Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

MolochDer Malaikat Maut

Mit einer Sternenkarte und einem Fernrohr ausgerüstet, schlich Henry in den Garten des Seniorenheims, in dem er seit einem knappen Jahr wohnte. Sein Blick richtete sich auf die flimmernden Lichtpunkte am klaren Nachthimmel.
Man könnte glauben, es sind viel mehr Sterne als sonst, dachte er. Doch er wusste es besser. Bei Dunkelmond, wenn der Mond von der Erde aus unsichtbar ist, hatte er jedes Mal diesen täuschenden Eindruck.
Vorsichtig, damit er auf dem feuchten Gras nicht ausrutschte, stakste Henry bis zur Mitte des Rasens, weg von den Bäumen, um eine bessere Sicht nach Norden zu haben.
Durch das Fernglas entdeckte er den Großen Wagen, im Westen glitzerten Herkules, Leier und Wega. Er wurde nicht müde sie anzuschauen. Henry liebte den Dunkelmond, auch wenn abergläubische Menschen ihn fürchteten, weil er angeblich die Zeit des Todes war.
Henry schnaubte verächtlich.
Die Heimbewohner tuschelten ebenfalls, dass Malaikat Maut, der Engel des Todes, in solchen Nächten durch die Flure geisterte. Henrys Zimmernachbar behauptete sogar, ihn gesehen zu haben.
„Er trug eine schwarze Kutte. Es überlief mich eiskalt, als er an mir vorbeischwebte. Er blieb von Agnes’ Zimmer stehen und verschwand darin.“
Nein ... Flügel habe der Engel nicht gehabt, auch kein Schwert oder eine Sense. „Aber“, betonte er, „wie ihr wisst, starb Agnes noch in der gleichen Stunde.“
Nun, sie starb jedenfalls in der gleichen Nacht, erinnerte Henry sich ... (WEITER)
Schwester Sigrid fand sie am Morgen, zerrte die Bettdecke über den Leichnam und meinte, dass Agnes’ Zeit eben gekommen sei ... ebenso wie die der drei anderen Heimbewohner, die im Abstand von jeweils einem Monat entschliefen.
Alte Menschen sterben nun mal häufiger als junge, sagte Henry sich, hustete und spie einen zähen, rostfarbenen Schleimklumpen aus. Besonders, wenn sie krank sind.
Trotzdem stellte er sich die Frage, ob es ein Zufall sein konnte, dass der Tod alle unter dem dunklen Mond zu sich geholt hatte.
Nach einem letzten Blick in den Nachthimmel machte er sich auf den Rückweg. Ein kalter Wind blies durch seinen Pyjama, die Pantoffeln fühlten sich klamm an und erst jetzt bemerkte er, dass er völlig durchgefroren war.
Verdammte Feuchtigkeit!, grollte er. Verdammtes Alter!
Vor dem Eingang blieb er stehen und beobachtete durch die Fenster Schwester Sigrid, die ihre übliche Runde drehte.
Als sie außer Sicht war, schlüpfte Henry ins Haus. Er gestattete sich ein Schmunzeln. Niemand hatte etwas von seinem Ausflug mitbekommen.
Er konnte nichts Außergewöhnliches feststellen, sah man vom fehlenden Mondlicht einmal ab. Es war nicht kälter als sonst oder ruhiger, nicht unheimlicher, mysteriöser und sonst was.
Und doch war der Tod ganz nahe.

