Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

TraumfresserTraumfresser

Herrgott nochmal, ich weiß nicht, wie oft ich mir ausgemalt habe ihn zu töten! Meine Mordfantasien waren so zahlreich wie eine Handvoll Sandkörner. Er hatte es verdient, wirklich verdient! Trotzdem hatte ich es bis zuletzt nicht geplant.
Als ich die Waffe, die ihn töten sollte, in Händen hielt, kam mir zuerst gar nicht in den Sinn, wie ich sie für meine Zwecke nutzen könnte. Das wurde mir erst später klar; aber ab diesem Augenblick war ich nicht mehr zu halten. Noch in der gleichen Nacht fuhr ich zu ihm.
Und jetzt hocke ich hier in der Dunkelheit in einem Busch unter seinem Küchenfenster und lausche mit rasendem Puls in die Stille, während meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen, die ich so sehnlich vergessen will und die mich doch immer wieder eingeholt hatte.
Nacht für Nacht. ... WEITER

Das Bild schrie.
Nein, nicht das Bild. Das Ding auf dem Bild. Es stieß schrille Laute der Verzweiflung aus, sodass ich mir die Ohren zuhielt. Unwillkürlich fiel mein Blick auf den klaffenden Mund, der aussah wie eine schwärende Wunde.
Die anderen Besucher der Ausstellung lachten, plauderten und bewunderten die ausgestellten Kunstwerke, als wäre alles in Ordnung. Verwundert ließ ich die Arme sinken.
Die Kreatur auf dem Bildnis greinte noch immer; ihre Schultern zuckten von harten Schluchzern. Das eigenartig flache Gesicht schmolz wie heißes, graues Wachs. Tiefe Furchen entstellten die Stirn, auf der schiefe Brauen klebten. Die Augen glichen schwarzen Dottern, die zerliefen und Schlieren auf den eingefallenen Wangen hinterließen.

Seelenqualen, stand auf einem kleinen Schild neben dem Gemälde. Unverkäuflich! Berühren verboten!

Das Ding lehnte erschöpft an einer düsteren Mauer. Sein nackter, gräulicher Körper war in sich zusammengesackt. Mitleidig trat ich dichter an das Bild heran. Ich hob meine Hand, um der Kreatur die Tränen fortzuwischen, weil sie es  nicht selbst tun konnte. Ihre Arme waren abgetrennt. Direkt unter den Schulten hingen kurze Stümpfe. Das Wesen würde nie wieder etwas anfassen können. Warum auch, hallte es durch meine Gedanken. Im entscheidenden Augenblick waren sie nutzlos.
Die Gespräche in der Galerie wurden lauter, kaum jemand achtete noch auf die Exponate. Niemand auf mich. Bis auf einen großen Mann, der beinahe unsichtbar einer dunklen Ecke stand und in meine Richtung starrte. Er ließ durch nichts erkennen, ob er bemerkte, was mit dem Gemälde geschah. Deshalb wagte ich es zu berühren.
Im gleichen Augenblick riss irgendetwas an mir, saugte mich ein und verschlang mich, bevor es mich durch ein finsteres Loch wieder ausspie. Kein Ton kam über meine Lippen, weil mir die Luft wegblieb. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Achterbahnfahrt bei Nacht hinter mir. Meine Augen hielt ich fest geschlossen und spürte, dass meine Lider flatterten, als säßen winzige Schmetterlinge darauf. Dann öffnete ich sie. Unsäglich vorsichtig. Ich war noch immer in der Galerie.
Aber auf der falschen Seite.
Kein Zweifel - ich befand mich in dem Gemälde.

In der dunklen Gasse roch es nach Feuchtigkeit. Nasses Pflaster glänzte im Mondlicht und da vorn, direkt an der schmuddeligen Hauswand, saß das Etwas und streckte mir flehend seine Armstummel entgegen. Zögernd ging ich hin und sah, dass es mit seinen verletzten Beinen nicht laufen konnte. Wie zerbrochene Stöcke lagen sie im Schmutz. Sie sind nutzlos. Als es darauf ankam, liefen sie nicht davon, hörte ich die Stimme in meinen Kopf.
Der nackte Körper glich dem Torso einer  Schaufensterpuppe. Oder dem eines sehr jungen Mädchens.
Es ließ den kahlen Schädel hängen und weinte. Im gleichen Augenblick sah ich im Mondlicht etwas aufblitzen. Eine Kette mit einem goldenen Kreuzanhänger. Mein Kommunionkettchen! Ich wollte eben danach greifen, als ich hinter mir eine Stimme hörte.
„Gefällt es dir?“
Mit einem Aufkeuchen wirbelte ich herum. Obwohl er in der Dunkelheit stand, erkannte ich den großen Mann aus der Galerie sofort. Seine Stimme war nicht mehr als ein Raunen.
„Das Bild“, fuhr er fort. „Gefällt es dir?“
„Mein Gott, nein!“, würgte ich hervor.
„Warum nicht?“
„Es ist widernatürlich.“
Jetzt verstummte das Jammern der Kreatur.
„Ich bin sein Schöpfer“, erklärte der Mann.
„Abartig“, spuckte ich aus.
Der Maler deutete aus der Düsternis heraus auf das Etwas: „Gequälte Seele.“ Ich sah das Weiße seiner Augäpfel leuchten.
„Ich will nichts hören“, flüsterte ich, und dann hörte ich mich brüllen: „Kein verdammtes Wort!“
Langsam löste sich der Künstler aus dem Dunkel. Er war nackt. Ich konnte sein riesiges, erigiertes Geschlechtsteil sehen. „Ich liebe dich!“, sagte er. „Und du, du liebst doch auch.“
Ich wich zurück, fühlte den rauen Putz einer Mauer in meinem Rücken und lauschte dem Wimmern der verstümmelten Seele, das schließlich vom Gelächter des Malers erstickt wurde … es war das Lachen meines Vaters und es gellte noch in meinen Ohren, als ich aus dem Schlaf fuhr.

