Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

Mea TulpaMEA TULPA
Das durchdringende Läuten der Türglocke hörte nicht auf. Trotzdem dauerte es eine Zeit lang, bis Pia erwachte. Sie warf einen schlaftrunkenen Blick auf den Wecker. 2.15 Uhr!
`Lieber Gott, bitte mach, dass ihr nichts passiert ist!´, schoss es ihr durch den Kopf. Sie tastete nach der Nachttischlampe. Die jähe Helligkeit tat in den Augen weh. Sie sprang aus dem Bett, hastete über den Korridor und fragte durch die Gegensprechanlage: „Wer ist da?“
Nur ein Wort drang durch den Lautsprecher. Ein Wort, das die ungeheure Last der Angst von Pias Schultern nahm.
„Becca.“
Sie schloss vor Erleichterung die Augen und drückte den Türöffner.

Seit mehr als zwanzig Jahren waren sie befreundet. Es passierte nicht zum ersten Mal, dass eine die andere aus dem Schlaf riss. Aber diesmal war es nicht wie sonst, denn Becca hatte sich seit Wochen bei niemandem gemeldet.
Als sie jetzt vor Pia stand, konnte diese einen Aufschrei nicht unterdrücken. Unzählige frische Schnittwunden entstellten Beccas Gesicht. Die Augen lagen fiebrig in dunklen Höhlen. Erschöpfung stand ihr in das blasse Gesicht geschrieben und das kurze, schwarze Haar war verfilzt. Sie war gespenstisch dünn. Es sah aus, als hätte sie seit Tagen weder gegessen noch geschlafen. Sie umklammerte ein kleines, schwarzes Kästchen.
Instinktiv streckte Pia die Arme aus. Willig ließ Becca sich in die Umarmung ziehen. Wider Erwarten weinte sie nicht, doch ihr Körper blieb angespannt.
„Was ist passiert, Becca?“
Sie blickte auf, direkt in Pias Augen. Furcht stand in Beccas Gesicht, ihre Antwort war nur ein Flüstern: „Ich habe etwas Entsetzliches getan.“ WEITER

Becca kam erst in die Wohnung, nachdem Pia den mannshohen Garderobenspiegel mit einem Laken verhüllt und an allen Fenstern die Vorhänge zugezogen hatte. Sie saßen in der Küche.
„Hör zu, Pia, ich kann nicht lange bleiben und habe keine Zeit dir alles zu erklären.“ Rebecca nahm einen Schlüssel, der an einer Schnur um ihren Hals hing, und legte ihn Pia um.
„Was soll ... “
Becca unterbrach die Freundin. „Der Schlüssel gehört zu diesem Kasten. Wenn mir irgendetwas passieren sollte, dann mach ihn auf.“
Sie schob die Kassette über den Tisch. „Darin findest du alle nötigen Informationen.“
Pia runzelte Stirn. „Alle nötigen Informationen? Wofür?“
Rebecca stand auf: „Ich muss gehen.“ Plötzlich lag ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht. „Ich war ein Dummkopf, aber dir vertraue ich. Ich weiß, dass du es schaffen wirst!“
Pia sprang auf. „Hör auf! Du machst mir Angst. Was soll ich schaffen?“
Becca hatte die Wohnungstür geöffnet. Sie warf einen prüfenden Blick in den dunklen Flur. Ein letztes Mal drehte sie sich um: „Ihn auslöschen. Du musst den Tulpa vernichten!“
Mit einem Ruck zog sie die Tür ins Schloss und war verschwunden.

Den Rest der Nacht war nicht an Schlaf zu denken. Unruhig wälzte Pia sich im Bett herum, bis sie es nicht mehr aushielt und aufstand. Sie fühlte sich erschöpft und war froh, dass sie noch einige Tage Urlaub hatte.

Mehrmals ertappte sie sich dabei wie sie mit dem Schlüssel spielte. Was, wenn sie einfach in die Kassette schaute?

Nein, sie würde das Vertrauen ihrer Freundin nicht enttäuschen. Sie versuchte Becca anzurufen. Niemand meldete sich. Handy und Anrufbeantworter waren ausgeschaltet.

Sie fuhr mit dem Auto zu Rebeccas Wohnung. Hinter den Gardinen war alles dunkel. Nichts rührte sich, also machte sie sich wieder auf den Heimweg. Im Augenblick gab es nur eine Frage die sie beantwortet haben wollte. Schließlich schickte sie eine Mail: Becca! Wer ist der Tulpa?!

Am nächsten Nachmittag läutete das Telefon. Im selben Augenblick wusste Pia es. Noch bevor sie den Hörer abnahm, traten ihr Tränen in die Augen.
„Eckstein.“
„Hallo, ich bin es.“
Ben Reher. Beccas Bruder.
„Ja?“
„Becca ist tot. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Mit einer Spiegelscherbe.“

 

Pia raste zu Rebeccas Wohnung. Man hatte die Freundin schon weggebracht, nur Ben stand hilflos in der Tür. Er sah seiner Schwester so ähnlich, dass Pia wieder weinen musste. Wortlos umarmten sie sich.

„Was ist passiert, Ben?“
Er schüttelte resigniert den Kopf. „Ich weiß es nicht! Sie hat sich seit Wochen nicht gemeldet. Ich dachte, sie wäre verreist, du weißt ja, wie sie ist. Aber sie hatte sich verbarrikadiert! Heute Nacht war so ein Krach aus der Wohnung zu hören, dass die Nachbarn die Polizei riefen. Als sie eintrafen war alles ruhig. Niemand öffnete, deshalb wurde die Wohnungstür aufgebrochen. Becca war schon tot. Komm rein. Sieh dir das an.“
Sie traute ihren Augen nicht!
Sämtliche Fenster waren mit weißer Farbe übermalt. Ebenso der gläserne Couchtisch, die Bilderrahmen, der Fernseher. Alle Lampen in der Wohnung brannten, niemand hatte sich die Mühe gemacht sie auszuschalten.
Ihre Schritte knirschten. Der Boden war mit feinen Splittern übersät. Becca hatte jeden Spiegel im Haus zertrümmert.
Die Scherben waren winzig, so, als hätte sie versucht die Spiegel so klein wie möglich zu zerschlagen. Nur ein einziges, größeres Bruchstück war übriggeblieben. So groß wie eine Männerhand. Lang, spitz und scharf.
Blut klebte daran.
 
