- Begegnung im Park
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Ich bin Schriftstellerin, und in einigen Kreisen hat mein Name durchaus einen gewissen Bekanntheitsgrad. Hin und wieder schreibe ich auch Geschichten für Zeitschriften.
Obwohl ich nicht an Geister glaube, gehört das Übernatürliche zu meinen Lieblingsthemen.
Vor kurzem startete ein Magazin eine Gespenster-Serie, in der eine von mir verfasste Geschichte veröffentlicht wurde. Diese Erzählung stürzte mich in eine Abfolge unerklärlicher Begebenheiten.
Seitdem denke ich darüber nach, ob übernatürliche Ereignisse tatsächlich passieren können. Jedenfalls habe ich keine andere Erklärung für das, was geschehen ist.
Ich möchte meine Gespenstergeschichte für die Zeitschrift kurz erzählen, denn sie ist wichtig für das, was später passierte.
Ich erinnere mich sehr genau an den Nachmittag, als ich sie verfasste. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas Ungewöhnliches geschehen würde.
Es war sehr heiß, doch im schattigen Garten konnte man es gut aushalten. Ich saß auf einem Gartenstuhl, die Füße hochgelegt und genoss
Ein Glas Weißwein.
Im Geiste formulierte ich Sätze, denn mir spukte seit Tagen eine Idee im Kopf herum, die allmählich Gestalt annahm.
Wenn ich nicht gerade am Computer saß, hatte ich ständig einen Block bei mir, um Notizen und Einfälle festzuhalten.
Vielleicht lag es an dem Wein und der Hitze, jedenfalls wurden mir plötzlich die Arme und Beine schwer. Ich fühlte mich benommen, obwohl meine Hand einen Bleistift hielt und emsig über das Papier huschte. Ohne mein Dazutun flossen die Worte einfach so hervor.
Die Geschichte handelte von einer Portraitmalerin. Julia.Geh in den Park, dachte Julia am Morgen beim Aufwachen. Sofort!
Und sie war in den Park gegangen.
Es war der 5. August, ein Sommertag, wie er schöner nicht sein konnte. Die Luft flirrte vor Hitze, doch die riesigen, alten Bäume spendeten wohltuenden Schatten.
Auf den Wiesen saßen oder lagen Menschen. Kinder lärmten und tollten umher und Pärchen schmusten auf ihren Decken. Ab und zu hörte man einen Fetzen Musik aus den mitgebrachten Rekordern, oder ein Hundebellen.
Julia schlenderte gemächlich durch den Park.
Als Portraitmalerin war sie immer auf der Suche nach interessanten Gesichtern. Sie fing das Antlitz eines alten Mannes ein, der schlafend auf einer Bank saß.
Später bat sie eine Mutter um Erlaubnis ihr lachendes Kleinkind zeichnen zu dürfen. Es sah aus wie ein Kinderengel von Botticelli und sie konnte nicht widerstehen.
Während sie durch den Park spazierte, wurde ihr eines klar: keines der Gesichter war das, nach dem sie suchte.
Schließlich hatte sie von dem Trubel und lenkte ihre Schritte zu einem abgelegenen, gepflasterten Pfad, der verlassen vor ihr lag.
„Komm!“, wisperte es. „Hierher, zu mir!“
Unwiderstehlich! „Komm!“
Julia ging zu dem ansteigenden Weg der im Halbdunkel lag. Nur wenige Lichtflecken durchbrachen die dichten, kalten Schatten. Ein dunkler Pfad im Sonnenlicht. Und er wirkte furchteinflößend.
„Komm!“
Plötzlich herrschte absolute Stille. Ein unnatürliches Schweigen. Auf dem Schattenpfad war es viel kühler als auf der Wiese unter den Bäumen. Sie fröstelte und konnte nicht fassen, dass sogar ein leichter Dunst über dem Weg lag.
Dann hörte sie etwas.
Das Geräusch von Rädern auf Asphalt.
Inline-Skates, erkannte sie.
Sie konnte niemanden sehen, nur das Rattern der Räder war zu hören. Julia blickte den Hang hinauf. Nichts.
Es roch intensiv nach Rauch, obwohl sie kein Feuer und keinen Grill entdecken konnte.
Unheimlich. Am liebsten wäre sie umgekehrt, zurück zu den lärmenden Menschen.
