Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

HungerHunger

Norbert hielt es nicht länger mit ihr aus. Er hatte es versucht, wirklich versucht, aber seit jener Nacht war nichts mehr wie vorher. Constanze war eine andere geworden und sie jagte ihm Todesangst ein. Alles begann mit einer Spinnenart, die er nie zuvor gesehen hatte.

Ekelhaft, wie sie bewegungslos auf Constanzes weißem Seidenlaken hockte. Ihre Farbe war das schwärzeste Schwarz, das Norbert je gesehen hatte. Er erstarrte. Was für ein Monster, durchzuckte es ihn. Im ersten Moment glaubte er, es sei eine Vogelspinne, aber dazu war sie nicht behaart genug. Wie Quecksilber leuchteten ihre Augen im Schein der Lampe.
Als sie mit ihren kräftigen langen Beinen über den bloßen Fuß seiner schlafenden Frau huschte, umklammerte Norbert sein Buch fester. Jetzt ruhig bleiben, ermahnte er sich, vielleicht verschwindet sie ja wieder!
Erstaunlich flink lief die Spinne die Bettdecke hinauf und legte sich einem Schatten gleich auf Constanzes Hand, bevor sie den Arm entlangkrabbelte und schließlich auf der pulsierenden Vene in der Armbeuge verharrte. Die Vorderbeine hielt sie für Sekunden hoch, leicht von sich gestreckt, beinahe tastend.
Wie gelähmt saß Norbert da, hielt sich weiter an seinem Buch fest und meinte, diese abscheulichen Spinnenbeine krabbelten über seine eigene schweißfeuchte Haut das Rückgrat hinauf:  beinahe gewichtslos, fedrig und klebrig wie Spinnenseide.
Ihm war übel und schwindlig. Er wollte schreien, brachte aber lediglich einen schwachen Laut hervor, weil er keine Luft bekam. Das Herz hämmerte in seinem Hals. Er hatte eine krankhafte Angst vor Spinnen!
Das Biest stahl sich weiter, Constanzes Oberarm entlang und quälend langsam über die nackte Schulter. Auf der vom Schlaf geröteten Wange blieb es sitzen, die acht Beine wie Finger über Constanzes Gesicht gefächert – nur die geöffneten Lippen blieben unberührt.
Gleichmäßig, warm und feucht, atmete Constanze ein und aus. Die rabenschwarzen Härchen auf dem Körper der Spinne richteten sich auf, als bekäme sie eine Gänsehaut, das konnte Norbert deutlich erkennen. Wie ein Echo stellte sich der feine Flaum in seinem Genick auf.
Der fette Spinnenleib schob sich einige Millimeter näher an die Mundhöhle heran.
Norbert ächzte. Er riss die Augen weit auf, nur um sie dann so fest zuzukneifen, wie er konnte. „Con...“ presste er hervor. „Con...“
Sie schlief einfach weiter, er hörte sie einatmen ... ausatmen ... einatmen ... und als er endlich wagte, die Lider zu heben, sah er die Spinne nicht mehr. Da waren nur noch dunkle Barteln, die zwischen Constanzes Lippen hingen. Dann verschwanden auch diese.

Norbert würgte laut, worauf Constanze undeutlich etwas vor sich hinmurmelte, ohne zu erwachen.
Den Rest der Nacht konnte er keinen Schlaf finden. Mit verkrampften Muskeln lag er da und lauschte dem Rauschen in seinen Ohren, während er Constanzes Gesicht nicht aus den Augen ließ.
Doch nichts geschah.
Die Spinne blieb verschwunden.

Norbert erzählte Constanze nicht eine Silbe. Zum einen fehlten ihm die Worte, um das Grauen auszudrücken, zum anderen ließ sich nichts mehr an dem Vorfall ändern und er wollte die ganze widerliche Sache einfach nur schnell vergessen. Vielleicht wäre ihm das auch gelungen, wenn ... ja, wenn Constanze sich nicht verändert hätte.

Zuerst fiel Norbert auf, dass die Härchen auf ihren Armen und Beinen dunkler wurden. Es waren auch viel mehr als früher.
„Findest du es abstoßend?“, wollte Constanze wissen, als er sie danach fragte. Durchdringend schaute sie ihn an. Abwartend. Lauernd. Ihre Augen wirkten wie geschmolzenes Blei.
„Nein, nein!“, erwiderte er hastig und wandte sich ab.
Danach wollte sie nicht mehr im Garten sitzen und verbrachte die sonnigen Stunden im Haus. Wenn Norbert hereinkam, stand sie in irgendeiner dämmrigen Ecke, meist hinter einer Tür, und rührte sich nicht vom Fleck.
Dann begannen ihre Nachtwanderungen.
Egal, wann Norbert erwachte - Constanzes Seite des Bettes war leer. Er wusste, sie streifte in der Dunkelheit umher, vorzugsweise in der feuchten Waschküche, er wusste es deshalb so genau, weil er ihr eines Nachts gefolgt war und das Licht angeknipst hatte.
„Was machst du hier?“, fragte er.
Doch sie antwortete nicht, ging einfach an ihm vorbei und ließ ihn stehen.
Ihm fiel auf, wie dicht die Spinnenweben hier hingen. In der hintersten Ecke sah er fünf, sechs Kokons. Als er näher ging, erkannte er, dass es eingewebte tote Libellen waren.

Einmal beobachtete er Constanze durch den Spalt der Badezimmertür. Dieser Anblick würde ihn noch lange verfolgen: Die große tintenschwarze Trichterspinne in der Wanne, Constanzes Faust, die sich um das Vieh schloss. Ihr Mund, das knappe Lächeln, bevor sie die Beute verspeiste.
Seitdem fand man kaum noch Spinnen in den Zimmern, der Garage oder im Keller. Nur die richtig großen, fetten Dinger - die Weibchen wie er wusste - die verschwanden nicht. Als hätte ich das Haus voll Schwarzer Witwen, grübelte Norbert und musste wieder an Constanze denken.

Er hatte keine Ahnung, was in sie gefahren war, wusste nur, dass er es nicht länger aushielt. Er hatte es versucht, wirklich versucht, aber seit jener Nacht war nichts mehr wie vorher. Constanze war eine andere geworden und sie jagte ihm Todesangst ein. Er hasste, wie sie ihn anstarrte, wenn sie glaubte, dass er es nicht bemerkte.
Ihr Blick war irgendwie ... hungrig.

Zu lesen in der Ausgabe des „Schreib-Lust Print – Ausgabe 8“, www.schreib-lust.de