Zuhause holte Pia das Kästchen heraus schloss es ohne Zögern auf. Darin lagen ein Briefumschlag und ein Tagebuch in einem dunkelroten Ledereinband. Sie schlug die erste Seite auf. Dort stand in Rebeccas Handschrift: Mea Tulpa.
Sie legte das Buch zur Seite und öffnete den Brief.

Pia,
du liest meinen Brief, das bedeut: Er hat mich erwischt! Es ist nicht leicht zu erklären ...
Wenn Menschen reale Erfahrungen mit dem Übersinnlichen machen, sprechen sie nicht gerne darüber, wollen nicht für verrückt gehalten, nicht ausgelacht werden.
Habe ich selbst mich nicht ständig darüber lustig gemach?
Seancen, Gespräche mit Toten, unsterbliche Seelen …
Pia, ich habe mich geirrt! Es gibt das Übernatürliche! Und man experimentiert nicht damit herum, denn es ist kein Spiel!
Ich habe einen Fehler gemacht. Du musst beenden was ich begonnen habe, denn er wird sich eine neue Bleibe suchen.
Lies meine Aufzeichnungen und vergiss nicht, worum ich dich bat.
Erledige ihn! Beende seine Existenz. Es muss sein. Er ist böse.
Becca

Pias Hände zitterten, als sie den Brief zu Seite legte. Sie griff nach dem Buch. Hatte Becca den Verstand verloren?

Mea Tulpa las sie.
Was bedeutete das?
Sie schlug das Buch auf. Als sie einmal angefangen hatte zu lesen, konnte sie nicht mehr aufhören.

MEA TULPA

 

02. September

Alles begann mit meiner Einsamkeit. Man kann sich trotz Familie, Freunden und Job verlassen fühlen. Ich vermisste Zweisamkeit, eine eigene Familie. Irgendwann reicht ein Kater nicht mehr, auch, wenn er so ein Schatz ist wie Gandalf. Ich wollte nicht darüber reden. Pia könnte mich eh´ nicht verstehen! Sie liebt die Unabhängigkeit. Vor drei Monaten hatte ich einen Termin beim Heilpraktiker. Stressbewältigung. In Einzelsitzungen lernte ich Entspannungstechniken, insbesondere Selbsthypnose. Als ich einmal im Wartezimmer saß, las ich in einem Reisejournal einen Bericht über den Tibet. Hier entdeckte etwas, das ich kaum glauben konnte! Trotzdem ließ mich diese Vorstellung nicht mehr los. Begierig las ich den Bericht über die Tulpas ein zweites Mal. Ich hatte noch nie von Tulpas gehört. In dem Report schrieb man darüber, als seien diese Wesen Realität.

Waren sie das wirklich?

03. September

Es war schwieriger als ich dachte, aber ich habe mir weitere Informationen über Tulpas beschafft. Leider ist meine Ausbeute sehr mager, nur einige Erläuterungen. Demnach ist ein Tulpa ein geistgeschaffenes Wesen, das auch psychisch-reale Gestalt annehmen kann. Er ist eine mental erzeugte Wesenheit. Ein nichtmenschlicher Geist. Ein erfundenes Gespenst sozusagen!
Die tibetanischen Mönche erschaffen hin und wieder Tulpas, damit sie ihnen behilflich sind. Doch sie lösen deren Dasein auf, bevor die Geistwesen körperliche Gestalt annehmen – denn das können sie.
Ein Fall berichtete in allen Einzelheiten von einem Tulpa, der sich zu einer realen Lebensform entwickelte. Er sah aus, wie ein Mönch. Man hatte Schwierigkeiten ihn von einem Menschen zu unterscheiden!
Doch je länger er existierte, desto weniger gehorchte er seinem Schöpfer. Schließlich wurde der Tulpa sogar bösartig! Es gestaltete sich sehr schwierig ihn aufzulösen.
Wie wäre es, wenn ich mir das Warten auf den Richtigen mit einem Tulpa vertreiben würde? Ein Geist, nach meinen Vorstellungen geformt, der schließlich Gestalt annehmen und bei mir sein würde. Was für eine Vorstellung!
So schwer kann das nicht sein. Ich muss mir den Tulpa nur lebhaft genug vorstellen!
Mein Entschluss steht fest.
 

04. September
Gestern Abend fing ich an. Ich konnte meine Aufregung kaum unterdrücken, trotzdem versuchte ich logisch an die Sache zu gehen. Welches Geschlecht mein Geist haben sollte stand eindeutig fest. Außerdem musste er gut aussehen. Auch das konnte ich mir noch ausmalen. Aber wie stellt man sich Intelligenz vor? Oder Humor?
Abends meditierte ich für drei Stunden. Während der Meditation zog
ich den Telefonstecker raus und schaltete die Türklingel ab. Ich verdunkelte die Zimmer, da ich bei meinen Übungen Kerzenlicht bevorzuge.
Ich stellte mir intensiv vor, wie mein Tulpa aussehen, was für einen Charakter er haben würde. Später beendete ich die Sitzung, in dem ich langsam aus der Trance zurückkehrte.
Natürlich konnte ich noch keinen Erfolg verbuchen. Das hatte ich auch nicht erwartet. Im Gegenteil: ich habe mich darauf eingestellt, dass ich noch viele Stunden mit Meditation verbringen werde.

09. September
Ich meditiere jeden Abend und stelle mir meinen Tulpa intensiv vor. Nach einiger Zeit erscheint mir die Gestalt von meinem inneren Auge so real, als würde ich mir ein Bild ansehen. Meine Vorstellungskraft überrascht mich selbst!
Über eines mache ich mir Sorgen: dass mein Tulpa negative Eigenschaften haben könnte. Ich muss ständig an den widerspenstigen Tulpa des Mönches denken. Allein die Vorstellung eines bösen Geistes jagt mir Panik ein.
Ich folgen exakt den dürftig existierenden Beschreibungen, die ich im Internet und der Bibliothek gefunden habe. Wenn mir kein Fehler unterlaufen ist, muss sich bald eine Erscheinung manifestieren.