Alba Hagussa, bei der ich zur Untermiete wohnte, war nicht erstaunt, als ich sie am Morgen in ihrer Küche besuchte. Die kleine Frau mit den wirren roten Haaren saß am Frühstückstisch.
„Selma! Komm und setz dich zu mir.“ Ihr anfängliches Lächeln wich einer besorgten Miene.
„Du hattest wieder den Traum“, stellte sie ohne Unschweife fest.
„Das war wohl nicht zu überhören. Nichts hat geholfen! Keine Medikamente, keine Therapeuten, die behaupten, ich müsste mich nur meiner Vergangenheit stellen, erst dann würde es aufhören. Dabei will ich alles nur vergessen!“
Alba schwieg.
„Er sagte immer, dass er mich liebt, Alba. Er schlief oft mit mir. Ich schlief gar nicht mehr. Er war doch mein Vater, und ich war erst fünf Jahre alt.“
Alba nickte.
„Sie haben gesagt, dass Sie mir helfen können, wenn ich nicht mehr weiterweiß.“
„Natürlich, Kindchen!“
„Ich weiß nicht mehr weiter.“
Alba stand auf, nahm etwas aus dem Küchenschrank und stellte es mitten auf den Tisch.
Es war ein Marmeladenglas. Leer. Blitzsauber gespült. Sauerkirsche stand inmitten der Abbildung von dicken, roten Kirschen und grünen Blättern auf dem Schraubverschluss.
„Hier.“ Sie schob es mir zu.
„Da ist nichts drin.“
Sie lachte. „Nur, weil du nichts siehst, bedeutet das keineswegs, dass dieses Glas leer ist. Er ist unsichtbar!“
„Wer?“
„Der Traumfresser“, wisperte sie.
Neugierig beäugte ich das Glas. Es enthielt eindeutig nichts. Ich hob es hoch und schüttelte es, doch weder schwappte noch knisterte es darin, noch sonst irgendwas.
Als ich den Deckel abdrehen wollte, hinderte Alba mich daran: „Es bringt nichts, wenn du das Glas jetzt öffnest. Tageslicht bannt den Traumfresser. Erst nach Einbruch der Dunkelheit kannst du ihn herauslassen. Doch schau ihn niemals an! Du könntest deinen Blick nicht von ihm abwenden. Kein Mensch kann das, und es würde deinen sicheren Tod bedeuten.“
Obwohl mir die ganze Situation absurd erschien, hörte ich mich sagen: „Aber er ist doch unsichtbar.“
„Ja, jetzt. Doch sobald es Nacht wird und er frei ist, nicht mehr. Der Traumfresser verwandelt sich in ein Furcht erregendes Geschöpf, und er existiert nicht nur in der Traumwelt, sondern kann auch in der Wirklichkeit Gestalt annehmen. Dann ist er so real wie du und ich.“
„Wie sieht der Traumfresser aus?“
Alba zuckte mit den Schultern. „Niemand weiß das. Menschen vermochten bisher nicht ihn ohne Angst anzusehen, deswegen mussten sie sterben. Aus diesem Grunde darfst du ihn nicht anschauen. Niemals! Egal, was du hörst. Egal, was geschieht. Sein Anblick würde dich in Panik versetzen und der Geruch deiner Furcht würde ihn zwingen dich zu fressen. Das liegt nun einmal in seiner Natur. Es heißt, er frisst seine Opfer bei lebendigem Leib. Mit Haut und Haaren. Nicht ein Knochen bleibt übrig. Nichts! Als hätte es sie nie gegeben.“
Sinnend betrachtete das Glas in meiner Hand.
„Nach dem Mahl wird der Traumfresser auf den Sonnenaufgang warten, erst dann kann er seine unsichtbare, luftförmige Gestalt wieder annehmen und in das Behältnis zurückkehren.“
Einerseits glaubte ich kein Wort. Andererseits hatte ich nichts zu verlieren. Ich stellte das Marmeladenglas zurück auf den Tisch.

