- Goldene Zähne
Manchmal, wenn ich mich im Spiegel betrachte, denke ich: Das bin ich nicht! Es kann doch nicht sein, dass ich schon eine alte Frau bin! Und doch sehe ich den grauen Haaransatz, wenn die vier Wochen für den nächsten Friseurtermin verstrichen sind und ich zum Färben muss. Hin und wieder schließe ich die Augen und lasse die Finger über mein Gesicht gleiten, ertaste jede Falte und stelle mir vor, wie ich damals aussah, als ich fünfundzwanzig, dreißig Jahre alt war und meine eigenen Zähne im Mund hatte. Dann zeige ich meinem Spiegelbild die tadellosen Ditten und erinnere mich unweigerlich an Richard, meinen Mann.
An einem Samstagmorgen hatte er unter der Dusche gestanden und lauthals gesungen, als ich einen dumpfen Aufprall hörte.
„Richard?“, rief ich. „Ist alles in Ordnung?“
Keine Antwort.
Beunruhigt ging ich zum Bad. „Richard?“
Es blieb still. Ich klopfte an die Tür und trat ein. Es roch nach Duschgel, Rasierschaum und Deo. Spiegel und Fenster waren beschlagen und auf dem Boden lag Richard, nur eine Badetuch um die Hüften geschlungen.
Erst dachte ich, es sei wieder einer seiner blöden Scherze, doch dann sah ich, dass er sich die Stirn angeschlagen hatte und ein bisschen blutete. Ich kniete nieder und schüttelte ihn. „Richard!“, schrie ich immer wieder. „Bitte nicht. O Gott, tu mir das nicht an!“
Plötzlich stand unsere Tochter neben mir und keine zehn Minuten später kam der Krankenwagen.
„Hirnblutung!“, sagte der Chefarzt der Intensivstation später.
Richard lag die ganze Nacht im Koma.
Am nächsten Morgen war er tot.
Einfach so!
Ich konnte es nicht begreifen, hatte immer das Gefühl, dass er bloß zum Angeln gefahren war und jeden Moment zur Tür herein käme. Am Abend würden wir dann die fangfrischen Forellen verspeisen – nur in Butter gebraten, mit Zwiebelchen, Kartoffeln und grünem Salat.
Doch Richard kam nicht.
Plötzlich war ich allein. WEITER
Fünf Jahre ist er jetzt tot, doch für mich genau so präsent wie Cornelia, unsere Tochter, die mit ihrem Mann Gerd und dem siebenjährigen Tilo unten im Haus wohnt. Wenn ich daran denke, bin ich dankbar, dass ich meine Familie um mich habe, schmiere mir Antifaltencreme ins Gesicht und mache das Beste aus meinem alten Leben.
Jeden zweiten Samstag gehen Conni und Gerd kegeln. Dann passe ich auf Tilo auf und bringe ihn zu Bett.
„Mutti“, mahnt Conni mich jedes Mal. „Erzähl Tilo nicht wieder eine deiner Schauergeschichten, hörst du?“
„`türlich nicht!“, wehre ich mich entrüstet. Wenn Tilo dann im Bett liegt und ich ihn heuchlerisch frage aus welchem Kinderbuch ich vorlesen soll, sagt er erwartungsgemäß: „Nee, Oma. Erzähl mir lieber eine Geschichte!“
Ich seufze der Form halber und sage: „Ach, das ist doch langweilig!“
„Gar nicht! Komm schon, biiiitte!“
„Na gut“, gebe ich nach. „Was willst du hören?“
Meist antwortet meinen Enkel: „Etwas Unheimliches!“
Natürlich kann ich nicht widerstehen, erzähle von Geistern, Spuk und seltsamen Gestalten obwohl ich weiß, dass ich am nächsten Tag eine Strafpredigt von Conni zu hören bekomme.