2. September
Ich habe festgestellt, dass ich mich mit Hilfe eines Spiegels besser in Trance versetzen kann. Wenn ich mir selbst in die Augen sehe, ist es, als würde mich jemand hypnotisieren.
Schaue ich länger in das Spiegelglas, erscheinen mir meine Augen wie schwarze Löcher.
Das ist beängstigend.
Meine Konzentration lässt immer dann nach, wenn ich an böse Charaktereigenschaften denke. Dann starrte ich mein Spiegelbild an und stelle mir vor, wie furchtbar es wäre einen bösartigen Tulpa zu erschaffen.
Was bin ich doch für ein Angsthase! Immer muss ich gleich den Teufel an die Wand malen.

15. September
Es fällt mir immer leichter in Trance zu fallen! Und ich mache erste Fortschritte!
Gestern Abend spürte ich, wie die Luft um mich vibrierte. Wie Pixels schwirrten einzelne, farbige Lichtpunkte umher! Sie verdichteten sich, setzten sich zu einem diffusen Gebilde zusammen: ein nicht greifbarer Schemen, der wabernd in der Luft schwebte, nur für Sekunden. Ein erhebender Anblick, der mir den Atem nahm.  Es sah so real aus und  Gandalf starrte es mit riesigen Katzenaugen an.

01. Oktober
Endlich ist eingetreten, worauf ich seit Wochen warte! Ich nahm eine deutliche Veränderung der Atmosphäre wahr, sie erschien spannungsgeladen und veränderte sich von einem Augenblick zum anderen. Ich kann es selbst nicht glauben, aber es geschieht etwas schwer erklärbares!
Sind meine Gedankenprojektionen nun stark genug, um dem Tulpa Gestalt zu geben? Ich bin mir sicher! Ich werde eine Beschwörung durchführen und den Geist rufen - denn er kann nur auf mein Anrufungsritual hin erscheinen. Morgen.

03. Oktober
An den gestrigen Abend werde ich mich ein Leben lang erinnern!
Nur der Schein der Kerzen erhellte das Wohnzimmer. Ich hatte ein Glas Rotwein getrunken und saß völlig entspannt vor dem Couchtisch auf dem Teppich, versetzte mich in Trance. Ohne Hokuspokus fing ich an:
„Bist du hier, Tulpa?“, fragte ich in ganz normalem Ton. Ich fühlte mich beobachtet.

„Wenn du hier bist, gib mir ein Zeichen.“

Stille.
Die Kerzen flackerten.
Ich wiederholte die Aufforderung: „Gib mir ein Zeichen, Tulpa!“
Unwillkürlich hielt ich den Atem an.
Wieder ereignete sich nichts.
Und dann nahm ich es überdeutlich wahr: Ein Kribbeln am ganzen Körper, ein Gefühl, als stünde ich unter Strom.
Ich holte tief Luft, um die Frage noch mal zu stellen, als es geschah!
Ich keuchte und schnappte vor Überraschung nach Luft.

Das Weinglas vor mir auf dem Tisch hatte sich einige Zentimeter bewegt.
Kein Zweifel!
„Bist du da, Tulpa?“, meine Stimme klang aufgewühlt. „Wenn ja, dann bewege das Glas bitte noch einmal.“
Es folgte eine kurze Pause. Plötzlich gab es einen Ruck, und das Glas verschob sich erneut.
Zögernd glitt es zum Rand des Tisches, verharrte kurz, und rutschte dann sehr langsam das Oval entlang. Es war, als müsse es sich orientieren, wo es sich befände
Bei der dritten Umrundung wurde es deutlich schneller. Schließlich fuhr es zur Mitte des Tisches; dort blieb es abrupt stehen.
Mein Herz hämmerte zum Zerspringen.
„Wenn du wirklich existierst, gib mir noch einen anderen Beweis! Kannst du das?“
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, obwohl es in Wirklichkeit nur einige Sekunden waren. Dann passierte etwas, dass mich erschrocken zurückfahren ließ.
Es drang ein Geräusch aus der Tischplatte, ein Ton, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Ein tiefliegendes Pochen. Das Möbel bebte.  Das Klopfen veränderte sich, ging in ein Scharren über, das zu einem Kratzen wurde. So, als kratze jemand von innen am Holz, und wollte heraus.
Mein Puls raste. Das Glas kreiste wieder. Ich war am Ende meiner Nerven, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich die Beschwörung dermaßen mitnehmen würde. Ich brauchte eine Atempause, ein wenig Abstand. Vor allem Zeit zum Nachdenken!
„Lass uns aufhören. Bitte!“, sagte ich deshalb in den leeren Raum.
Erst geschah nichts, dann sauste das Glas in einer geraden Linien über den Tisch, über die Platte hinaus und gegen die Wand. Ich hörte es Klirren.
Erschrocken schlug ich die Hände vor das Gesicht.
Totenstille. Nichts passierte.
Als ich aufstand um Licht zu machen, traute ich meinen Augen nicht. Das Glas lag gänzlich unversehrt auf dem Boden.
Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte den Geist zu verabschieden. Obwohl das in den Schriften angeraten wird hoffe ich nicht, dass es irgendwelche schlimmen Folgen haben wird.

05. Oktober
Ich brauchte Stunden, um mich nach diesen Ereignissen wieder zu beruhigen. Sich etwas auszumalen, ist eine Sache – es am eigenen Leibe zu erfahren, etwas ganz anderes.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich Angst haben würde. Aber so ist es. Die Furcht vor dem Unbekannten sitzt mir plötzlich tief in den Knochen.
Für mich steht fest, dass ich nervlich nicht in der Lage bin mit den spirituellen Versuchen weiterzumachen. Deshalb werde ich sie abbrechen und den Geist auffordern dahin zurückzukehren, woher er gekommen ist.
Leider kann ich nirgendwo Hinweise darauf finden, wie man einen Tulpa entmaterialisiert. Vermutlich ist der Beschwörungsvorgang ähnlich, nur, dass die Projektionen ein Verschwinden des Geistes beinhalten.

 

13. Oktober
Als ich emotional gefasster war, begann ich mit der Prozedur. Ich dunkelte das Zimmer ab, stellte Kerzen auf, versetzte mich mit Hilfe des Spiegels in Trance. Mein Gesicht und meine Augen wirkten fremd, fast unheimlich.
Ich rief den Geist, aber er kam nicht wieder - egal, wie lange ich bettelte!
Ärgerlich beschloss ich die Sache zu vergessen und kehrte zu meinem gewohnten Alltag zurück. Es ereignete sich nichts Außergewöhnliches, außer, dass der Kater einige Male fauchend aus dem Wohnzimmer rannte.