In diesem Augenblick fuhr ein Skateboardfahrer den abschüssigen Weg hinunterfuhr. Es wirkte unwirklich, wie er sich aus den dunstigen Schatten heraus auf sie zu bewegte. Ein beklemmendes Gefühl überkam Julia. Sie spürte, wie eine leichte Gänsehaut ihre Arme überzog.
Die flimmernde, heiße Sommerluft spielte ihr sicher einen Streich. Es musste so sein, denn Julia hatte den Eindruck, dass sie durch den Skateboardfahrer hindurchsehen könnte. Zudem schien er im Zeitlupentempo zu fahren.
Der Moment dauerte nur kurz, denn sie kniff die Augen fest zusammen, und als sie sie wieder öffnete, war alles ganz normal.
Was bin ich doch für ein Angsthase, dachte Julia mit wild klopfendem Herzen. Hier ist nichts, wovor ich mich fürchten müsste!
Aus der Dunkelheit vor ihr materialisierte sich langsam ein blasser, zerbrechlich wirkender Junge.
Er war vielleicht zehn Jahre alt, fuhr auf einem Skateboard und veranstaltete dabei allerlei Sprünge und Kunststücke. Mit vor Konzentration zusammengepressten Lippen und vor Eifer leuchtenden Augen setzte er zu einer Slalomfahrt an. Er war so vertieft in seinen Sport, dass er sie gar nicht zu bemerken schien.
Julia war erleichtert. Es war bloß ein kleiner Junge! Jetzt konnte sie über ihre übertriebene Furcht schmunzeln.
Das Gesicht des Kindes hatte einen besonderen Reiz, der sie magisch anzog. Sie hockte sich auf den Rasen, zog ihren Block aus der Tasche und warf mit wenigen, gezielten Kohlestrichen einige Skizzen auf das Papier. Es entstanden einfache, aber ausdrucksstarke Zeichnungen.
Als der Junge endlich aufmerksam wurde, rollte er neugierig auf seinem Board heran.
„Na?“, fragte Julia lächelnd. „Keine Lust mehr zu fahren?“
„Klar habe ich noch Bock!“, entgegnete er. „Das hier ist mein absoluter Lieblingsplatz. Der Weg ist beinahe so gut wie eine Half-Pipe. Ich komme fast jeden Tag her. Wollen Sie mal einen Olli sehen?“
„Kommt darauf an, was ein Olli ist.“
„Ein Sprung.“ Ein Lachen, dann rollte er los, sprang mit dem Board, drehte es im Flug mit den Füßen und kam auf den Rädern wieder zum Stehen.
„Cool, oder?“
Noch ehe Julia antworten konnte, führte er den Sprung mit Radau ein zweites Mal aus.
„Das scheint ziemlich schwierig zu sein“, sagte sie bewundernd.
„Nee, ist es aber nicht“, er blieb ganz lässig, fuhr wieder auf sie zu.
Der Junge bremste so geschickt, dass der vordere Teil des Skateboards hochstand, und sah sie beifallheischend an.
Julia klatschte in die Hände. „Du bist wirklich sehr gut.“
„Jap“, erwiderte er kurz und setzte sich neben sie auf die Wiese. Ein kalter Luftzug streifte Julia. Die feinen Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.
Der Junge war kein bisschen verschwitzt, seine bleiche Haut wies nicht den Hauch einer Rötung auf. Und seine Augen ... Könnte sie diese Tiefe jemals auf Papier bannen?
„Darf ich mir Ihre Bilder ansehen?“
„Jap“, ahmte sie ihn nach. „Du darfst.“ Sie legte ihm die Zeichnungen vor.
Julia hielt den Atem an, als der Junge die Bilder interessiert betrachtete. Aus irgendeinem Grund war es ihr wichtig, dass er ihre Arbeiten für gelungen hielt. Wie würde sein Urteil ausfallen?
Sie erschauderte. Die Temperatur um sie herum erschien ihr außergewöhnlich kühl.
„Findest du es nicht ziemlich kalt?“ fragte sie den Jungen.
„Es sind wirklich gute Bilder, sie gefallen mir“, überging er ihre Frage.
Julia atmete auf. „Danke.“
Der Junge nickte freundlich. „Bitte. Aber sind Sie so gut, dass Sie mich aus dem Gedächtnis heraus zeichnen könnten? Nur mein Gesicht?“ Er starrte sie an, gespannt auf ihre Antwort.
Er sieht direkt in mich hinein, ging es Julia durch den Sinn.