Doch an diesem Abend schaut Tilo mich schuldbewusst an, springt aus dem Bett und kramt in seiner Kommode herum. Dann hält er eine unscheinbare weiße Acrylbox mit Deckel in den Händen, etwa so groß wie eine Zuckerdose. Vorsichtig streckt er sie mir entgegen, doch ich greife nicht danach.
Ich brauche die Dose nicht zu öffnen, weiß auch so, was darin ist.
Eine Teilprothese für den Oberkiefer. Auf der linken Seite ersetzt sie die Zähne zwölf und dreizehn, auf der rechten zweiundzwanzig und dreiundzwanzig. Die goldenen Kunstzähne rahmten einst die Schneidezähne ein. Damit nicht genug, sind auf den Goldzähnen altgermanische Runen eingraviert, die Glück und langes Leben verheißen. Einer von Richards Scherzen, denn es ist seine Gebissschale und seine heiß geliebte, alberne Teilprothese. Wie hatte er es genossen, wenn die Leute ihn anstarrten!
„Weshalb hast du das aus meinem Schlafzimmer geholt?“, frage ich meinen Enkel.
„Weil goldene Zähne drin sind. Wusstest du das?“, flüstert er. „Gehören sie einem Zauberer, sind es magische Zähne?“
Ein Zauberer genannt zu werden, hätte Richard gefallen! Ich muss lachen und ziehe das Kerlchen an mich. Er hat Connis Augen. Und Richards.
„Nein“, wiegele ich ab. „Sie gehören keinem Zauberer.“
Er windet sich aus meinen Armen, sein weiches Kindergesicht vor Enttäuschung verzogen und doch kann er sich nicht entschließen die Schatzdose mit den Zauberzähnen aus der Hand zu legen.
Ich erbarme mich und flüstere geheimnisvoll: „Sie gehören einem Geist.“
Seine schönen Augen funkeln erregt und erinnern mich einmal mehr an Richard. „Nee, Oma! Mama sagt, es gibt keine Gespenster!“
Ich schnaube belustigt: „Was weiß deine Mama schon!“ Ich nehme die Dose und hebe den Deckel ab. Schon liegen die Zähne in meiner hohlen Hand und ich drehe sie hin und her, sodass sie im Schein der Nachttischlampe matt glänzen und die Runen deutlich zu sehen sind.
Tilo bekommt vor Aufregung einen Schluckauf.
„Ich musste deinem Opa versprechen, dass ich ihn mit seinen goldenen Zähne begrabe, wenn er vor mir sterben sollte“, vertraue ich ihm mit Grabesstimme an und kann förmlich zusehen, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Körper bildet.
„Und“, hickst er aufgewühlt. „Warum hast du das nicht gemacht?“
„Weil alles ganz anders kam“, erwidere ich und seufze. „Weil ich immer so schusselig bin.“
Ich erinnere mich so genau an den Tag, als wäre es erst letzte Woche passiert. Nachdenklich betrachte ich das Runengebiss in meiner Hand und sehe Richards goldiges Grinsen vor mir.
„Wenn einer gestorben ist, den man sehr lieb hat, dann warten unsere Mitmenschen und die Welt, dass man in das normale Leben zurückkehrt. Doch das geht nicht so einfach! Denn nichts ist mehr so, wie es einmal war. Aber das kannst du noch nicht verstehen.“
Ein Hicksen, dann: „Klar, ich bin doch nicht blöd! Als Bernie gestorben ist, war es genau so.“
Ich denke an die hässliche, caramelfarbene Promenadenmischung von Hund und an seinen Geruch. Doch ich nicke.
„Großvater war ein paar Monate tot, da sagte eine Freundin zu mir: „Hör endlich auf, immer von deinem Mann zu reden!“ Aber ich konnte nicht aufhören traurig zu sein. Bis etwas geschah, das alles veränderte.“
„Was?“, will der Kleine wissen.
„Die Geräusche in der Nacht.“
Er rutscht tiefer unter die Decke, schmiegt sich an mich.
„Was für Geräusche?“, fragt er mit einem Beben in der Stimme.
