- Psychopompos
Der Junge saß auf dem Korridor der Krebsstation. Direkt Annas Zimmer gegenüber, dessen Tür wie üblich einen Spalt auf stand.
Er spielte Gameboy.
Sie beobachtete ihn und fragte sich einmal mehr, wen er wohl besuchen mochte. Die vergangenen drei Tage hatte er jeden Nachmittag dort gesessen.
Anna vermutete, dass er zu der Gruppe der Herz Jesu Kirche gehörte. Es waren gläubige Menschen, die regelmäßig die Onkologie besuchten, um sich mit den Todkranken zu unterhalten, ihnen zuzuhören oder einem Sterbenden die Hand zu halten, bis der letzte Atemzug getan war und er kein Geleit mehr brauchte.
Einmal hatte Anna gehört, wie zwei der Frauen in einem Zimmer das Ave Maria sangen, und obwohl sie weinen musste, fühlte sie sich getröstet.
Die Schwestern nannten diese Leute respektvoll „die Seelsorger“.
Nach einer Weile stand der Junge auf. Er grinste Anna aufmunternd zu, was sie mit einem matten Lächeln quittierte, und ging seiner Wege.
Zögernd nahm Anna den Kosmetikspiegel, der auf dem Nachttisch stand, und betrachtete sinnend ihren kahlen Schädel. Wehmütig dachte sie an ihr schwarzes Haar, das sich noch vor kurzem bis zu ihren Schultern lockte. Sanft fuhr sie mit der Hand über die Glatze und ertastete feinen, weichen Flaum.
Vor der ersten Chemotherapie hatte sie sich eigenhändig den Kopf geschoren. Diese Radikalmethode war für sie einfacher zu verkraften gewesen als mit anzusehen, wie ihr Strähne um Strähne ausfiel.
Nach der Prozedur hatte Anna fast eine Stunde geweint. Dann beschloss sie, sich auch mit dieser Tatsache abzufinden. Es war ihr nicht ganz gelungen. Ihr haarloser Anblick versetzte ihr jedes Mal wieder einen Stich. ... WEITER
Fast fünf Monaten war das jetzt her. Gestern hatte sie die fünfte von insgesamt sechs Chemo-Behandlungen erhalten. Alle zwei Wochen eine, seit ihre linke Brust komplett amputiert wurde.
’Es sieht aus, als hätten sie mir das Herz herausgenommen und einen kalten, toten Stein an seiner Stelle hineingesetzt’, dachte Anna, wenn sie die Amputationsnarben sah. ’Und genauso fühlt es sich auch an ...’
Sie betrachtete die Narben oft. Und dann erinnerte Anna sich an ihre gleichmäßigen, nicht zu großen Brüste. Ihre gesunden, selbstverständlichen Brüste, die sie zu einer vollwertigen Frau gemacht hatten. Die Erinnerung daran verblasste immer mehr. Vielleicht lag das aber auch an den starken Schmerzmitteln, die sie bekam.
Heute fühlte sie sich nur noch als Karikatur einer Frau. Keine Brust, keine Haare und abgemagert bis auf die Knochen. Aber immerhin, noch lebte sie!
Noch … Der Krebs hatte gestreut. Die Zeit, in der sie der Krankheit nichts mehr entgegenzusetzen haben würde, war nah.
Und damit die Angst.
Energisch schob Anna diese Gedanken beiseite, denn sie brauchte ihre ganze noch verbliebene Kraft. Positives denken war jetzt von Vorteil! Das hatte ihr auch die freundliche Dame von den Seelsorgern gesagt, die am Sonntag bei ihr gewesen war.
„Kindchen, Sie müssen positiv denken und auf den Herrn vertrauen, dann wird sich alles zum Guten wenden. Sie werden sehen!“ Sie betete mit Anna, denn Anna hatte verlernt zu beten und auf Ihn zu vertrauen, obwohl sie es verzweifelt versuchte.
Erst habe ich Gott verlassen – jetzt hat Gott mich verlassen, dachte sich.
Sie war allein.
Seufzend ließ Anna den Spiegel sinken, und sah den Jungen am Fußende ihres Bettes stehen. Er hielt eine einzige Blume in der Hand. Es war eine weiße Lilie.
Der Blondschopf mit den grünen Augen war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Er grinste zuversichtlich und trat ruhelos von einem Fuß auf den anderen.
Anna hatte sich immer einen Sohn gewünscht. Er hätte so aussehen können, wie dieser Junge: ein pfiffiges Gesicht mit sorglosem Blick, lässiges T-Shirt, weite Jeans, Turnschuhe. Cool.
Obwohl sie unsagbar müde war, munterte der Anblick sie auf.
„Hey“, begrüßte er sie, „ich bin Mike, und die ist für dich.“
Anna nahm die Blume.
„Meine Mutter sagt, dass Lilien Grabblumen sind“, antwortete sie lächelnd, „aber als positiv denkender Mensch werde ich die Blume als ein gutes Zeichen werten.“
Der Junge zuckte mit den Schultern: „Bei den Engeln sind sie ein Symbol für Reinheit.“.
