Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

RacheMein ist die Rache

Ich träumte, Peter Kühl wäre tot: 

Peter Kühl aus der Ackerstraße, der sein Praktikum im Kindergarten um die Ecke machte, bevor er zur Bundeswehr eingezogen wurde;
Peter, den die Kinder, trotz seiner gut zwei Meter Körpergröße, Pieti nannten. Der ihnen auf der Straße Bälle zuschoss oder hinter ihnen herrannte und mit Donnerstimme rief: „Ich rieche zartes Kinderfleisch!“, sodass sie kreischend davon stoben.
Wenn er eines erwischte, hob er es hoch und dröhnte: „Du bist genau nach meinem Geschmack!“
Pieti liebte Kinder.
Er konnte auch wunderbar zeichnen! Bevor er sich auf den Weg zur Kaserne machte, schenkte er einigen Kindergartenkindern Bilder von Schutzengeln. Denn er beauftragt seine Engel, über dir zu wachen auf allen deinen Wegen. Psalm 91,2, stand in Pietis eckiger Handschrift darunter.
Auch mein Sohn bekam so eins. „Was für eine tolle Zeichnung!“, staunte ich, als er sie mit nach Hause brachte.
„Von Pieti“, murmelte Tim. „Zum Abschied.“
Er sah so verzweifelt aus, dass ich ihm übers Haar strich, während er sich mühte zu wiederholen, was Pieti vor seiner Abreise gesagt hatte:
„Die hängt ihr übers Bett. Das sind Wächter, sie passen auf. Ihr wisst ja, was ihr mir versprochen habt! Die Engel hören und sehen alles. Sie erzählen mir, wenn ihr euer Versprechen brecht. Also seid brav.“
Sie waren brav.
Kreuzbrav.
Auch Tim pinnte sein Bild an die Wand. Die grünen Augen des Engels schienen zu glimmen, wenn ich Tim abends zudeckte oder nachts in sein Zimmer lief, weil er immer öfter schreiend erwachte und sich in seinem Kleiderschrank versteckte.
Mehr als einmal musste ich seine Bettwäsche wechseln, die entweder von Schweiß durchtränkt war, oder von Erbrochenem.
Bald sah er aus wie tot, wie ein kleiner Geist, der in seinem Kinderzimmer spukte.
„Ich dachte“, sagte ich eines Nachts, als ich ihn nach einem Brechanfall in meinen Armen wiegte, „ich dachte, der Engel ist dein Wächter.“
„Ja“, flüsterte das Geisterkind. „Das ist er.“
„Passt er denn nicht auf dich auf?“
„Doch. Immerzu.“ Tim fixierte den Engel.
Ich musterte die engelhafte Gestalt ebenfalls. Wie aus dem Bilderbuch: Heiligenschein, strahlendweißes Gewand, blonde Locken und dann fiel es mir auf. Die Augen! Sie folgten einem, ganz egal, wohin man sich wandte.
Unheimlich.
Sogar für einen Erwachsenen.
Und plötzlich verabscheute ich das Bild, konnte mich aber nicht dazu durchringen es abzunehmen. Tim litt doch schon mehr als genug! Erst war sein Vater abgehauen, jetzt Pieti. Kein Wunder, dass ihm das alles auf den Magen schlug, da sollte er wenigstens seinen Schutzengel behalten.
Dachte ich.
Und dann, dann kam die Nacht, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde.

Ich saß vor dem Fernseher, als Tims Schreie durchs Haus gellten und rannte in sein Zimmer.
Er hatte sich ganz weit hinten im Schrank verkrochen. Zusammengerollt lag er da, klein und hart, wie ein Stein.
Mein Herz krampfte sich zusammen. Vorsichtig hockte ich mich neben ihn und schloss die Tür.
Eng war es hier drinnen. Eng und stickig.
Ich lauschte Tims abgehackten Atemzügen.
„Scht“, flüsterte ich, und zog seinen angespannten Körper zu mir. Hier, zwischen Kleidern und Schuhen, den Augen und Ohren des Wächters entronnen, hier, in der tröstenden Dunkelheit, wo ich den verstörenden Worten meines Geisterkindes lauschte und endlich begriff, hier wünschte ich mir, Peter Kühl wäre tot.

Ich habe keine Ahnung, wie viele Geisterkinder es noch in unserer Straße gab, die keine Ruhe fanden, angesichts der Schutzengel über ihren Betten.
Und wegen Pieti, der zartes Kinderfleisch gern hatte. So gern, dass er seine Finger einfach nicht davon lassen konnte.
Ein Monstrum, das Papierwächter zurückließ, damit sie aufpassten, dass kein Kind sein Schweigegelübde brach, weil er selbst es aus der Ferne nicht tun konnte.
Eingesperrt haben sie ihn nicht.
„Noch nicht!“, wie eine Kripobeamtin versicherte. „Herr Kühl ist weder vorbestraft, noch in dieser Richtung auffällig geworden. Er ging bisher einer geregelten Arbeit nach. Man muss das Ende des Prozesses abwarten.“
Er wurde auf freien Fuß gesetzt, durfte bis zur Urteilsverkündung sogar in seine Wohnung zurück. Direkt an der Ecke zum Kindergarten.
Verstehen konnte ich das nicht.
Alles in mir schrie nach Genugtuung. Mein ist die Rache! Steht doch schon in der Bibel. Ich glaubte an den Gott des alten Testaments, den der Vergeltung. Hart – aber gerecht: Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde … all das!
Ich war unversöhnlich.
Doch ich konnte nichts tun.
Nichts!
Nur träumen.