17. Oktober
Es hört sich unglaublich an, selbst ich glaube es kaum, obwohl ich es doch erlebt habe.
Zuerst fiel mir auf, dass mein Spiegelbild verändert aussah. Finsterer. Die Haare waren dunkler. Ich betrachtete mich kritisch, musterte eindringlich jede Einzelheit des mir so vertauten und plötzlich fremden Gesichtes.
Das Bild im Spiegel tat das Gleiche, und doch war es anders. Als wenn der Spiegel alles um den Bruchteil einer Sekunde verzögert reflektierte, eine Winzigkeit später..
Nicht immer. Sogar so selten, dass ich mich frage, ob nicht wieder meine Fantasie mit mir durchgeht, wie Ben immer behauptet.
Es bleibt ein mulmiges Gefühl.

21. Oktober
Mein Spiegelbild tut nicht das, was ich mache!
Ich kniff mein rechtes Auge zu, starrte dabei angestrengt in den Spiegel, in dem meine Reflektion einen Lidschlag später das Auge zukniff.
Beängstigend und fesselnd zugleich. Alles in mir schrie nach Flucht, stattdessen spitzte ich die Lippen zu einem Luftkuss. Einen Herzschlag danach zog auch das Spiegelbild einen Kussmund.
O mein Gott! Wie kann man nur soviel Furcht und gleichzeitig Faszination empfinden.
So durcheinander war ich noch nie.
Es kann nicht anders sein: das im Spiegel bin nicht ich. Aber wer ist es dann? Oder was?

23. Oktober
Ich wollte endlich Gewissheit. Es musste einen Weg geben herauszufinden, ob ich Sinnestäuschengen erlebte oder nicht. Der Gedanke an einen Geist ließ mich erbeben – der an Wahnvorstellungen ängstigte mich nicht weniger.
Ich wollte mein Gegenstück überlisten. Leider gelang es mir nicht! Die Spiegelfrau tat sich ebenfalls zuviel Zahnpasta auf die Bürste, putzte sich genauso flüchtig die Zähne.
Es gab keinen Unterschied, keine Verzögerung.
Ich verzog abschätzig die Lippen: Mein Ebenbild auch - es verdrehte die Augen, streckte die Zunge heraus.
Unwillkürlich schrie ich gellend auf und versteckte mich hinter den Badetüchern. Mein Schock war sowohl einfach nachvollziehbar, als auch sehr schwer erklärbar: Ich hatte vor dem Spiegel nie die Augen verdreht, gekreischt und die Zunge herausgestreckt. Eine lange, schwarze, gespaltene Zunge.

24. Oktober
Ich gehe durch die Wohnung, ohne einen Blick in die Spiegel zu werfen. Vielleicht sollte ich sie alle zuhängen? Mein Gefühl sagt mir, dass es besser wäre hier weg zu gehen und Hilfe zu holen. Aber wer könnte mir helfen? Wer würde mir glauben? Was, wenn man mich in eine Nervenheilanstalt steckte? Nein, ich werde allein eine Lösung finden.
Das nächste Mal erwischte mich die Spiegelung im Schlafzimmer.
Ich hatte gerade den roten Bademantel ausgezogen und wollte unter die Decken kriechen, als ich aus den Augenwinkeln mein Abbild in der Spiegelkommode sah. Zögernd schaute ich genauer hin.
Im Spiegel stand ich noch immer im Bademantel da.
Gegen meinen Willen ging ich näher heran. Die Frau kam auf mich zu, starrte mich aus bodenlosen Augen an.
„Streck bloß deine scheußliche Zunge nicht raus“, raunte ich heiser. Nichts geschah.
„Wer bist du?“ fragte ich.
„Wer bist du?“ fragte die Spiegelfrau gleichzeitig.
„Ich heiße Becca“, antwortete ich. Das Spiegelding bewegte die Lippen nicht, blieb stumm.
Es zog den Bademantel aus, legte ihn hinter sich auf das Bett. Dann stand es wieder vor mir. Mein perfektes Ebenbild.
Bis es den Mund zu einem Maul aufriss und die schwarze Schlangenzunge hervorschlängelte, die zwischen zwei Reihen langer, spitzer Zähne vorschnellte. Vor Erschütterung konnte ich nicht einmal schreien.
Ich verbrachte die Nacht im Auto, mit einem jaulenden Gandalf auf dem Rücksitz, und allem Studienmaterial, das ich über Tulpas besaß.

25. Oktober
Mir ist ständig kalt. Ich habe Angst vor meinem eigenen Schatten. In den Unterlagen habe ich nichts gefunden, was mir helfen könnte.
Ich habe lange nachgedacht und glaube zu wissen, was geschehen ist. Meine bösen Gedanken, schlechten Empfindungen, all das Ungute und Negative, das ich von meinem Tulpa fernhalten wollte, hat sich manifestiert. Statt eines liebenswerten Tulpas ist dieses beängstigende Wesen entstanden.
Wahrscheinlich, weil ich während der Sitzungen immer wieder mein Gesicht im Spiegel betrachtet hatte. Deshalb wählte der Geist meine Gestalt und wurde zu einer existenten Projektion meiner Bosheit.

31. Oktober
Seit fast einer Woche ist es zu keinen ungewöhnlichen Vorkommnissen mehr gekommen. Es muss alles ein Anfall von Hysterie gewesen sein Erstaunlich, wie man sich in eine Sache hineinsteigern kann. Nie wieder werde ich ein Experiment dieser Art durchführen. Das schwöre ich mir selbst.
Endlich kommen meine Nerven zur Ruhe. Alles wird gut.02. November

Was für eine Idiotin ich bin!
Ich hätte mir an fünf Fingern abzählen können, dass der Geist lediglich Kräfte sammelte! Dem Tulpa ist klar, dass nur ich seine Existenz beenden kann. Niemand sonst weiß von ihm. Sollte ich ihn auslöschen, würde er nicht weiter gedeihen, sich nicht festigen können. Dieses Risiko wollte er ausschließen.
Das Grauen hat von Neuem begonnen. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Da ist niemand, der mir helfen kann!
Wie werde ich dieses Wesen los? Ich bin verzweifelt!

