- Der Engelmacher
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Das Haus stand in einer Sackgasse neben dem städtischen Krematorium. Von meinem Schlafzimmerfenster aus blickte man auf eine hohe Mauer aus rotem Klinker.
Es war Ralf gewesen, der das Häuschen gekauft hatte. „Ruhige Lage“, meinte er damals. „Wenig Nachbarn. Genau das, was wir brauchen.“ Und er musterte mich verstohlen von der Seite.
Still war es hier! Besonders jetzt um diese Zeit, wenn die Dunkelheit hereingebrochen war. Fröstelnd schloss ich das Fenster, und wollte eben die Vorhänge zuziehen, als ich mein Spiegelbild in der Scheibe sah: Der hochschwangerer Leib wölbte sich unter dem Nachthemd, aber mein Gesicht war seit Ralfs Tod schmal und blass geworden.
Ich vermisste ihn. Trotz allem, vermisste ich ihn mehr als ich sagen konnte.
Drüben im Krematorium haben sie ihn verbrannt. Dabei hätte alles so schön sein können! Wenn er nur nicht so ängstlich gewesen wäre. Ich hatte ihm doch gesagt, dass ich alles unter Kontrolle habe.
Ich seufzte, und lächelte meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe tröstend zu. Es erwiderte mein Lächeln.
Ich kniff ein Auge zu. Es starrte zurück, ohne mit einer Wimper zu zucken.
Mir wurde kalt. Eiskalt. (WEITER)
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Augen in der Scheibe nicht so saßen, wie es sein sollte. Sie waren … verrutscht. Nur minimal. Es sah aus, als hätte jemand eine Schablone über mein Spiegelgesicht geschoben. Eine Augenschablone. Oder,als gehörten die Augen zu jemand anderem.
In meinem Genick spürte ich ein frostiges Kribbeln, das wie Eiswasser mein Rückgrat hinunterfloss. Ich wich einen Schritt zurück.
Lauf weg, war mein erster klarer Gedanke, möglichst weit!
Die Augen verfolgten jede meiner Bewegungen. Rechts und links von ihnen tauchten zwei undeutliche Schatten auf: schwarze Hände, die sich zu Fäusten ballten, von denen eine wie ein Geschoss die Scheibe durchschlug.
Ein schimmernder Regen flog durch das Zimmer, und ergoss sich über den Teppich. Weitere Schläge folgten, hämmerten das Glas restlos aus dem Rahmen. Salve um Salve schossen die Splitter durch die Luft.
Ich ging in die Hocke, zog den Kopf ein und zog schützend die Arme um meinen Bauch.
Irgendwann herrschte Ruhe. Bis auf das keuchende Atmen, das zu hören war. Wie eine Beatmungsmaschine …
Bebend schaute ich auf.
Die schwarzen Hände stützten sich auf das Sims, doch noch ehe die Gestalt sich hoch hieven und ins Zimmer gelangen konnte, schwindelte mir. Die Welt wurde so klein, als betrachtete ich sie durch die verkehrte Seite eines Fernglases, dann verschwamm sie und schließlich war alles fort. Mein letzter Gedanke galt meinem Baby.„Mach das weg!“, hatte Ralf verlangt, als ich ihm sagte, dass ich schwanger sei. „Bevor es zu spät ist!“
Er schaute mir dabei nicht ins Gesicht, sagte kein Wort mehr. Das war auch nicht nötig. Ich wusste, was in ihm vorging. Er hatte Angst. Angst, dass unser Kind mir glich. Oder schlimm noch: dass es so sein könnte wie ich, egal, ob ich alles unter Kontrolle hatte.
Obwohl das vor unser Heirat für ich kein großes Problem gewesen war. „Du hast es doch unter Kontrolle, oder Marthe?“, wollte er wissen.
Ich bejahte, und Ralf verschwendete offenbar keinen weiteren Gedanken daran. Dachte ich - denn später war es genau das, was ihn in Furcht und Schrecken versetzte.
„Mach das weg, sonst prügele ich es aus dir heraus“, wiederholte er immer wieder. Und: „Schau mich nicht an.“
Aber ich hatte ihn angeschaut. Ein letztes Mal, denn es ging um mein Baby, das, nach Ralfs Meinung, nicht zur Welt kommen sollte. „Schau mich an!“, befahl ich ihm. Wie die fremde Stimme es jetzt von mir verlangte.
„Schau mich an!“
Ich blinzelte, wollte mich aufsetzten - doch das ging nicht, weil meine Hände und Füße an die Bettpfosten gefesselt waren. In meinem Mund steckte ein Lederknebel, der an meinem Hinterkopf zugebunden war. Es war nicht Ralf, der von Toten auferstanden war und neben meinem Bett stand, sondern ein Mann mit einer Sturmmaske in einem schlichten schwarzen Anzug.
Die Leute vom Beerdigungsinstitut hatten ähnliche Kleidung getragen, als sie Ralfs Leichnam abholten. Aber sie trugen keine Priesterkragen.
Ich gab ein leises Wimmern vor mir, doch als ich sah, was der Schwarze in seiner Hand hielt, fing ich an hemmungslos zu schluchzen.Die schlanke Klinge glänzte wie bei einem rituellen Dolch. Und vielleicht war das Messer für diesen Mann genau das: Ein geweihter Gegenstand, Teil eines Glaubens, den ich nicht verstand.