Sie knabberte nachdenklich an einem Stift herum. Dabei wurde ihr vage bewusst, dass es wieder nach Qualm roch.
„Ich bin mir nicht sicher“, gestand sie zögernd. „So etwas habe ich noch nicht versucht. Andererseits habe ich schon einige Zeichnungen von dir gefertigt. Doch, ich glaube, ich könnte aus der Erinnerung heraus ein ziemlich gutes Portrait von dir zeichnen.“
„Gut“, sagte der Junge daraufhin zufrieden. „Dann sehen Sie mich ganz genau an. Vielleicht werden Sie es eines Tages tun müssen.“
Obwohl Julia verwundert war, studierte sie sein Gesicht sehr intensiv und versuchte sich alles einzuprägen. Die großen, braunen Augen, die dunklen, gebogenen Brauen, die zarten Sommersprossen an der Nasenwurzel. Seine Haut war blass, fast durchscheinend, und um seine Lippen lag ein lausbübisches Lächeln. Das Gesicht war feingeschnitten, umrahmt von dunkelblonden Locken.
Irgendetwas an ihm flößte ihr ein wenig Furcht ein. Sie wusste nicht, was es war, aber sie glaubte, dass seine Augen Schuld daran trugen, denn sie waren erschreckend dunkel und grundlos. Manchmal schienen sie durch Julia, durch die Bäume, durch alles hindurchzusehen. Als wäre das Kind blind oder könnte etwas sehen, dass die Malerin nicht sah.
Trotzdem fixierte sie ihn weiter.
Der Junge hockte einfach nur schweigend da und ließ sich betrachten. Er bewegte sich nicht. Kein Blinzeln, kein Atmen, keine Bewegung. Völlig reglos. Es wirkte, als wäre das Kind erstarrt.
Endlich erklärte Julia: „Okay. Fertig. Ich bin mir sicher, dass ich dich aus dem Gedächtnis portraitieren könnte.“
Er nickte glücklich.
„Cool“, sagte er und warf ihr einen letzten, undefinierbaren Blick zu. „Danke.“ Der Junge stieg auf das Skateboard und fuhr los. Nach wenigen Metern schienen seinen Konturen zu verblassen.
Julia zitterte. Irgendetwas Seltsames ging hier vor sich.
„Warte!“, rief sie. Sie konnte ihn nicht einfach so wegfahren lassen.
„Ja?“ er blieb stehen, rollte ein Stück zu ihr zurück.
Vielleicht bin ich ja vollkommen verrückt! Aber was, wenn das hier ein Spuk ist? fragte sie sich im Stillen. Eine Erscheinung?
„Wie heißt du?“ fragte sie mit bebender Stimme.
„Oliver.“
Schließlich fragte sie etwas völlig irrsinniges: „Bist du ... tot?“
„Bedeutet tot ohne Leben?“
„Ja.“
„Ich bin nicht tot.“
Dann fuhr der Junge einfach davon, zurück in die dunstigen Schatten, aus denen er gekommen war. Einmal noch drehte er sich um und hob die Hand zum Abschied. Dann war er verschwunden.
Julia überkam ein leichtes Grausen. Die Geste hatte etwas beunruhigend Endgültiges gehabt. Dazu noch die Art, wie er sich langsam vor ihren Augen aufzulösen schien. Einfach furchterregend.
Obwohl sie danach noch ein paar Mal in den Park ging, traf sie den Jungen nicht mehr. Ab und zu hörte sie ein Skateboard und vermutete, dass es seines wäre. Aber jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war niemand da. Schließlich dachte sie immer seltener an ihn.Einige Wochen später suchte ein Mann mittleren Alters Julia in ihrem Atelier auf.
„Guten Tag“, grüßte er schüchtern.
„Hallo. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Der Mann druckste eine Weile herum. Ein paar Mal begann er einen Satz, beendete ihn aber nicht: „Also, ich wollte Sie ...“
„Ich weiß nicht, wie ...“
Schließlich gab er sich einen Ruck: „Ich möchte Ihnen etwas erzählen, wenn ich darf. Haben Sie ein wenig Zeit?“
„Ja, ein paar Minuten kann ich erübrigen. Worum geht es?“
„Mein Haus ist abgebrannt. Die Feuerwehr konnte nichts mehr tun. Es ist nur ein Haufen Asche übrig geblieben.“
„Wie furchtbar!“, sagte sie. „Das tut mir leid.“ Gleichzeitig überlegte sie, warum er ihr das anvertraute. Um zu betteln? Oder war das eine neue Drückermasche um ein Zeitungsabonnement zu verkaufen?