„Das wusste ich nicht.“
„Man kann nicht alles wissen“, erwiderte er altklug.
Sie lachte auf.
„Wen besuchst du?“, fragte sie neugierig.
Mike strahlte sie erstaunt an: „Na, wen wohl? Heute besuche ich dich!" Er nahm seinen Gameboy aus der hinteren Hosentasche, damit er bequemer sitzen konnte. Dann ließ er sich auf den Stuhl neben Annas Bett plumpsen.
Aufmerksam betrachtete er ihren Kahlkopf, das ausgezehrte Gesicht mit den übergroß wirkenden braunen Augen, den ausgemergelten Körper, die kraftlosen Arme und ihre zitternden Hände.
„Du bist müde“, stellte er fest, während er an seinen Fingernägeln knibbelte.
Anna nickte. „Ich wünschte, ich könnte einmal richtig schlafen. Tief, fest und erholsam. Ganz ohne Träume und ohne ständig aufzuwachen. Einfach nur ausruhen." Und dann, sie wusste selbst nicht, warum, fügte sie hinzu: „Am besten für immer. Ich glaube, es dauert jetzt eh nicht mehr lange, weißt du? Alles fühlt sich anders an. Ich spüre meinen Körper nicht mehr deutlich. Es kommt mir vor, als wäre meine Haut ist ganz dünn und ich wäre leicht wie eine Feder. Sogar die Farben haben sich verändert. Sie sind intensiver und klarer geworden.“
„Du meinst, du wirst sterben.“ Es war eine Feststellung.
Der Junge kam offensichtlich mit den anderen Seelsorgern in seiner Freizeit her. Flüchtig stellte sie sich die Frage, was für Menschen seine Eltern waren, ob es richtig war, ihrem Sohn solche Erfahrungen so nahe zu bringen? Er war ein starkes, besonderes Kind und sie wollte ihm keine Angst machen. Aber sie mochte den Jungen auch nicht belügen.
„Vielleicht“, sagte sie schließlich.
Sie trank einen Schluck Wasser und sog vor Schmerz zischend den Atem ein. Ihre Mundschleimhäute waren durch die Chemotherapie so stark entzündet, dass sie kaum noch etwas zu sich nehmen konnte. Seit einiger Zeit wurde sie künstlich ernährt.
„Ich habe keine Angst vor dem Tod. Und du?“, fragte er ohne falsches Taktgefühl.
„Doch, ich schon.“ Das Sprechen ermüdete Anna. „Nicht vor dem, was danach kommt. Davor nicht. Eigentlich habe ich nur Angst vor dem Sterben."
Verständnisvolles Kopfnicken war die Antwort.
Die Geste ermutigte Anna. Gleichzeitig war sie dankbar, dass sie endlich über ihr Sterben und den Tod sprechen konnte. Bis jetzt war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr es sie belastete, nicht frei darüber reden zu können.
Ihre Familie, ihre Freunde und Kollegen, sie alle wollten nichts davon wissen. Sie leugneten es, machten ihr, aber vor allem sich selbst, falsche Hoffnungen. Immer wieder bekam sie zu hören: „Du wirst wieder gesund, du musst nur fest daran glauben. Und kämpfen!“
Als ob man nicht mit aller Macht um sein Leben kämpfen, sondern sich einfach hinlegen und sterben würde!
Ihre Schlacht war fast vorüber, und sie schien verloren. Heute saß ein Seelsorger an ihrem Bett. Und auch wenn er noch sehr jung war, hörte er ihr zu. Es brachte ihr große Erleichterung: „Ich stelle es mir vor wie früher beim Tauchen. Als ich noch ein Kind war."
„Was genau meist du?“ Er richtete seinen wachen Blick auf sie.
„Das Tauchen im Freibad. Im Sommer. Wir Kinder tauchten bis zum Grund des Beckens, um einen roten Gummiring herauf zu holen. Auf dem Weg zurück nach oben, wurde mir fast immer die Luft knapp. Und ich bekam Angst! Ich dachte, ich schaffe es nicht bis zum Licht und meine Lungen würden platzen. Aber die Helligkeit über mir, das gleißende Sonnenlicht, zogen mich unwiderstehlich an. Dieses Leuchten bedeutete Leben!“
Bei dieser Erinnerung musste Anna flüchtig lächeln. „Das ist eine Ewigkeit her!“
„Das Gefühl kenne ich ganz genau!“, rief der Junge aufgeregt.
Sie fuhr fort: „In dem Augenblick, als ich glaubte zu ersticken, durchbrach ich die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Ich denke, wenn man stirbt, durchbricht man gar nichts. Nur dieses schreckliche Gefühl nicht atmen zu können, das bleibt. Und davor habe ich Angst." Ermattet schwieg sie.