Die Leuchtzifferuhr, die in dem langen Korridor hing, zeigte zehn Minuten nach drei, als Henry das Geräusch hörte. Ein verstohlenes Tappen ganz in der Nähe.
Er hielt inne. Kam Schwester Sigrid zurück? Oder spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Von dort, wo er stand, konnte er den Aufzug und den Empfangstresen sehen. Vorsichtig schlich er näher. Die Gänge lagen im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung verlassen da. Bis auf die Tür zur Wäschekammer waren alle anderen Türen geschlossen.
Er wartete kurz, bevor er sich langsam nach vorn schob und krampfhaft einen Hustenanfall unterdrückte. Da war das Geräusch wieder! Für Sekunden konnte er es hören.
Auf Zehenspitzen stahl er sich weiter und versteckte sich hinter einem großen Blumenkübel.
Fast hätte er geschrien, als ein Schemen um die Ecke bog. Sein Herz stolperte und sein Körper fühlte sich so hart und kalt wie ein Grabstein an, als der Todesengel an ihm vorbeirauschte.

Die Kapuze der Robe schien eine Leere zu umhüllen. Groß und hager fegte der Todesengel mit wehender Kutte durch den Korridor.
Die Tür zu dem Trakt, in dem die Zimmer der pflegebedürftigen Senioren lagen, war nur angelehnt. Sie schwang mit einem Wispern nach innen, als seine bleiche Hand sie aufstieß. Der Todesengel trat hindurch und verharrte.
Kein Laut war zu hören, nichts rührte sich.
Leise eilte er weiter.
Henry beobachtete, wie er das Zimmer von Elsa betrat, hörte auch seine Stimme, so heiser, dass er kaum ein Wort verstand: „Elsa, es ist Zeit für dich, an einen besseren Ort zu gehen.“ Sachte schloss er die Tür hinter sich.
Am Morgen fand man Elsas Leiche. Henry wurde endlich klar, dass der Tod so leibhaftig war wie er selbst – und er begann die Nächte des dunklen Mondes zu fürchten.

Wovon war er aufgewacht?
Henry zwinkerte, um besser sehen zu können. Durch die Vorhänge fiel der breite Lichtstrahl einer Straßenlaterne, in dem sein Pyjamaoberteil wie ein fahles Leichenhemd aussah. Irgendwo schlug träge eine Uhr dreimal. Sein fiebrigheißer Kopf sank auf das Kissen zurück.
Dunkelmond, sinnierte er und bedauerte, dass er nicht in den Garten konnte. Er verspürte einen gierigen Drang nach frischer Nachtluft. Sein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell und die Lungen schmerzten. Die Lungenentzündung zersetzte seine Kräfte. Mittlerweile war Henry so schwach, dass er nicht einmal mehr die wenigen Schritte zur Toilette allein schaffte.
Gestern hatte er zum ersten Mal das Bett nassgemacht. Jetzt trug er Windeln.
Er spürte ein Brennen, als ihm vor Scham Tränen in die Augen stiegen und sich die Dunkelheit zu verflüssigen schien. Henry presste die Lider fest zusammen.
Da hörte er etwas. Direkt vor seiner Zimmertür. Ein ... ein Rascheln, als schmiege sich jemand gegen das Holz. Irgendwer stand auf dem Gang!
Sekundenlang geschah nichts, dann knirschte es, als die Klinke hinuntergedrückt wurde.
Henry konnte nichts erkennen. Er glaubte schon an einen Fieberwahn, als eine Stimme die Lautlosigkeit zerriss: „Henry, es ist Zeit für dich, an einen besseren Ort zu gehen.“
Behutsam wurde die Tür ins Schloss gedrückt.

Drei, vier Herzschläge später stand der Todesengel am Fußende des Bettes. Er wirkte so finster, dass sich seine Konturen verwischten. Langsam kam er näher.
Verstohlen, dachte Henry, irgendwie ... verstohlen.
„Ein Ort für die Ewigkeit“, raunte der Schwarze. „Dort gibt es keinen Schmerz, Tränen oder Einsamkeit.“
Die Stimme klang eigenartig vertraut in Henrys Ohren, ein Umstand, der ihn trotz aller Angst verwunderte.
Aus den weiten Ärmeln der Kutte näherten sich Henry totenbleiche Hände und enthüllten eine Spritze.
Fortschrittlich, raste es durch Henrys Verstand. Wahnsinnig fortschrittlich ... und irgendwie falsch.
Panik legte sich um ihn wie ein Netz, das ihn eng und enger umschloss. Er ballte die ausgemergelten Fäuste und schlug nach dem Engel, der jedoch flink auswich, wobei ihm die Kapuze vom Kopf rutschte. Als Henry in sein Gesicht sah, konnte er nur noch schreien.