Das Glas stand auf meinem Nachtschrank. Ich ließ es nicht aus den Augen, aber es sah bloß wie ein sauber ausgespültes Marmeladenglas aus. Wie lange ich dalag und es anstarrte, weiß ich nicht mehr. Irgendwann fing ich an zu gähnen. Also löschte ich das Licht, schloss die Augen und schraubte den Deckel ab.
Es zischte. Als hätte jemand Gas an einem Herd aufgedreht, und ich konnte auch etwas riechen. Ich erkannte den kaum wahrnehmbaren, nussigen Duft, der das Schlafzimmer angenehm durchzog. So roch die Blume des Schlafes, die auch Blutblume genannt wird: Mohn. Tief und genüsslich sog ich das Aroma ein und fragte mich, wie lange es dauern würde, bis ich einschlief …
Das Bild schrie.
Nein, nicht das Bild. Das Ding auf dem Bild. Es stieß schrille Laute der Verzweiflung aus. Doch plötzlich verstummte es. Ein leicht nussiger Geruch lag in der Luft. Die Kreatur hob den Kopf, schaute an mir vorbei, fixierte ihren Blick auf eine Stelle hinter mir und lächelte eigenartig. Dann sagte eine Stimme in meinem Rücken: „Schließe deine Augen, Kindchen, und egal, was du vernimmst: Sieh nicht hin!“
Feinste Speicheltröpfchen benetzten meinen Nacken. Ich wollte sie fortwischen, doch ich stand einfach nur da, bis die Schreie einsetzten. Diesmal war es weder das Kreischen der Kreatur, noch meines, das die Stille zerfetzte.
Es war das Brüllen des Malers.
Ich hörte ein Reißen, als würde eine Leinwand durchtrennt, ein Brechen von Knochen. Ein Schmatzen, als würde das Fleisch einer überreifen Melone gierig geschlürft.
Ein Nagen, Abbeißen, Schlingen, Schnaufen und Knurren. Brocken wurden hinuntergewürgt und lautes Rülpsen folgte. Wühlgeräusche wechselten sich mit Saugen oder Kauen ab.
Es waren die entsetzlichsten Laute, die ich je gehört habe.
Die Schreie verstummten und bald darauf auch die Fressgeräusche. Nur ein schweres Keuchen war zu hören.
Als Nächstes spürte ich, dass ich in meinem Bett lag. Kurz darauf legte sich ein warmer Hauch aasiger Atemluft auf mein Gesicht, der langsam abflaute und schließlich ganz verschwand. Vogelgezwitscher und der erste ferne Verkehrslärm verrieten mit, dass es Morgen war. Blind tastete ich nach dem Deckel und schraubte ihn fest auf das Marmeladenglas. Erst dann öffnete ich die Augen. Leer stand es da und funkelte in der Sonne.
Es war vorbei.
Beinahe.

Nachdenklichen drehte ich das Gas in meinen Händen. So eine Gelegenheit bot sich mir nie wieder. Alba musste sich noch gedulden, bevor ich den Traumfresser zurückbrachte. Sorgfältig packte ich das Marmeladenglas in eine Schachtel. Und dann wartete ich. Ich aß nicht, trank nicht, schaute kein Fernsehen -  ich tat gar nichts. Nur warten.
Kurz vor Mitternacht fuhr ich zu dem abgelegenen Bungalow meines Vaters. Während der ganzen Fahrt schlingerte das Glas in dem Karton herum, als ob der Traumfresser versuchte herauskommen. Ich parkte in einer Nebenstraße und stahl mich zum Haus. Behutsam lockerte ich den Deckel des Glases und stellte das verschlossene Kistchen vor seine Haustür. Ich klingelte und machte, dass ich wegkam. Hinter dem Geräteschuppen hervor beobachtete ich, wie das Licht im Flur anging. Einige Zeit darauf erlosch es und flammte dann in der Küche auf.
Ich malte mir aus, wie er den Karton öffnete und der lose Deckel vom Glas fiel. Ein Zischen, als entwiche Luft aus einem Reifen, würde die Küche erfüllen – und der kaum wahrnehmbare, leicht nussige Duft von Mohn.
Ich schlich näher, hockte mich in den Busch unter dem Küchenfenster und lauschte mit rasendem Puls in die Stille, die jäh explodierte.
Vater kreischte. Es klang beinahe, wie das Ding auf dem Gemälde. Ich hörte ein Reißen, als würde Leinwand zerfetzt, ein Brechen von Knochen. Ein Schmatzen, als würde das Fleisch einer überreifen Melone gierig geschlürft.
Ein Nagen, Abbeißen, Schlingen, Schnaufen und Knurren. Brocken wurden hinuntergewürgt und lautes Rülpsen folgte. Wühlgeräusche wechselten sich mit Saugen oder Kauen ab.

Die Schreie verstummten und bald darauf auch die Fressgeräusche.

Mit Haut und Haaren. Nicht ein Knochen bleibt übrig. Nichts! Als hätte es ihn nie gegeben!
Ich lehnte ich mich gegen die Wand, lächelte und wartete mit geschlossenen Augen auf den Morgen …