen?“, hatte die Ärztin gefragt.
„Jennifer“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. „Das ist Jenny.“
Wie gebannt beobachtete sie ihre Tochter. Auf dem Monitor war der kräftige Schlag des Herzchens zu sehen. Puch-poch, puch-poch. Ein warme Empfindung breitete sich in ihr aus. „Jennifer,“ flüsterte sie.
Ein neuer Schmerz riss Tanja aus ihren Erinnerungen. Sie krümmte sich.
Bitte, lieber Gott, betete sie. Lass es nicht zu, ich flehe dich an! Lass es nicht zu!
Ihr Schlüpfer fühlte sich heiß und matschig an. Die Strumpfhosen waren in Schenkelhöhe klebrig. Wie von selbst glitten ihre Finger zu der Nässe unter ihrem Rock, tasteten sich vor, berührten die Feuchtigkeit. Ihr fiel auf, dass sie nur einen Schuh trug.
Ich habe mich vollgepinkelt, dachte sie. Das ist nur Pipi. Bitte ,lieber Gott, lass es Pipi sein.
Doch als sie ihre Fingerspitzen betrachtete, waren sie blutig.
Tanja schloss die Lider, wollte nicht länger sehen, was an den Kuppen haftete. Als sie Jens Schritte hörte, riss sie die Augen wieder auf. Er zog die Tür zur Seite und stand vor ihr.
Gutaussehend, mit dunklen Haaren und braunen Augen. Augen, die so leer und ausdruckslos waren wie die einer Puppe. Einer unheimlichen, bösen Puppe.
Tanja flüsterte: „Ich blute.“ Sie versuchte es emotionslos zu sagen. Ohne Vorwurf. Sachlich. Mehr wagte sie nicht.
„Das sehe ich“, antwortete er. „Schau dir nur diese verdammte Schweinerei an!“
Sie tat es. Mit flachen Atemzügen. Ein erneuter Krampf schüttelte sie, ihr Körper spuckte noch mehr Blut.
„Ich verliere mein Baby.“
Tanja konnte es nicht fassen, aber Jens grinste. „Halb so schlimm. Du kannst ein neues bekommen, oder? Es ist deine eigene Schuld. Das kommt davon, weil du nicht aufpasst, wenn man dir etwas klarmachen muss.“ Er hob einmal kurz die Schulter, ließ sie gleich wieder fallen. Keine Spur von Mitgefühl.
Du Dreckschwein, dachte sie. Du verdammtes Dreckschwein. Wie sehr ich dich hasse!
„Kapierst du nicht?“, raunte sie. „Ich verblute. Hier. In deinem Haus. In deiner Gemeinde.“
„Ich weiß“, sagte er gefühllos. „Der Teppich ist jedenfalls hinüber.“ Er schenkte ihren Worten keine Beachtung mehr. Aber er ging endlich zum Telefon und rief einen Krankenwagen.
Von dort wo sie kauerte konnte Tanja den weißen Faden sehen.
Sie hörte Jens etwas von einem unglücklichen Sturz faseln. Einem Missgeschick. Und einem Notfall. Seine Stimme war völlig ruhig, ein wenig salbungsvoll. Ganz der Pastor.
„Es hört nicht auf zu bluten,“ sagte sie, als er zurückkam. „Mach dir nichts draus“, antwortete er. „Sie werden die Blutungen stoppen.“
Und mein Baby?, wollte sie schreien. Was wird aus Jenny?
Jens ging zum Schrank, holte ein Handtuch heraus und stopfte es ihr grob zwischen die Beine. „Damit du nicht noch mehr versust.“ Dann setzte er sich in den Sessel und las seine Sportzeitschrift.
1 … 2 … Tanja fing an zu zählen. Das lenkte sie ab. Ihr Atem und ihr Herzschlag beruhigten sich.
4215. In der Ferne hörte sie das Martinshorn.
4301. Blaues Licht zuckte draußen vor dem Fenster.
4450. Autotüren schlugen, Schritte eilten über das Pflaster.
4480. Jens öffnete. Sie hörte Stimmen.
4520. Der Notarzt war bei ihr.
Sie schloss vor Erleichterung die Augen, als er neben ihr kniete.
„Die wievielte Woche?“, fragte er knapp.
„Die achtundzwanzigste! Bitte, helfen Sie meinem kleinen Mädchen.“
„Scht“ sagte der Arzt.
„Jenny,“ bettelte sie. „Bleib bei mir. Verlass mich nicht ...“
Eine Nadel wurde sanft in ihren Arm gestochen, man hob sie auf eine Trage und brachte sie zum Krankenwagen.
Sie sah eine Kugel aus reinem Licht, schillernd, wie eine Seifenblase.
„Keine Angst“, sagte der Arzt. „Alles wird gut!“
Aber das stimmte nicht. Es würde nie gut sein. Nie.
Knochenbrüche, Blutergüsse, Verbrennungen, Gehirnerschütterungen.
Und Angst. Immer wieder Angst.
Alles hatte sie eingesteckt, sich damit abgefunden, es ertragen.
Aber das mit ihrer kleine Jennifer, das nicht!Eine Bewegung links von ihr zog Tanjas Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah zu der alten Couch und lächelte, als sie das blasse, etwa dreijährige Mädchen erkannte.
„Ich wusste, dass du heute Nacht vorbeischaust. Bist du wieder ein Stück gewachsen?“ Die Kleine erwiderte das Lächeln und kletterte auf das Sofa. Dann blickte sie mit leuchtenden Augen erwartungsvoll zu ihr hinüber.
Tanja kramte ein abgegriffenes Buch aus der Schreibtischschublade und legte die Beine hoch: „Zeit für eine Geschichte, Jenny.“
Sie ignorierte, dass sie das Muster des Couchbezuges durch das Kind hindurch
hindurch erkennen konnte.