„Schwester Sigrid!“, schrie er. „Schwester Sigrid!“
Die Erkenntnisse reihten sich blitzartig aneinander, wie Einzelbilder auf einer Filmspule: alte, pflegebedürftige Menschen, Sigrid, die Robe, eine Spritze, Tote ... und noch mehr Tote.
Henry gab ein Gurgeln von sich und drückte den Notfallknopf neben sich, immer und immer wieder, obwohl er wusste, dass niemand so rasch kommen würde. Schließlich stand die diensthabende Nachtschwester an seinem Bett.
Kraftlos rangelte er mit ihr, seine Kurzatmigkeit behinderte ihn – trotzdem kämpfte er weiter, schlug um sich, so fest er konnte, und mit einem Male zuckte Sigrid zurück.
Beide Hände fuhren zu ihrem Brustkorb. Sie keuchte, abgehackt und verzweifelt, und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Dann sackte sie auf seinem Bett zusammen.

Die Stille, die nun eintrat, war so absolut, dass Henry für einen Moment glaubte, er wäre taub geworden. Er fuhr zusammen, als Sigrid plötzlich den Kopf hob und mühsam hervorquetschte: „Ich kann ihn sehen.“ Sie deutete zittrig in die Ecke neben dem Fenster. Nichts und niemand war zu erkennen.
„Wen?“
„Malaikat Maut.“
Eisige Beklommenheit umhüllte Henrys Herz.
„Er hat ... schwarze Flügel ... “
Wie ein Wahnsinniger drückte er den Notfallknopf.
„Kannst ... du es ... hören, Henry?“
„Was?“
„Die Musik. Die herrliche Musik.“
Henry schüttelte den Kopf.
„Er spielt ... auf einer Querflöte ... wunderschön ... und er tanzt, Henry ... tanzt ... wiegt seinen Körper ... dreht sich ... neigt sich zu mir ... tanzt ... “
Sie summte eine Melodie, die Henry nicht kannte, die aber augenblicklich heftige Sehnsüchte in ihm weckte.
Sigrid streckte eine Hand aus und bewegte sie rhythmisch. Ihre Füße zuckten, als würde sie zu der lautlosen Musik tanzen.
Sie schloss ihre Lider und Henry hörte sie ausatmen, ein nicht enden wollendes Hauchen - dann war es vorbei.
Beinahe.

Die Dunkelheit sirrte und Henry erfuhr, dass Schwarz grell leuchten kann. Die Robe des Todes schien aus Finsternis gewebt, winzige Lichtpunkte funkelten darauf und erinnerten Henry an den Sternenhimmel bei Dunkelmond.
Stumm stand Malaikat Maut da, die mächtigen nachtschwarzen Schwingen gespreizt. In den ewigen Schatten seiner Kapuze konnte Henry kein Gesicht ausmachen, es verschwand im Dunkel wie in einem bodenlosen Brunnenschacht.
In den knochigen Händen hielt der Engel des Todes eine silberne Flöte. Er hob sie an sein Gesicht, dorthin, wo Henry die Lippen vermutete, doch er spielte nicht darauf.
Stattdessen hatte Henry das sichere Gefühl, dass Malaikat Maut ihn unverwandt anschaute, und er konnte der beinahe lähmenden Intensität dieses Blickes nicht entkommen, spürte ihn so deutlich wie einen kühlen Luftzug. Ein Blick, der bis in sein Innerstes drang, seine Seele berührte und ihm ein stummes Versprechen gab: Bald Henry ... bald ...