Mike schüttelte seinen blonden Schopf: „So ist es bestimmt nicht.“ Er lächelte beruhigend. Spontan ergriff er ihre heißen mit seinen kühlen Händen.
Anna schmunzelte: „Woher willst du das wissen? Du bist ein kluges Köpfchen, aber trotzdem bist du ein Kind. Ihr lernt heute alles über Sex, Geburt und das Leben. Aber nichts über das Sterben, oder den Tod. Wir verstecken unsere Sterbenden vor den Lebenden. Ich glaube, dass das falsch ist.“
„Du scheinst ganz in Ordnung zu sein“, sagte Mike unbefangen. „Jedenfalls bist du nett und freundlich! Bestimmt hast du versucht, dein Leben anständig zu leben. Ich wette, du gehörst zu den Menschen, die noch echte Gewissensbisse bekommen können! Wovor solltest du Angst haben? Zu dir wird der Tod sicher nicht garstig sein.“
„Ein schöner Gedanke!“ Anna lachte leise und schüttelte schwach den Kopf. „Du glaubst, der Tod kommt zu jedem in einer Weise, wie er es verdient? Er schaut in ein dickes Buch, so ähnlich wie der Weihnachtsmann, und erscheint dann als furchteinflößender Sensenmann, als liebe alte Dame oder als kleines Mädchen?“ Sie kicherte, erheitert über diese kindliche Vorstellung.
„Na ja, nicht ganz“, räumte der Junge ein. „Das mit dem Buch meinte ich ganz und gar nicht! Und sicher handelt er auch nicht nach seinen eigenen Vorstellungen.“ Er grinste lausbübisch. „Aber der Rest deiner Beschreibung kommt der Wahrheit schon ziemlich nahe. Denke ich. “
Belustigt hörte Anna ihm zu. „Und der Tunnel? Das Licht? Wo sind die verstorbenen Freunde und Angehörigen, die einen erwarten sollen? Hast du darüber auch Informationen, hm?“
Er steckte sich einen Kaugummi in den Mund und kaute eine Weile darauf herum. Ernst sah er ihr in die Augen. Dieser Blick traf ihr Innerstes, ließ sie erzittern.
Und ahnen.
Mike nickte. „Wenn es an der Zeit ist, wird der Tod freundlich zu dir sein. Du wirst seine Hand ergreifen, egal, in welcher Gestalt er zu dir kommt, und dich vom irdischen Leben abwenden, um ihm zu folgen. Am Ende der Dunkelheit, am Ende des Tunnels, wirst du das Licht sehen und an seiner Seite den Weg dorthin finden. Du kannst dich nicht verirren, denn er ist bei dir. Er geleitet dich sicher und sorgt für deine Seele.“
Der Junge stand auf. „Habe also keine Angst in deiner letzten Stunde.“
Er schlenderte zum Fenster und betrachtete einige Zeit stumm das pulsierende, laute und bunte Treiben da draußen. Ab und zu machte er eine Kaugummiblase, die mit leisem Ploppen zerplatzte.
Anna ließ ihn nicht aus den Augen.
Auf den Fluren hörte man die typischen Geräusche eines Krankenhauses. Es war bald Zeit für das Abendessen. Servierwagen wurden durch den Korridor gerollt. Es roch nach Speisen und Tee. Eine Schwester lachte.
Der Junge lauschte dem schweren Atem der Kranken, horchte auf das leise Rascheln ihrer Bettdecke.
Schließlich, als es anfing zu dämmern, wandte er sich vom Fenster ab und trat an ihr Bett.
Anna lächelte, gab ihrer Ahnung endlich nach und fragte flüsternd: „Wie spät ist es, Mike?“
Er erwiderte ihr Lächeln freundlich: „Es ist deine letzte Stunde, Anna.“
Die Ahnung wich der Gewissheit. Sie leugnete es nicht länger, sondern akzeptierte sein Hiersein.
Der Tod streckte ihr fürsorglich seine rechte Kinderhand entgegen, die Anna zaghaft ergriff.
Sie atmete ein, und ganz sacht und zitternd wieder aus. Dann noch einmal und schließlich zum letzten Mal. Sie fühlte eine seltsam gleitende Bewegung.
Plötzlich stand sie an seiner Seite. Anna drehte sich nicht um, sah nicht zurück zu dem Bett, in dem eine tote Frau mit friedlichem Gesichtsausdruck und einer weißen Lilie in der Hand ruhte.
Sie ging ohne Angst mit Mike durch die Dunkelheit, den ganzen Tunnel entlang. Anna konnte sich nicht verirren, denn er geleitete ihre Seele sicher über die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten. Bis in das Licht.
Der Engel Michael, der Seelenführer, hatte die Wahrheit gesagt: Sterben war kein bisschen wie Tauchen.
Zur Erläuterung:
Ein Psychopompos ist ein Führer der Seelen. Er geleitet die Seelen der Verstorbenen in das Reich der Toten. Im Christentum sind der Erzengel Michael und der Riese Christophorus diese Seelenführer.