- Tramper
Gina kannte die Strecke in- und auswendig. Unzählige Male war sie auf dieser Landstraße nach Hause gefahren. Im Vergleich zur Autobahn war es ein Umweg, den sie allerdings gern in Kauf nahm. Rechts und links säumten Felder, Wiesen und Waldstücke die Straße. Sie liebte das! Bis in alle Ewigkeit könnte sie so fahren. Bis in alle Ewigkeit, und noch viel länger.
Die ersten Sterne funkelten eisblau, im Osten schob sich eine riesige Mondscheibe hinter den Tannen hervor.
„Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen,
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar …“, sang Gina und warf ihrer Beifahrerin, einer Tramperin, einen auffordernden Blick zu. Doch diese blieb stumm. Also summte Gina nur leise vor sich hin und beschleunigte.
Nun flogen die Bäume vorüber und bald konnte man im Fernlicht einen Hügel erkennen. Den Tumulus, ein Hügelgrab.
„Das ist ein Feenhügel aus grauer Vorzeit, angeblich ein Tor zur Anderswelt, in der es weder Kummer noch Schmerz geben soll“, erläuterte Gina der jungen Frau. „Haben Sie das gewusst?“
Die Anhalterin nickte: „Ja“, antwortete sie einsilbig und schaute auf den Hügel. Als Susanne hatte sie sich Gina vorgestellt. Susanne … soundso.
Aus den Augenwinkeln schielte Gina zu der schweigsamen Gestalt. Warum nur habe ich sie mitgenommen?, bereute sie im Stillen. Wäre ich bloß an ihr vorbeigefahren! ... WEITER
Hinter dem Hügel lag eine scharfe Kurve. Mehrere Schilder wiesen auf die Gefahr hin, trotzdem waren hier schon etliche Auto- und Motorradfahrer tödlich verunglückt. Einmal sogar ein Fußgänger, der dort nachts betrunken herumspazierte.
Angehörige und Freunde hatten zur Erinnerung an die Unfallopfer Holzkreuze in die Erde des Feenhügels gesteckt. Wie Knochenfinger ragten empor und boten ein beklemmendes Bild.
„Die Leute behaupten, dass es an der Straße um den Tumulus spuken würde.“ Gina kicherte. „Angeblich sollen einige Geister mit ausgestrecktem Daumen am Straßenrand stehen, um per Anhalter mitfahren zu können.“
Susanne erwiderte nichts, starrte sie lediglich an.
„Albernes Geschwafel!“, fuhr Gina fort, die dem Geschwätz ihr Leben lang keinen Glauben geschenkt hatte. „Wo sollten sie wohl hinwollen?“ Sie lachte. Trotzdem. Gina musste jedes Mal an diese Spukgeschichten denken, wenn sie die Straße am Feenhügel entlangfuhr. Sie hielt sogar nach diesen Phantomanhaltern Ausschau, weil sie die leichten Schauer genoss, die sie dabei durchrieselten. Ein unbestimmtes Gefühl tief in ihrem Inneren, eine unerklärliche Sehnsucht.
Die junge Frau neben ihr gab keine Antwort.
„Einmal passierte diese Sache mit dem Mann, der von einem Fußballspiel nach Hause fuhr. In der Nähe des Tumulus ließ er einen Anhalter einsteigen. Der Tramper trug ein normales T-Shirt, Jeans und seine Haut wirkte auffällig bleich. Außerdem war er nicht besonders gesprächig: Auf die Frage, wohin es gehen sollte, erwiderte er lediglich: „Maasbüll.“ Nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren, drehte der Mann sich zur Seite, um mit seinem Fahrgast ein Gespräch anzufangen. Doch der Anhalter war weg! Obwohl der Wagen nie gestoppt hatte und keine Tür geöffnet worden war, verschwand der Tramper einfach so.
Der aufgeregte Fahrer meldete den Vorfall der Polizei, aber die konnte natürlich nichts tun und informierte ihn lediglich darüber, dass am gleichen Tag bereits fünf ähnliche Meldungen eingegangen waren.“
„Wirklich?“, flüsterte die Anhalterin. „Das ist ja unheimlich!“
Ermutigt, weil sie ihre Begleiterin endlich in eine Unterhaltung verwickeln konnte, fuhr Gina fort: „Ja, nicht wahr? Und dabei soll es um den Tumulus Dutzende Erscheinungen geben: eine Anhalterin, die bevorzugt Motorradfahrer stoppt, nur um dann spurlos vom Soziussitz zu verschwinden. Oder der zwölfjährige Junge, der immer an einer Gruppe Weiden aussteigen will und behauptet, in der Nähe zu wohnen, bevor er sich in Luft auflöst. Ein Mann, der Sandalen trägt, soll die Wiederkehr Christi prophezeien , bevor sich ein modriger Geruch im Fahrzeug ausbreitet und der Tramper vergeht. Sie alle sind auf der Straße um den Feenhügel ums Leben gekommen und ihre Seelen können oder wollen ihren plötzlichen Tod nicht begreifen, sagt man.“
Susanne drückte sich tief in die Polster des Beifahrersitzes und ließ Gina nicht mehr aus den Augen.