05. November
Gandalf ist tot. Der Tulpa hat ihn umgebracht. Ach, ich kann nicht aufhören zu heulen. Mein lieber, dicker Kater ist so bestialisch gestorben! Verreckt, das ist der richtige Ausdruck. Er ist elendig verreckt!
Ich fand ihn im Schlafzimmer. Als ich ein scharrendes Geräusch hörte, guckte ich unter das Bett. Da lag ein Haufen glibberndes, feucht glänzendes Zeug. Zuerst dachte ich, Gandalf hätte wieder ein Kaninchen gerissen und die Innereien diesmal unter das Bett gelegt. So sah es jedenfalls aus.
Kein Blut, aber ich erkannte Venen, Muskeln und Fett. Und etwas, das aussah wie ein lebendes Herz. Es pochte. Zuerst begriff ich nicht, was ich sah. Die nassen, rötlichen Organe zuckten, und ich erkannte allmählich den Umriss eines Körpers. Er bewegte Stummel, die wie Pfoten aussahen.
Es waren Tatzen, und ein langer Schwanz. Der Geist hatte meinem Kater sein Inneres nach außen gekehrt, als wenn er einen Pullover gewendet hätte. Ich weiß nicht, wie das möglich ist!
Gandalf lag da, ich konnte sein Herz schlagen sehen und hörte Töne, die ich nie vorher gehört habe, auch niemals wieder hören will! Das hilflose Tier zuckte und scharrte unbeholfen mit seinen rohen Fleischpfoten. Keine Erlösung, kein Erbarmen. Es war das Furchtbarste, das ich je gesehen habe!
Ich weiß nicht wie lange er sich quälte, bis er starb. Ich konnte ihn nicht töten, saß einfach nur da, als hätte mir jemand einen heftigen Schlag auf den Kopf gegeben. Ständig die jammervollen Klagelaute seines Leidens und Sterbens in den Ohren. Mein Verstand weigerte sich zu begreifen, was ich gesehen hatte. Ich kann nur noch weinen und mich übergeben.

06. November
Ich bin ein Nervenbündel! Der Tulpa zeigt sich immer öfter und überall. Er hat eine eigenständige Persönlichkeit erlangt.
Wenn ich aus dem Fenster schaue und meine, dass ich in der spiegelnden Scheibe eine Reflektion meiner selbst sehe, dreht diese sich um und geht davon. Sitze ich im Bus, verzerrt sich mein Gesicht in der Scheibe zu einer aufgedunsenen, grünlichen Fratze. Sie sieht aus, wie eine Wasserleiche.
Seit Tagen traue ich mich nicht auf die Straße, war nicht arbeiten oder einkaufen. Ich verkrieche mich, wie ein Tier in seinem Bau. Weglaufen hat keinen Sinn, er kann mir überall hin folgen.
Manchmal höre ich Geräusche. Ein Wispern, ein Rauschen, dumpfes Poltern aus den Wänden. Nichts Greifbares, aber es ist da!
Ich habe geweint und ihn auf Knien angefleht, mich in Ruhe zu lassen. Später versuchte ich ihn zu vernichten. Mit Schreien, Kraft meiner Gedanken, sogar mit Gebeten. Aber einen Tulpa kann man nicht so einfach auflösen. Vielleicht habe ich was falsch gemacht - ich weiß es nicht. Ich bin am Ende meiner Kräfte.

09. November
Es klopfte.
Aus meinem Kleiderschrank, mitten in der Nacht. Es hörte sich an, als ob jemand darin säße und darauf wartete, dass ich die Tür öffnete.
Dann herrschte Stille.
Ein paar Augenblicke lag ich lauschend in der Finsternis.
Da war es wieder! Deutlich wahrnehmbar. Ein unheimliches Geräusch.
Ich machte überall Licht, zog den Schlüssel aus dem Schloss und ließ den Schrank nicht aus den Augen. Das Klopfen hörte auf.
Ich verkroch mich in meinem Bett.
Gerade als ich dachte, es wäre vorbei, ertönte das Pochen erneut. Diesmal kam es unter dem Bettgestell hervor. Nichts in Welt hätte mich dazu gebracht den Kopf hinunterzubeugen um darunter nachzusehen! Meine Gänsehaut war durch das Nachthemd zu spüren. Ich hatte Angst!
Das Geklopfe unter mir verstummte.
Stattdessen hob sich der Nachttisch in die Höhe, stand still, sank wieder herab und bewegte sich keinen Millimeter mehr.
Dafür klopfte es wieder. Von draußen gegen das Fenster. Im dritten Stock.
Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und rannte zur Schlafzimmertür.
Die Wäschekommode neigte sich nach vorn. Sie fiel nicht um, sondern verharrte - halb gekippt - in einem völlig unmöglichen Winkel. Die Schubladen gingen nicht auf. Ich war so gebannt von dem Anblick, dass ich einfach nur da stand und zusah.
Als die Schubfächer schließlich mit einem Zischen aufsprangen, stieß ich einen Schreckensschrei aus. Meine T-Shirts, Slips und Strümpfe schwebten durch die Luft.
Die Deckenlampe schaukelte wild hin und her.
Als ich nach der Türklinke griff, schob sich ein Sideboard vor die Tür. Der Weg war versperrt.
Dann ging das Licht aus.

Ich versteckte mich schluchzend in dem Winkel unter dem Fenster. Dort drehte ich mich zitternd in die Übergardinen ein, als könnten diese mich beschützen.
Hin und wieder klopfte es unter dem Bett. Das allein reichte aus, um mich in der dunklen Ecke zu halten.
Die Zeit schien nicht zu vergehen. Draußen brach die Dämmerung an, es war nicht mehr ganz so finster. Meine Angst ließ ein wenig nach. Einmal, als alles ruhig blieb, schlich ich sogar barfuss durch das Zimmer, um den Lichtschalter zu finden.
Ich ertastete das Fußende meines Bettes. Gerade wollte ich erleichtert darauf klettern, als eine Hand hervorschoss und sich um meinen nackten Knöchel krallte.
Wie eine Wahnsinnige kreischte ich auf und trat wild um mich. Doch da war nichts, kein Körper, kein Gegner. Nur die unsichtbare Hand die mich eisern in ihrem eiskalten Griff gefangen hielt.
Entsetzt kämpfte ich gegen die Leere. Die Klaue begann mich langsam, aber unaufhaltsam zu schleifen. Oh mein Gott, sie würde mich unter das Bett ziehen!

