- Die Tränen des Laurentius
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Es war der heißeste August, an den Corinna sich erinnern konnte. Der Asphalt kochte, trotzdem lief die weiße Frau mit nackten Füßen durch die Fußgängerzone.
Sie war sehr blass. Mit der wilden, weißblonden Haarpracht und den farblosen Augen stach sie kühl aus der verschwitzten Menge heraus. Das schneeweiße Sommerkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, reflektierte das Sonnenlicht.
Der einzige Hauch von Farbe an ihr war der gläserne Kettenanhänger. Eine Kugel, nicht größer als eine Kinderfaust, bläulich eingefärbt, wie Gletschereis.
„Muranoglas“, vermutete Corinna, als sie aus dem Schaufenster des Juweliergeschäfts sah. Selbst aus der Entfernung meinte sie das zu erkennen: „Wahrscheinlich antik.“ Sie fragte sich, wie die Albinofrau wohl daran gekommen war und was sie zu den Leuten sagte, die sie ansprach – vergeblich ansprach, denn niemand blieb stehen. Die meisten schüttelten den Kopf, ärgerlich, amüsiert oder gleichgültig. Manche hasteten vorüber, ohne sie zu beachten.
Corinna sortierte Trauringe in die Auslage und war mit ihren Gedanken bei Viola, die sie in einer knappen Stunde aus der Kita abholen musste. Als sie sich auf den Weg machte, stand die Albinofrau plötzlich vor ihr.
Die Augen mit der hellen Iris konnten keinen festen Punkt fixieren. Unruhig irrten sie hin und her und die Frau kniff die Lider zusammen, als könnte sie schlecht sehen.
„Fünf Euro“, sagte sie mit hoher Stimme. „Nur fünf Euro.“
Eine bleiche Hand streckte sich Corinna entgegen.
„Für eine Bettlerin nicht gerade bescheiden“, fuhr Corinna sie an.
„Ich bettele nicht, sondern biete meine Dienste als Wahrsagerin an.“
Corinna schnaubte. „An so einen Quatsch glaube ich nicht.“
„Einen Blick in die Zukunft für wenig Geld ... Meine Mutter hat mir diese Gabe vererbt.“ Die Albinofrau lachte leise. „Ich werde Ihnen eine Kostprobe meiner Fähigkeiten geben.“
Sie nahm die Glaskugel, die zwischen ihren Brüsten ruhte, behutsam in die Hand. Sie hielt sie ein wenig hoch, als wolle sie ihre Reinheit prüfen. Ihr unsteter Blick wanderte darüber, als könne sie tatsächlich etwas erkennen.
Unheimlich war das, richtig unheimlich, aber das Beklemmendste war, dass die Eisaugen plötzlich blicklos auf der Kugel verharrten.
In Corinnas Nacken prickelte es.
„Tränen“, wisperte die Albinofrau.
„Was sonst?“, versuchte Corinna zu spotten.
„Laurentius weint ...“LESEPROBE!
BISHER UNVERÖFFENTLICHT.
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