Meine Beine und Arme zitterten derart heftig, dass meine Hände gegen den Kopfteil des Bettes schlugen.
Das Messer war scharf wie ein Skalpell; ich hörte das Flüstern der Baumwolle, als die Schneide mein Nachthemd aufschlitzte.
„Ich bin ein Engelmacher!“; raunte die Stimme unter Maske.
In mir rasten zwei Herzen: Meines schlug so heftig gegen die Rippen, dass es schmerzte, und doch tat es nicht so weh, wie das Puchern des sich überschlagenden Herzschlag meines Kindes zu spüren.
„All die vaterlosen, unschuldigen Kinder der sündigen Mütter schicke ich Heim, ehe ihre Seelen im irdischen Dasein verderben.“
Tränen rannen seitlich über meine Wangen. Nasenschleim verklebte meine Nasenlöcher, lief meinen Rachen hinunter, was mir das Luftholen erschwerte.
Ich wusste, es gab keine Chance, denn ich hatte alles über den Mann in der Presse verfolgt, der nachts in die Wohnung allein stehender Schwangerer eindrang.
In den Zeitungen stand, dass er die Ungeborenen aus ihren Müttern herausholte, per Kaiserschnitt. Sie verbluteten an den Folgen, ihre Babys blieben unauffindbar. Alles, was er zurückließ, waren ein paar winzige, weiße Flaumfedern.
Jetzt begriff ich, was es mit den Federn auf sich hatte: Auf dem Nachttisch lagen Flügel. Weiße, flaumige Flügelchen. Und eine stabile Nadel, durch die ein Silberdraht gefädelt war, wohl, um die Engelsschwingen am Körper festzunähen.
Er streichelte die Schwingen: „Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen, und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfänget als ein Kindlein, der wird nicht hinein kommen.“
Die Hände hörten auf zu streicheln, der Stahl war kalt, als er ihn ansetzte. Es tat weh, als die Klinge in mein Fleisch drang, nicht tiefer, als eine Betäubungsspritze. Der Schnitt wurde rasch und präzise ausgeführt, als zeichnete er mit der Klinge lediglich vor, wie der eigentliche Schnitt verlaufen sollte. Ich konnte fühlen, wie die Haut auseinanderklaffte. Es folgte ein zweiter, waagerechter Schnitt: Ein Kreuz. Nach der Kälte der Klinge wurde die Wunde warm und klebrig. Nach Kupfer riechende Rinnsale quollen hervor, während winzige Füßchen von innen gegen meine Bauchdecke traten, kraftvoll und drängend, als wollten sie davonlaufen.
Mit einem blubberndem Geräusch sog ich Sauerstoff durch meine Nase, füllte meine Lungen und versuchte all meine Kräfte zu sammeln, um die Fesseln zu zerreißen.
Mein Baby rührte sich nicht mehr, als wüsste es, dass sein Leben in Gefahr war. Es verhielt sich so still, wie ein junges Kaninchen in seinem Bau, wenn der Fuchs davor sitzt.
Ich schrie, doch der Knebel ließ nur gedämpfte, undeutliche Laute heraus und ich wünschte mir mit jeder Faser meines Seins, mit jedem Nerv, jedem Blutstropfen und jedem Tritt meines Kindes nur eines: Dass der Mann mir ins Gesicht, in die Augen, sehen möge. In meinem Schädel hämmerte es: „Siehmichansiehmichansiehmichan …“
Und plötzlich hörte das Schneiden auf. Der Schwarze zog die Klinge heraus, ich konnte fühlen, wie sie aus meinem Fleisch glitt. Er neigte lauschend den Kopf, schaute auf den Knebel, kroch mit seinem Blick über meine Lippen zu meiner Nase und weiter nach oben – direkt in meine Augen.
Meinem Hals entrang sich ein erleichtertes Ächzen. Als mein Blick den des Engelmachers traf, konnte er den seinen nicht mehr abwenden.
Er schüttelte den Kopf. Erst langsam, dann heftiger.
Wie Ralf damals. Genau wie Ralf.
Er griff sich auch genauso an die Schläfen, und durch die Sehschlitze der Maske konnte ich sehen, wie seine Augäpfel hervortraten.
Auch bei Ralf war das so gewesen.
Bei Ralf, und all den anderen, die mir keine andere Wahl ließen.
„Aber … ich bin doch ein Engelmacher“, flüsterte er, bevor er kreischte, wir nur ein Sterbender kreischt, der unter furchtbaren Schmerzen litt.
Und ich ein Toddenker, dachte ich, und weißt du was? Ich habe alles unter Kontrolle!Die Schreie verstummten, wichen einem dumpfen Laut, als der Schwarze zu Boden ging.
Ich hörte Sirenen, die rasch näher kamen, Blaulicht zuckte. Vermutlich hatte irgendjemand sein Brüllen gehört und Hilfe gerufen.
In meinem Unterleib rührte sich nichts, so sehr ich auch weinte und versuchte meine Gedanken zu meinem Baby zu senden: Ich erhielt kein Lebenszeichen.
Vielleicht war es ja schon ein Engel.Vermutlich wird die Polizei eine Menge Fragen stellen. Die Obduktion des Engelmachers wird ergeben, dass er an einem Hirnanarysma gestorben ist. Außergewöhnlich groß.
Ich schaue in das zarte Gesichtchen meines schlafenden Sohnes, der neben mir im Krankenhausbett liegt.
Er hat Ralfs Augen.
Nicht meine …