„Als ich in jener Nacht aufwachte, hörte ich Schritte und ein Atmen in der Dunkelheit. Dann ein Klappern und Schieben. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf. „Wer ist da?“ fragte ich ganz leise.“
„Und?“, haucht Tilo kaum hörbar. „Was passierte dann?“
„Nichts.“
Tilos Anspannung lässt ein wenig nach und er umklammert seine Plüschgiraffe nicht mehr ganz so fest.
„Es war so still, dass ich einfach gucken musste“, fahre ich fort. „Und da sah ich ihn!“
Sofort rückt Tilo näher zu mir.
„Wen?“, bringt er quäkend hervor.
„Deinen Opa. Er stand an seinem Nachttisch. Er sah aus, als hätte ihn jemand aus einem Dia ausgeschnitten, so leuchtet er. „Irene!“, sagte er. „Das Eine will ich dir sagen: Es gibt ein Leben nach dem Tod. Und es ist wunderbar.“
Mit riesigen, grünen Richardaugen schaut Tilo mich an. „Ist das wirklich wahr?“
Ich lege die Zahnprothese auf den Nachttisch und nicke nachdrücklich.
„Ja. Und dann schrie er …“ Ich zieh eine Grimasse, fahre blitzartig vor, grabsche nach Tilo und heule so laut ich kann: „Gib mir meine Zähne!“
Tilo fährt zusammen, kreischt und kann nicht wieder aufhören. Er versteckt sich unter seiner Decke und schreit in den höchsten Tönen, bis ich zu ihm unter die warme Bettdecke krieche. Da ist er still und schaut mich an.
„Unheimlich genug, Tilo?“
Er fängt an zu kichern. Ich auch. Atemlos und mit röten Köpfen kommen wir unter der Zudecke hervor. Tilo hält seine Giraffe umklammert.
„In echt, Oma?“, fragt er.
„In echt!“, bekräftige ich. „Ich bekam so einen Schrecken, dass ich beinahe gestorben wäre! Oder in die Hose gepinkelt hätte.“
Wir lachen und können uns kaum beruhigen.
Dann will Tilo wissen: „Und wieso hast du ihm seine Zähne nicht gegeben, Oma?“,
Ich hole tief Luft. „Ich habe dem Bestattungsunternehmen die alte Zahnprothese gegeben. Weil ich so traurig und dusselig war, habe ich die Dosen verwechselt. Und deswegen wurde Opa mit den langweiligen Zähnen begraben.“
„Ist er jetzt sauer auf dich?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein. Er sagt, er weiß, dass ich ein Schussel bin und dort wo er jetzt ist, hat er alle seine Zähne und braucht die goldenen nicht! Er wollte mir nur einen kleinen Schrecken einjagen und einen seiner dummen Späße treiben!“
Der Junge seufzt erleichtert und kneift mir das rechte Auge zu. Wie Richard.
„Glück gehabt, dass er nicht jede Nacht spuken kommt, weil er die Zähne haben will, was?“
Ich muss lächeln.
Tilo gähnt.
Ich decke ihn und die Plüschgiraffe zu.
„Die Zauberzähne nehme ich sicherheitshalber mit, mein Schatz,“ schmunzele ich. „Falls Opa sie sucht.“
Er grinst und ruckelt er sich in eine bequeme Schlafposition: „Gute Nacht, Oma!“
„Schlaf gut, mein Junge.“
Ich bleibe sitzen bis er tief und gleichmäßig atmet. Dann gehe ich hinauf in meine Wohnung und stelle die goldenen Zähne auf Richards Nachttisch. Ich ziehe mich aus, wasche mich und schmiere mir Antifaltencreme ins Gesicht, bevor ich ins Bett gehe.
Kurz vor dem Einschlafen höre ich seine Stimme. „Und?“ fragt er gespannt. „Was meint der Junge zu der Geschichte, Irene?“
„Er glaubt kein einziges Wort, Richard!“, sage ich. „Nicht ein Wort!“