- Schatten im Licht
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Damals ist es mir häufig passiert.
Ich stieg zu völlig unterschiedlichen Zeiten in einen Nahverkehrszug nach Hause und plötzlich wusste ich mit Gewissheit: Zoe ist auch in diesem Zug. Ich spürte ihre Gegenwart so deutlich, als ob sie in mein Ohr flüstern würde: „Hallo Mom! Ich bin hier!“
Dann ging ich suchend von einem Abteil zum nächsten. Und sie war tatsächlich da! Zoe saß entweder plaudernd und lachend inmitten von Freunden, oder war allein und in einen Schmöker vertieft. Sie grinste mich jedes Mal an, nicht im Mindesten erstaunt, dass ich vor ihr stand.
`Was hat das zu bedeuten?´, fragte ich mich dann. `Kann man die Anwesenheit eines geliebten Menschen spüren? Ist es eine Art Telepathie?`
Kurz nach unserem letzten zufälligen Zusammentreffen in einem Zug, passierte die Geschichte mit dem Glückskeks.
Mein Mann Robert, Zoe, ihr jüngerer Bruder Lucas und ich saßen bei einem fröhlichen Abendessen im Chinarestaurant zusammen. Nach dem Essen entschied Lucas sich für einen Lolli und wir anderen bekamen jeder einen Glückskeks.
`Ein frohes Herz macht auch das Antlitz heiter`, stand auf dem Zettel meines Mannes.
Wir lachten sehr darüber, denn er lief oft mit verdrießlicher Miene herum.
`Wer einen Fehler macht und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten`, hieß es bei mir.
Auf dem Zettelchen unserer Tochter war zu lesen: `Wenn es einem Menschen vorherbestimmt ist, an einem bestimmten Ort zu sterben, dann gibt ihm das Schicksal einen Grund, dorthin zu gehen.´
Ich wusste nicht, was dieser makabere Satz bedeuten sollte, aber die unheimliche Aussage auf dem schmalen Papierstreifen erfüllte mich mit Unbehagen, mit einer dunklen Vorahnung, die sich nicht verdrängen ließ.
Vielleicht, weil meine Tochter mir näher stand, als irgendjemand sonst. Ich war davon überzeugt, dass das Leben etwas Großartiges mit ihr vorhatte, denn Zoe besaß einen wachen Verstand, jede Menge Charme und ihr war eine Beharrlichkeit eigen, die sie nur nach vorn schauen ließ - immer ihr Ziel vor Augen. Sie ging so ohne jede Angst durchs Leben, dass es mir unheimlich war.
Ganz anders als ich, die oft schlaflose Nächte voller Furcht verbrachte in denen ich mich fragte, wie ich meine Lieben und mein Glück schützen könnte? ... WEITER
Nein, meine Tochter war nicht zaghaft und wusste, was sie wollte.
Nach dem Abitur flog Zoe mit drei Freundinnen ans Mittelmeer. Last-Minute nach Spanien. Sie wollten ein paar Tage Sonne tanken und Spaß haben. Zoe liebte die Sonne!
„Keine Angst, Mom!“, sagte sie lachend zum Abschied, als sie mein sorgenvolles Gesicht sah. „Das ist doch bloß ein harmloser Strandurlaub.“ Eine rasche, innige Umarmung, ein liebevoller, feuchter Kuss auf die Wange. „Bis Freitag!“
Weg war sie.
Drei Tage später, am frühen Abend des 5. Juli, ging es mir sehr schlecht. Ich saß gerade mit ein paar Freundinnen bei einem Glas Rotwein zusammen, als ich ohne erkennbaren Grund schluchzend zusammenbrach und sicher war, ich hätte meiner Tochter niemals erlauben sollen, an diesen Ort zu reisen. Ich brachte keinen verständlichen Ton über die Lippen, mein Kehlkopf schien wie gelähmt und die Gedanken stoben umher wie Schneeflocken im Sturm.