„Danke“, flüsterte er. „Wissen Sie, ein Haus, Möbel, den ganzen Hausstand, das alles kann man nach und nach ersetzen. Nur die wirklich wichtigen Sachen, die leider nicht. Vor allem keine Menschen.“ Er räusperte sich, bevor er weitersprach. „Auch keine Briefe, Erinnerungsstücke oder die Fotos meines Sohnes. Das ist das Schlimmste. Er ist bei dem Brand ums Leben gekommen.“ Der Mann wischte sich verstohlen über die Augen. „Rauchvergiftung.“
„O Gott.“ Julia spürte, wie ihr bei dieser entsetzlichen Vorstellung die Tränen in die Augen stiegen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, aber der Mann sprach schon weiter.
„Wenn ich Ihnen meinen Sohn beschreiben würde, könnten Sie dann ein Portrait von ihm anfertigen? Ich dachte, wie ein Polizeizeichner, verstehen Sie?“
Sie nickte.
Der Mann lächelte mit feuchten Augen. „Ich kann Ihnen jedes winzige Detail seines lieben Gesichtes beschreiben. Jeden Zug.“
„Das werden Sie auch müssen, denn ich will es versuchen“, entgegnete Julia.
„Er war ein übermütiges und fröhliches Kind. Er hat viel gelacht.“
Der Vater begann seinen Sohn lebhaft und mit liebevoller Stimme zu schildern. Zwischendurch weinte er so heftig, dass seine Schultern vor Schluchzen bebten.
Dann unterbrach Julia ihre Arbeit und wartete hilflos schweigend, bis er sich wieder gefasst hatte.
Manchmal lächelte er wehmütig, was sie noch mehr anrührte als sein lautes Weinen, und einmal sagte er:
„Seine Küsse fehlen mir. Wenn ich ihm eine Gute Nacht wünschte, legte er mir auf jede Wange eine Hand und rief: „Knallkuss!“, und gab mir einen schmatzenden Kuss. Seine Hände waren klein ...
Manchmal träume ich, dass er nachts neben meinem Bett steht. Ich sehe ihn so real, als könnte ich ihn berühren! Und dann ist er fort.“
Julia gab sich alle Mühe - doch das Portrait wollte nicht gelingen.
Alle Versuche blieben erfolglos.
Der Vater versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Julia warf frustriert den Stift von sich. Was konnte sie noch tun? Ihre Hand zuckte vor, griff nach einem Stift. Julia folgte einer jähren Eingebung und portraitierte den Jungen aus dem Park.
Sie hatte ihn so deutlich vor Augen, als säße er in ihren Gedanken Modell, als stünde er vor ihr, mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht.
Sofort trat ein strahlendes Lächeln auf das Gesicht des Mannes. Er erkannte in dem Portrait seinen Sohn. „Das ist er!“, rief er aufgeregt. „Das ist Oliver!“ Er weinte, konnte nicht glauben, dass er ein Bildnis seines toten Kindes in den Händen hielt.
Julia wollte wissen, wann Oliver gestorben war.
„Es passierte in den frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang“,
antwortete der Vater. „Am 5. August.“
Julia glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Am Nachmittag des 05. August hatte sie den Jungen im Park portraitiert.Soweit also meine Geschichte für die Zeitung.
Wenige Tage nach der Veröffentlichung erhielt ich den verbitterten Brief einer mir unbekannten Portraitmalerin.
Sie schrieb:Sehr geehrte Frau Ludwigs,
ich habe in der Zeitschrift „Kurz(e) Geschichten der Zeit“ Ihren Beitrag „Begegnung im Park“ gelesen.
Hierzu möchte ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Erzählung erstaunlich genau einer wahren Begebenheit entspricht, die ich selbst erlebt und niedergeschrieben habe. Die Malerin, von der Sie erzählen, bin ich!
Ich begegnete dem Jungen im Stadtpark, direkt am Weg zum Nordtor. Wir unterhielten uns fast wortwörtlich so, wie sie es schilderten.
Nicht lange danach trat ein Herr an mich heran. Er bat mich, das Portrait seines an Rauchvergiftung verstorbenen Sohnes anzufertigen.
Und zwar nur auf seine Beschreibung hin. Es handelte sich um den Vater des Kindes, das ich im Park getroffen und schließlich, aus einer Intuition heraus, portraitiert hatte.