 

10. NovemberIch lebe! Wahrscheinlich weil ich ohnmächtig wurde und der Tulpa meine Energie nicht mehr anzapfen konnte. Völlig fertig schloss ich mich im Badezimmer ein. An meinem rechten Knöchel waren deutlich blaue Flecken zu sehen. Sie sahen aus, wie Finger. Der Geist ist viel stärker, als ich angenommen habe.

Das Tageslicht beruhigte mich. Ich nahm ein heißes Bad. Die Wärme tat meinem geschundenen Körper gut. Bis zum Kinn versank ich im Badewasser. Mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen ruhte ich mich aus.
Das Wasser wurde rasch kühl. Ich ließ heißes nachlaufen, das ebenso schnell erkaltete. Als ich die Augen öffnete, sah ich deutlich meinen Atem vor dem Mund. Die Luft hier drinnen war eisig! Eine unnatürliche Kälte breitete sich aus.
Ich wusste, was das hieß: Der Tulpa war im Badezimmer. Bei mir. Ganz nah. Und ich hatte die Tür verriegelt, war mit ihm eingeschlossen.
Noch ehe ich aus der Wanne steigen konnte, blickte ich auf die Buchstaben, die nach und nach auf der beschlagenen Spiegelscheibe erschienen. Obwohl ich am liebsten davongerannt wäre, sah ich dem Schauspiel gefesselt zu. Eine Botschaft erschien.
`Du wirst mich nicht vernichten !`
Die Schrift verlief bereits und Wasserrinnsale rannen wie Blut die Scheibe hinunter, als der unsichtbare Finger eine zweite Zeile schrieb:
`Du wirst sterben!`

11. November
Es kostet mich eine unglaubliche Kraft die Ereignisse weiter aufzuschreiben. Aber ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist. Das Geistwesen lässt mir kaum einen Augenblick Ruhe.
Seit dem Morgen hüpft der Tulpa von Spiegel zu Spiegel. Von Kachel zu Fenster, zu Wasser, ja sogar aus meiner Kaffeetasse starrt er mich an. Geisteraugen verfolgen mich. Und Stimmen. Ein Murmeln und manchmal ein Singen oder Lachen. Ich werde noch wahnsinnig!
Einmal, als ich zu nahe an einem Spiegel vorbeiging, griff eine Klaue nach mir. Lange, spitze Zähe bohrten sich tief in mein Handgelenk. Der Schmerz war unerträglich. Das Miststück hatte mich gebissen! Wirklich gebissen!
Aus dem Keller schleppte ich Bens alten Hammer und einen Rest Deckenfarbe herauf. Ich zerschlug sämtliche Spiegel.
Das Wesen reagierte mit Zorn. Noch bevor ich den letzten Spiegel zerstören konnte, ließ es ihn zersplittern. Die Scherben flogen wie eine Splitterbombe in mein Gesicht. Es war pures Glück, dass meine Augen nicht verletzt wurden.
Mein T-Shirt war voller Blut, aber ich ließ mich nicht beirren.
Ich suchte die Zimmer nach größeren Scherbenstücken ab. Der Tulpa könnte mich damit umbringen, und er würde nicht zögern es zu tun. Er hatte noch nicht die Kraft ohne Spiegel als feste Wesenheit zu erscheinen. Zumindest vermutete ich das.
Deshalb mussten alle Stücke so fein wie möglich zersplittert werden. Anschließend strich ich alle reflektierenden Oberflächen mit der Deckenfarbe an - einschließlich der Fenster. Danach fühlte ich mich einigermaßen sicher.

Noch heute Abend werde ich Pia das Buch bringen.
Danach kehre ich zurück um den Tulpa zu vernichten. Ich hoffe, dass meine Angst und mein Zorn mir die nötige Kraft geben, um den Geist zu vernichten.
Einer von uns wird heute ausgelöscht.
Mea Tulpa.
Oder ich.

Hier endeten die Tagebucheinträge.
Der 11. November war ihr Todestag.

Für Pia stand fest, dass ihre Freundin an Schizophrenie oder einer anderen Geisteskrankheit gelitten hatte. Halluzinationen waren dabei keine Seltenheit. Bilder, Geräusche, Verfolgungswahn – alles typische Symptome. Warum nur hatte sie nichts von alledem erzählt?

Bedrückt legte Pia das Buch in das Kästchen zurück.
Konnte sich ein Mensch so in seinen Wahn steigern, dass er zum Schluss Selbstmord beging?
Ja, mit Sicherheit. Wahrscheinlich war es bei Becca so gewesen.
Geister! Sie glaubte nicht an Geistererscheinungen.
In den frühen Morgenstunden änderte sie ihre Ansicht.
Für immer.

Die Bettdecke wurde mit einem Rück weggezogen. Pia fuhr hoch. Am Fußende ihres Bettes stand genau das, was es ihrer Ansicht nach nicht gab. Eine Erscheinung. Sie war deutlich in der Dunkelheit zu sehen, denn sie leuchtete schwach aus sich selbst heraus. Es war ein gedämpftes Licht, dennoch konnte Pia jede Einzelheit erkennen. Die schwarzen Haare, das magere Gesicht, die kummervollen Augen. Die Gestalt streckte Pia ihre Hände hin. Die grässlichen Verletzungen an den Pulsadern stachen dunkelrot von der bleichen Haut ab. Mit der Rechten umklammerte sie eine große, scharfe Spiegelscherbe. Blut tropfte unablässig auf die Matratze. Ein flehender Blick traf Pia. Der Geist schnitt seine Pulsader weiter auf, öffnete sie noch mehr, vergrößerte die Wunde. Immer wieder und wieder fuhr die Scherbe über die blutenden Schnitte, konnte scheinbar nicht ruhen.

Becca war zurückgekehrt.

Pias Gesicht wurde Rebeccas immer ähnlicher. Es war bleich, ängstlichund unter den müden Augen lagen dunkle Ringe. Drei Nächte hintereinander war Beccas Seele erschienen, um sich vor Pias Augen zu verstümmeln.

Sie hatte sich Ben anvertraut und ihm von dem Spuk erzählt. Seinen mitleidigen Blick konnte sie kaum ertragen, auch seine Worte halfen ihr kein bisschen weiter. „Wir sind alle mit den Nerven runter. Das geht vorbei, vertrau mir.“
Er glaubte ihr kein Wort!
Kein Wunder, dass seine Schwester ihre Erfahrungen lieber für sich behalten hatte!
Pia begann die Nächte zu fürchten.
Warum erschien Becca ihr? Sie wusste keine Antwort.
Es sei denn, der Geist wollte sie leiden sehen.
Aber warum?
Ihr nächster Gedanke ließ Pia wie elektrisiert auffahren.
Es gab noch eine andere Möglichkeit.
Die Erscheinung wollte sie quälen, weil sie gar nicht Becca war. Und wenn sie nicht ihre Freundin war, dann konnte es nur einer sein.
„Der Tulpa ...“ flüsterte sie.