Ich träumte, dass Peter Kühl mit eingezogenem Kopf in seinem Bett saß, an dessen Fußende ein Engel stand.
Ein Engel mit schwarzen Flügeln.
Er hielt den Kopf gesenkt, das wallende Haar ein scharlachrotes Wetterleuchten. Sein Gewand hatte die Farbe von Gewitterwolken und die nackten Füße, die darunter hervorschauten, berührten kaum den Boden.
Der Engel hob bedächtig den Kopf. Das flammende Haar glitt zur Seite und er zeigte Peter sein Gesicht. Ein Gesicht, wie aus Eis modelliert.
Peter Kühl entfuhr ein Schrei, ehe er eine Faust vor den Mund pressen konnte um ihn zu ersticken.
Er starrte den Engel an.
Der Engel starrte zurück.
Die Luft summte, bis zum Bersten mit Energie gesättigt. Peters Haar stellte sich auf, als stünde es unter Strom.
Ich konnte förmlich fühlen, dass sein Verstand Stück für Stück wegbrach, als er den Blick des Engels erwiderte, sich nicht abwenden konnte von diesen irisierenden Augen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und weinte hemmungslos, aus seinem Mund quoll eine Kakophonie Schluchzer und gutturaler Laute.
Ich habe noch nie einen Menschen so erbärmlich flennen sehen.
Dreck, nichts als Dreck gegen die Tränen, die mein Geisterkind im Kleiderschrank vergossen hatte - über die Buntstifte in seinem Po und als er mir zeigte, wo das fette, rosa Ding in seinen Körper gedrungen war.
Trotz seiner Schreie!
Der Engel bewegte leicht die Schwingen. Die rabenschwarzen Federn zerschnitten wispernd die Luft.
Peter schaute auf. Sein Gesicht war nass von Tränen. Rotz sickerte aus seiner Nase.
„Bitte …“, wimmerte er. „Bitte …“
Der Engel streckte eine Hand aus, er hielt Pieti etwas entgegen, das dieser wie in Trance ergriff.
Erst dachte ich, es wäre ein Taschentuch.
Aber das war ein Irrtum.

Der Gegenstand war elastisch, beinahe wie ein Fetzen Stoff, hatte die Farbe von Milchglas und knisterte bei der kleinsten Berührung.
Peter begann wieder zu weinen.
Der Engel breitete die tiefschwarzen Flügel aus, seine unheimlichen Augen ließen nicht von Peter ab.
Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben …
Ich musste an einen Delinquenten denken, als Peter die Lider senkte, sich den Müllbeutel über den Kopf streifte, die Zugbänder zusammenzog und verknotete.
Die hauchdünne Plastikfolie legte sich wie ein Nebelschleier über sein Gesicht und beschlug unter seinem gefangenen Atem. Er hechelte, kleine Tropfen Feuchtigkeit klebten an dem Plastik.
Peter würgte, würgte, wie die Geisterkinder wegen dem fetten rosa Ding in ihrem Mund gewürgt hatten.
Die Tüte schmiegte sich vor Peters aufgerissenen Rachen und über seine weit geblähten Nasenlöcher.
Unter der Folie konnte man verschwommen die dunklen Flecken seiner Augen und den klaffenden Mund erkennen.
Eine Grimasse, wie im Schrei erstarrt.
Er kippte nach hinten auf das Kissen. Krämpfe schüttelten ihn und dann, dann setzte die Atmung vollständig aus.
Er hörte auf zu zappeln. Es sah aus,  als hätte jemand helles Wachs über sein Gesicht gegossen.
Ich träumte, dass der erbarmungslose Racheengel heftiger mit den Flügeln schlug, sich von Peters Leichnam abwandte und quälend langsam umdrehte.
Zu mir.
Und meiner Furcht.
Ich hörte das Raunen der Rabenschwingen, sah das Leuchten seiner Haare und spürte das statische Knistern in der Luft auf meiner Haut.
Plötzlich bohrten sich die Racheengelaugen in meine.
Das Entsetzen brachte meinen Herzschlag zum Aussetzen, fuhr mir direkt in die Knochen und doch war es seine Stimme, die mich mit einem Schrei in die Höhe schnellen ließ - eine Stimme, als wenn tausend Chöre in einem hallenden Raum sangen, der das Echo wieder und wieder zurückwarf: „Ob gut, ob böse … eure Taten sind eure Engel, die euch begleiten.“

Einige Tage später saß ich im Supermarkt an der Kasse und gab gerade der alten Frau Steiner das Wechselgeld heraus.
„Haben Sie schon gehört?“, fragte sie mit kaum verhohlener Sensationslust. „Der Kühl ist tot.“
„Ach ...“
Die Greisin nickte. „Hat sich einen Müllbeutel über den Kopf gezogen. Ist erstickt, der arme Teufel.“
Ich erwiderte nichts, dachte nur an jene Nacht in der ich träumte, Peter Kühl wäre tot.
Peter, den die Kinder Pieti nannten.

 

Zu lesen in der aktuellen Anthologie „Verfolgt“ beim Lerato-Verlag. www.lerato-verlag.de