„Der Job!“, sagten meine Freundinnen verständnisvoll. „Sie hatte zu viel Stress in letzter Zeit.“ Beruhigend streichelten sie meine Schultern und tätschelten mir den Rücken.
Aber ich wollte nur nach Hause, mich in meinem Schlafzimmer verkriechen und allein sein. Als ich endlich daheim war lag ich zusammengerollt wie ein Fötus auf meinem Bett, froh, dass Robert und Lucas im Kino waren.
In den Schatten der Dämmerung sah ich kreisrunde, blasse Lichter, die mich wieder in Tränen ausbrechen ließen. Um mich von meiner inneren Aufruhr abzulenken, schaltete ich den Fernseher ein.
In den Nachrichten zeigten sie Bilder eines vereinsamten Strandes und berichteten von vier deutschen Urlauberinnen, die an der Küste des Mittelmeeres während eines überraschenden Sturms verunglückt waren.
Drei von ihnen konnten sich an das Ufer retten.
Die vierte wurde von den tobenden Wellen fortgerissen.
Ich wusste, dass es meine Tochter war. Stunden, bevor das Telefon läutet und ich die Gewissheit hatte.
Mein Verstand weigerte sich, es zu akzeptieren. Er wurde zu einem dunklen, leeren Ort an dem nur Raum für sein Nein war. In mir zerriss etwas, wie die Saite einer Gitarre, und ich verblutete innerlich. Die Mitte meines Körpers, wo die Seele sitzt, wurde dünn wie trügerisches Eis. Dann barst auch sie. In diesem Augenblick wusste ich: Ich werde nie wieder aufrecht gehen.
Nie wieder ...
Niemals hätte ich gedacht, dass unser letzter Tag so bald kommen würde! Wir hatten überhaupt keine Chance, um angemessen Auf Wiedersehen zu sagen.
Und die Welt dreht sich einfach weiter!
Ohne mein Mädchen.
Das letzte Foto von ihr zeigt sie vor der dem Meer. Ihre Freundinnen haben es mir gegeben. Es wurde am späten Nachmittag des 5. Juli aufgenommen, und im Hintergrund der Fotografie sieht man düstere Wolken aufziehen, die langsam das Licht verschlingen.
Zoe – in strahlendes Sonnelicht getaucht – steht lachend vor dieser dunklen Wolkenwand, die mit drohenden Schattenfingern nach ihr zu greifen scheint.
Trotzdem muss es an diesem Tag wunderschön gewesen sein. Eine Verlockung für einen letzten Ausflug mit dem Surfbrett vor dem Abendessen …
Ich fühle mich verlassen seit Zoe tot ist. Ab und zu kann ich hören, wie sie „Mom“ ruft. Doch wenn ich aufhorche behauptet mein Mann: „Da ist nichts! Alles ist still.“
Manchmal spüre ich ihre Nähe, die Wärme ihrer Umarmung. „Da ist niemand“, sagt Robert , wenn ich aufmerke. „Alles ist leer.“
Es gibt Tage, da rieche ich Zoe. Nicht ihr Parfüm, sondern den Duft ihres Körpers. Warm, süß, und ein ganz kleines bisschen nach Mandeln. So hat sie schon als Baby gerochen, wenn sie an meiner Brust lag und aus großen, blauen Augen zu mir aufblickte. Zoes eigener, unverwechselbarer Geruch. Aus Tausenden würde ich ihn herausfinden.
Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber das stimmt nicht. Sie lehrt mich bloß mit dem Unfassbaren zu leben.
Mir ist ein letzter Schnappschuss geblieben, der Zoe vor der Küste des Meeres zeigt, für immer in goldenes Licht gehüllt, unerreichbar für die Schatten in ihrem Rücken.
Und das Band unserer tiefen Verbundenheit.
Wenn mein Mann, Lucas und ich spazieren gehen und die Sonne unsere Schatten auf den Boden wirft, ist immer auch ein vierter dabei, direkt neben meinem. Und wir halten uns an den Händen, denn wird sind vier - für mich gehört er für immer dazu, dieser Schatten im Licht.