Zu Pias Erleichterung verlief die Nacht ereignislos. Schlafen konnte sie trotzdem nicht. Morgen wollte sie von Becca Abschied nehmen. In zwei Tagen würde die Beisetzung stattfinden. Der Gedanke sie bleich und tot in einem Sarg liegen zu sehen, war schrecklich. Um sich abzulenken, las sie noch mal in Mea Tulpa.

„Du Miststück“, sagte sie danach. „Ich weiß, dass du sie umgebracht hast. Aber diesmal ziehst du den Kürzeren.“
Sie fuhr zusammen, als sie ein lautes Knacken hörte.
Am folgenden Morgen entdeckte sie die Ursache für das Geräusch. Der Garderobenspiegel wies vom Boden bis zum oberen Rand einen Riss auf.
Sie setzte sich an den PC und loggte sich ins Internet ein. Bald hatte sie die gewünschte Information gefunden. Sie verfasste eine ausführliche Mail, und sendete sie an die angegebene Anschrift. Nur zwei Stunden später erhielt sie eine Antwort und bestätigte kurz den Termin.
Die ausgedruckte Adresse steckte sie in ihre Handtasche.

Pia war erst acht Jahre alt gewesen, als ihr Großvater starb. Als sie mit ihrer Mutter an seinem geöffneten Sarg stand, hatte sie grauenhafte Angst, ihr Opa würde sich aufsetzten und kichern. Daran dachte sie auf ihrem Weg zur Trauerhalle. Der Friedhof lag verlassen da. Es war noch früh. Die Kirchturmuhr schlug gerade 7.00 Uhr. Hoffentlich war die Halle schon geöffnet. Die schwere Tür ließ sich mühelos aufziehen. Sie folgte einem langen, dämmrigen Flur. Es gab mehrere Räume zur Aufbahrung, aber sie waren zur ihrer Erleichterung alle leer. Rebeccas Sarg befand sich im letzten Trauerzimmer. Sie sah friedlich aus in ihrem Lieblingsnachthemd. Pia schluchzte. Sie ging einen Schritt näher an den Sarg, traute sich jedoch nicht Becca zu berühren. Die Tote strahlte eine unheimliche Majestät aus, die sie als lebendiger und fröhlicher Mensch nie gehabt hatte.

Pia sah, wie Beccas rechte Hand zitterte.
Das Blut stockte ihr in den Adern, als der Arm zuckte.
Entsetzt wich sie zurück, stolperte über ihre Füße und fiel hin.
Der Leichnam öffnete die Augen. Sie sahen aus, wie zwei hartgekochte, geschälte Eier. Glänzend und weiß.
Pia rappelte sich auf. Sie brachte keinen Ton heraus, das Grauen schnürte ihr die Kehle zu.
Ihr schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit!

Der Körper setzte sich mit einer ruckartigen Bewegung auf, die leblosen Augen waren auf Pia gerichtet. Die Tote verzog den Mund, der wie eine hässliche Wunde in dem Gesicht klaffte, und zischte Pias Namen.
Sie hörte die unheimliche Stimme der Leiche, rau, abgehackt und hasserfüllt: „Du wirst ... mich ... nie vertreiben ... Ich werde bleiben ...“
Endlich konnte Pia schreien.
Sie drehte sich um und rannte blindlings los, hörte, wie hinter ihr das Becca-Ding mühsam aus dem Sarg kletterte.
`Das ist nicht real ... das ist nicht real!`, hämmerte es in ihrem Kopf. Sie lief weiter zum Ausgang. Raus, nur raus aus der Trauerhalle. Sie zog an der Tür, aber die ließ sich nicht öffnen. Pia wimmerte und warf einen hastigen Blick über ihre Schulter.
Nichts.
Wieder zerrte sie mit aller Kraft an der Klinke. Vergeblich!
Sie schluchzte und hämmerte mit den Fäusten dagegen. „Bitte, bitte macht die Tür auf! Hört mich denn keiner?“
Nichts passierte. Als sie sich umdrehte, war in dem dunklen Gang niemand zu sehen.
Es herrschte Totenstille.
Pia bebte am ganzen Körper.
Dann hörte sie schlurfende Schritte ...

Verzweifelt warf Pia sich gegen die Tür, als diese unerwartet aufschwang. Sie hätte nur drücken müssen!
Hinter ihr wurde das Geräusch näherkommender, schwerfälliger Schritte lauter. Sie hörte, wie der Leichnam atmete.
`Tote atmen nicht!`, dachte sie. `Tote atmen nicht!´
`Sie laufen auch nicht herum`, entgegnete eine Seite ihres Verstandes, `Und trotzdem kommt eine Leiche aus ihrem Sarg, Pia! Wie erklärst du dir das, hmm? Wie erklärst du dir das?!`
Es waren rasselnde Atemzüge, wie die einer Asthmakranken.
`Was willst du jetzt tun, Pia?`, fragte der Verstand.
„Laufen, einfach nur laufen.“
Sie stieß die schwere Pforte gerade auf, als das Becca-Ding aus dem Trauerzimmer auf den Korridor trat.

Für den Bruchteil einer Sekunde empfand Pia Mitleid, als der Körper mit ruckartigen, marionettenhaften Bewegungen auf sie zustapfte. Beccas Arme waren ausgestreckt, das Nachthemd schlotterte um ihre Beine. Der Augenblick war ebenso blitzartig vorbei, wie er gekommen war. Die harten, weißen, Augen und das Keuchen drängten Pia wegzulaufen. Sie zwängte sich durch die Tür und rannte, wie noch nie in ihrem Leben. Im Auto drückte sie alle Türknöpfe nach unten und sah immer wieder in die Spiegel, ob Beccas Leiche mit ungelenken Schritten angewankt kam.

Der Weg blieb leer.
Endlich sprang der Wagen an, aber in ihrer Panik würgte sie ihn ab.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Sie schlug auf das Lenkrad, drehte noch einmal den Schlüssel, und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Sie wusste genau, wohin sie wollte.
Mit Sicherheit konnte man ihr dort helfen.