Das unheimliche Erlebnis hatte mich gleichermaßen verblüfft wie erschreckt. Nachdem sich der Schock hierüber gelegt hatte, verfasste ich einen detaillierten Bericht, für die Fachzeitschrift „Paranormale Phänomene“.
Nun muss ich davon ausgehen, dass Ihnen dieser Bericht in die Hände gefallen ist und Sie mir mit der Veröffentlichung zuvorgekommen sind.
Sie haben mein Erlebnis zum einem Produkt Ihrer Fantasie gemacht, und ohne mein Einverständnis veröffentlicht.
Wie Sie vor Erscheinen meines Berichtes Einblick in das Manuskript nehmen konnten, ist mir leider nicht klar. Jedenfalls ist der Verdacht des geistigen Diebstahls nicht aus der Luft gegriffen, wie das Datum beweist, welches Sie in „Ihrer“ Geschichte einsetzten.
Den 5. August.
Ein Fehler Ihrerseits –dieses Datum habe ich nur in meinem Bericht erwähnt, denn das war der Tag, an dem ich das Kind traf.
Sein Todestag.
Ein Versuch Kontakt mit dem Vater aufzunehmen, damit dieser meine Angaben bestätigen kann, scheiterte. Die Familie ist unbekannt verzogen.
Sämtliche Zeichnung und das Portrait habe ich dem Vater ausgehändigt. Doch existieren ohnehin keine Fotos mehr von dem Jungen, die man zu einem Vergleich hätte heranziehen können.
In den Zeitungsarchiven fand ich über die Brandkatastrophe nur kurze, allgemein gehaltene Berichte ohne genaue Datumsangabe. Dies geschah mit Rücksichtnahme auf die Familie, die keinen Medienrummel wünschte.
Aufgrund der schwierigen Beweislage riet mir mein Anwalt von rechtlichen Schritten gegen Sie ab.
Des ungeachtet wollte ich meinem Ärger Ausdruck verschaffen.Hochachtungsvoll
Eleanor GraffMeine Hände zitterten, als ich den Brief las.
Ich hätte Eleanor Graff der Lüge und der Unverschämtheit bezichtigt, hätte sie nicht dieses Datum erwähnt.
Meine Erzählung hatte ursprünglich gar keine Datumsangabe. Aber als ich die Korrekturfahnen durchsah wurde mir plötzlich klar, wie wichtig ein Datum war. Irgendeines!
Spontan entschied ich mich für den Tag, an dem ich die Erzählung geschrieben hatte. Die Geschichte über einen toten Jungen, dessen Seele seinem trauernden Vater einen Beweis seiner Weiterexistenz lieferte. Grüße aus dem Jenseits.
Ich setzte damals, ohne darüber nachzudenken, das Datum an den Rand der Fahne. Den 5. August.Nachdem ich den Brief zuende gelesen hatte, drängte es mich in den Stadtpark zu fahren. Ich wollte die Stelle mit eigenen Augen sehen, an der die von mir fiktiv geschilderte Begegnung angeblich wirklich stattgefunden hatte. Ich setzte mich ins Auto, und fuhr direkt zum Eingang Nordtor. Zehn Minuten später erreichte ich den Weg.
Vor Aufregung ging mein Atem schneller, und mein Herz hämmerte gegen meine Brust.
Was, in Gottes Namen, erwartete ich eigentlich vorzufinden?
Am Fuße des abfallenden Weges standen ein paar Kinder zusammen. Ihre Stimmen und ihr Lachen klangen bis zum mir herauf.
Die Luft roch plötzlich nach Rauch, doch ich konnte keinen Qualm sehen.
Und dann hörte ich hinter mir die Räder eines Skateboards.
„He, aus der Bahn!“, rief eine fröhliche Stimme.
Ich trat einen Schritt zur Seite und drehte mich um
Der zerbrechlich wirkende Junge war etwa zehn Jahre alt. Er hatte dunkelblonde Locken und sein feingeschnittenes Gesicht war sehr blass. Mit seinen großen, tiefdunklen Augen sah er mich direkt an.
Er grinste leicht, als er an mir vorbeifuhr, so gemächlich, als liefe die Zeit plötzlich langsamer.
Ein Luftzug streifte mich, dann war der Augenblick vorbei. Er sauste direkt auf die lärmende Kinderschar zu, fuhr geschickt mitten in das Getümmel und verschwand zwischen ihnen.