„Natürlich sind das alles nur nette Anekdoten für einen unterhaltsamen Abend“, befand Gina und fuhr an dem Hügel vorbei, bevor sie in rasantem Tempo die Kurve nahm.
„Bitte!“, hauchte die Tramperin. „Bitte, lassen Sie mich aussteigen.“
Verblüfft stieg Gina auf die Bremse. „Hier?“ Sie schaute nach draußen. „In dieser Einöde? Bis Maasbüll ist es noch ein gutes Stück.“
Susanne öffnete die Autotür und deutete vage in eine Richtung. „Ich möchte gerne noch ein Stück zu Fuß gehen.“
Bevor sie ausstieg, wandte sie Gina noch einmal ihr blasses Gesicht zu: „Danke fürs Mitnehmen. Ich hoffe, dass Sie ihr Ziel bald erreichen.“
Lautlos fiel die Tür zu. Gina fuhr langsam an. Als sie ein letztes Mal in den Rückspiegel blickte, konnte sie lediglich das dunkle Band der Straße und die Umrisse des Feenhügels sehen. Keine Spur von der Tramperin!
Ihr wurde schwindelig. Für einen Augenblick fühlte sie sich völlig desorientiert. Die Welt um sie herum verschwand, die Sterne erloschen und auch der Mond war nicht mehr zu sehen.
Über ihr wölbten sich die Äste der Bäume wie ein Tunneldach, und am Ende der Dunkelheit konnte sie ein Licht erkennen.
Verdammt! Wo bin ich?, dachte sie. Hier wollte ich nicht hin! Sie wendete, und beschleunigte den Wagen. Kurz darauf hatte sie das Blätterdach hinter sich gelassen.
Die Sterne funkelten und über den Tannen hing eine riesige Mondscheibe. Sie liebte diese Strecke! Bis in alle Ewigkeit könnte sie so fahren. Bis in alle Ewigkeit, und noch viel länger.
Kein Autostopp mehr!, nahm sich die junge Frau vor und ging so schnell wie möglich zur nächsten Polizeiwache, um den unheimlichen Vorfall zu melden.
„Und dann war sie von einer Sekunde zur anderen verschwunden?“, resümierte der Polizist.
Susanne nickte. „Ja. Das heißt, nein, nicht ganz. Sie wurde allmählich undeutlicher, richtig durchsichtig. Ich konnte den Mond durch ihren Körper sehen. Einen Moment war es, als würde ein riesiges Feuerzeug aufflammen. Danach war sie fort. Einfach so.“
„Und das Auto?“
„Das Auto auch! Alles war weg, als wäre niemals etwas da gewesen.“
„Wo befanden Sie sich zu diesem Zeitpunkt?“
Sie errötete. „Sobald ich aus dem Wagen raus war, habe ich mich in den Straßengraben plumpsen lassen. Ich hatte Angst. Sie denken sicher, dass ich völlig verrückt bin …“
„Nein.“ Der Beamte schüttelte den Kopf und kramte eine dicke Akte hervor. Er nahm ein Foto heraus. „Sah die Frau, die Sie mitgenommen hat, so aus?“
„Ja! Das ist sie!“
„Uns werden regelmäßig Vorkommnisse dieser und ähnlicher Art geschildert, und alle ereignen sich auf der Straße um den Feenhügel. Die Frau auf dem Bild hieß Gina Reger. Vor zwei Jahren kam sie wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn ab und überschlug sich in der Nähe des Hügels. Sie war sofort tot. Ihr Mann sagte, sie nahm gerne Tramper mit. Zur Gesellschaft.“
Susannes Magen fühlte sich an, als hätte sie Eiswürfel verschluckt, und ihre Zähne taten ihr weh, als hätte sie etwas Kaltes zerbissen.
Sie dachte an das Tor zur Anderswelt. An den Feenhügel, die Holzkreuze, die darauf standen, und dass eines davon vielleicht Gina Regers Namen trug.