Das Tibetische Zentrum an der Stadtgrenze lag in einer weitläufigen, ruhigen Parkanlage. Pia hatte keinen Blick für den wunderschönen, fernöstlich gestalteten Garten. Der buddhistische Tempel ragte vor ihr auf. Sie eilte die Treppen hinauf.
Ein junger Mönch, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, stand auf der obersten Stufe. Er lächelte ihr zu und neigte grüßend seinen kahlen Schädel.
„Entschuldige“, keuchte Pia, „ich möchte Yogi Djwal Khul sprechen.“ Sie stolperte über den ungewohnten Namen.
Der Tibeter lächelte: „Ich bin Djwal Khul. Sie sind wegen der Siddhis hier?“ Er sprach akzentfrei.
„Siddhis?“
Der Yogi schmunzelte. „Siddhis oder Nos. Den übernatürlichen Kräften?“
„Ja.“
„Ich habe Ihre Mail gelesen. Sie glauben Kontakt zu einem geistgeschaffenen Wesen zu haben?“
Es befremdete Pia, dass es einen so jungen Yogi gab, der sich noch dazu mit E-Mails auskannte. Doch sie nickte.
„Das stimmt. Zu einem Tulpa.“
Sie erzählte ihm alles. Angefangen mit Beccas Aufzeichnungen, über die Heimsuchungen in ihrer Wohnung und das schreckliche Erlebnis auf dem Friedhof. Würde er ihr glauben?
Djwal schien nicht im mindestens erstaunt.
„Der Tulpa ist keine Chimäre oder gar eine Erfindung, wie dies von vielen Gebildeten des Westens gern behauptet wird. Auch ich verfüge über wunderbare Fähigkeiten. Natürlich kann ich einen Tulpa entstehen lassen.“
„Aber du ... Sie sind noch so jung.“
„Meine Seele ist sehr, sehr alt. Zudem bin ich ein Yogi. Das Hervorbringen eines geistgeschaffenen Wesens ist ebenso wenig ein Problem für mich, wie die Erschaffung eines Doppelgängers, oder die Kunst mich unsichtbar zu machen. Ich bin in der Lage mit einem Atemzug ins Nirvikalpa Samadhi einzutauchen.“ Er bemerkte Pias ratlosen Blick. „Das ist die höchste Stufe einer mystischen, ekstatischen Trance. Es gibt außer mir nur noch einen Menschen, der das vermag.“
„Dann können Sie mir helfen?“
Ein Kopfnicken war die Antwort. „Es hat mich sehr erstaunt, dass es einer Frau Ihrer Kultur gelungen ist, einen Tulpa zu erschaffen.“
„Mich auch, Djwal Khul. Am Ende hat es sie das Leben gekostet.“
„Ein Menschenleben ist ein zu hoher Preis für Siddhis. Doch sie wird weiser wiederkehren.“
„Das ist sie doch schon! Ihr toter Körper ...“
Der Mönch fiel ihr ins Wort: „... wurde von dem Tulpa benutzt. Er hat den Leib übergestreift, wie einen Mantel. Chetsangpa ratna shri buddhi – über den Moment des Todes – lehrt man uns dieses: Der Körper bleibt wie ein Stein am Ort des Todes, während der Geist, durch keinen Stoff gebunden, wie eine Feder, die sich unabhängig im Wind bewegt, davongetragen wird.“
Pia war sich nicht bewusst, dass sie den Jungen ehrfurchtsvoll ansprach:
„Sind Sie sicher, Meister?“
„Das bin ich. Nun will ich den Tulpa sehen und das Notwendige tun. Bringen Sie mich dorthin, wo das Geistwesen erschaffen wurde. An diesen Ort muss es zurückkehren, und dort werde ich es bannen.“
Sie setzte ihn vor Beccas Wohnung ab, drückte ihm den Ersatzschlüssel in die Hand und wartete angsterfüllt im Auto.

Pia erfuhr nie, wie Djwal Khul das geistgeschaffene Wesen auflöste. Als sie ihn Stunden später vor dem Tibetischen Zentrum absetzte, antwortete er auf ihre Frage: „Es ist ein Mysterium der Yogi – wie die Schöpfung der Tulpa. Wäre ich der Meister und Sie meine Schülerin, würde ich es Sie lehren. Irgendwann. Wenn es an der Zeit wäre. Doch hier ist etwas geschehen, was niemals hätte passieren dürfen.“
„Sie haben Recht“, stimmte sie ihm zu. „Ist es jetzt vorbei?“
„Ja.“
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Meister Djwal Khul.“
Wieder ein Lächeln, ein leichtes Beugen des Kopfes. „Ich weiß, was Sie sagen wollen. Und es freut mich. Ihre Freundin hat nichts Böses getan, glauben Sie mir. Über den Ursprung des Leidens, das Bodhicarvavatara, wird gesagt: Denn alle Gefahren, alle Leiden ohnegleichen, entspringen einzig dem Geist, so hat der Verkünder die Wahrheit gesagt.“
Nach einem letzten Gruß verschwand er im Park des Anwesens.

Morgen war die Beisetzung. Was der Bestattungsunternehmer wohl getan hatte, als er Rebeccas Leiche im Gang fand? Pia konnte es sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich würde er es vertuschen. Es wäre ein schlechtes Aushängeschild für seine Firma. Sie trat aus der Duschkabine und rubbelte sich vor dem Spiegel die Haare trocken. Undeutlich sah sie sich in dem beschlagenem Glas, bis es allmählich klarer wurde. Dann erkannte sie es. Das Gesicht in dem Spiegel war nicht ihres. Es gehörte Becca.

 

Stumm schauten sie einander an.
Als Rebecca schließlich lächelte, zeigten sich keine spitzen, langen Zähne oder eine schwarze Schlangenzunge. Diesmal war es wirklich Becca mit ihrem vertrauten Lächeln. Sie wirkte heiter, gelöst und sah gesund aus. Und wunderschön. Sie hatte ihren Frieden gefunden.

Schließlich begann das Gesicht zu verblassen. Pia konnte bereits ihre eigenen Konturen unter Rebeccas erkennen. „Leb wohl“, sagte sie, „Leb wohl, Becca.“ Das Spiegelbild hob die Hand zu einem letzten Gruß, drehte sich um ging davon.