- Der Trip
Das Mädchen war kein guter Mensch. Sie hatte die zehn Gebote gebrochen. Mehr als einmal, und doch verschwendete sie keinen Gedanken daran.
Nicht, weil sie es nicht bereute, sondern weil ihr die Erinnerung daran fehlte.Sie krümmte sich vor Bauchkrämpfen und der Schüttelfrost ließ ihre Zähne aufeinanderschlagen. Ein eisiger Wind griff unter Kathrins kurzen Rock, sodass ihre Schenkel vor Kälte taub wurden. Sie hechelte, um den Unterleib zu entkrampfen. ´Verdammt´, dachte sie. `Ich muss mich zusammenreißen und die Entzugserscheinungen noch eine Weile im Zaum halten. Nur, bis ich einen letzten Freier gefunden habe.`
Die Schmerzen ebbten ab. Die Kirchturmuhr schlug elf Mal. Der Nachtzug aus Ederstadt müsste eingetroffen sein.
Lässig schlenderte Kathi den Bürgersteig entlang. Die meisten Kerle wollten keine Junkies, und wenn sie noch so geil waren. Die Siebzehnjährige hing seit drei Jahren an der Nadel. Erwartungsvoll suchte sie das Häuflein Menschen ab, das aus dem hellen Bahnhofsgebäude drängte. War ein Kunde für sie dabei?
´Komm schon, finde einen Freier`, feuerte sie sich an. `Murat wird dir keinen Stoff auf Pump geben. Also streng dich an.´
Murat, der Kathrin die große Liebe vorgegaukelt und dem sie bedingungslos vertraut hatte. Zu ihrem vierzehnten Geburtstag machte er ihr ein besonderes Geschenk: den ersten Schuss.
„Hier Kathi, eine Überraschung.“ Er hatte gegrinst. Damals bebten ihre Hände vor Aufregung, als sie das bunte Päckchen öffnete. Eine aufgezogene Spritze lag darin. Kathrin fühlte sich den anderen aus der Clique haushoch überlegen, als Murat sie an sich zog und ihr - vor aller Augen - gekonnt die Nadel in die Vene stach. Er wusste, dass sie sich nicht traute, es selbst zu tun. Wie glücklich war Kathi gewesen, weil sie glaubte er täte es aus Liebe zu ihr. Die ersten paar Male half er ihr noch, doch schließlich musste sie es allein tun. WEITER
Die meisten in Murats Umfeld fixten. Kathrin war sein Mädchen und sie wollte, dass er sie cool fand und bei ihr blieb. Erst viele Schüsse später begriff sie: Ihre Freunde, die ab und zu Gras rauchten oder sich betranken, machten mittlerweile Abitur, während sie auf den Strich ging.
Nervös fuhr sie sich durch ihre raspelkurzen, schwarz gefärbten Haare. Auf der Straße war nicht mehr viel los. Die wenigen Leute hatten sich bereits zerstreut. Nur ein gut gekleideter Mann stand noch da. Er musterte Kathrin. Sie lächelte.
„Wie viel?“
„20 Euro mit der Hand, 30 mit dem Mund und 40 für eine Nummer.“
„Ohne Gummi.“
„Nee.“
„Was kostet Blasen ohne Gummi?“
„Mach ich nicht.“
„Nur ohne, sonst gar nicht“, stellte er klar.
„Verpiss dich!“, spuckte sie aus.
„Hundert.“ Er holte seine Brieftasche heraus und hielt Kathi den grünen Schein hin. Als ein erneuter Bauchkrampf einsetzte, wusste sie, dass sie es nicht länger herauszögern konnte. Sie brauchte jetzt einen Schuss. Es war ihr letzter Stoff und sie war froh, das Geld für die nächsten zwei so gut wie in der Tasche haben. Sie war geschlagen.
„Das Geld im Voraus“, verlangte sie.
Ein Kopfschütteln. „Danach.“
„Ich muss noch mal für kleine Mädchen ...“ Kathrin deutete zur Bahnhofstoilette. Er nickte ungeduldig und sie verschwand. Sie zog sich eine Spritze auf und jagte sich das Zeug in die Armbeuge. Sekunden später ging es ihr gut.
Auf der Straße war es immer noch frostig, doch Kathi spürte es nicht mehr. Sie machten sich auf den Weg.Ein alter Mann mit silbergrauen Locken und einem schneeweißen Wolfshund kam ihnen entgegen. Er trug einen langen Mantel und einen Hut. Er verharrte. Wollte er etwas von ihnen? Der Alte starrte so intensiv herüber, dass Kathrin unwillkürlich stehen blieb.
„Kennst du den?“, fragte ihr Kunde. Nervös fummelte er den Autoschlüssel ins Schloss.
Kathi schüttelte den Kopf und beobachtete, wie der Greis etwas aus seiner Manteltasche kramte, bevor er auf sie zukam.
„Du Schlampe lügst doch!“ Der Freier sprang in seinen Wagen und raste davon. Der Fremde mit dem Hund kam langsam näher.
Wie milchige Murmeln lagen seine nutzlosen Augen in den Höhlen. Er lächelte.
Der weiße Hund schaute zu Kathrin auf. Es war ein wunderschönes Tier. `Der Hund sieht aus wie ein Engel´, dachte sie. Kathi sah den Blinden an. `Wer führt einen Engelhund in der Hölle Gassi?`
Er griff nach ihrer Hand, drückte einen Gegenstand hinein und schloss ihre klammen Finger fest darum, bevor er losließ. Sein Marmorblick war auf ihr Gesicht gerichtet „Alter Bahnhof Kaiser-Wilhelm-Platz. Geh hin. Sofort! Es ist wichtig.“ Er wartete nicht auf eine Antwort, wandte sich ab und ging davon.Kathrin stand allein in der Finsternis. Unwillkürlich umklammerte sie das harte, kalte Ding in ihrer Faust, bevor sie einen Blick darauf warf. Es war ein Schließfachschlüssel mit der Nummer 382.
„Alter Spinner“, murmelte Kathi. Der Bahnhof Kaiser-Wilhelm-Platz war vor zwei Jahren geschlossen worden, weil man auf der gegenüberliegenden Straßenseite den modernen Bahnhof `Kaisergarten` eröffnet hatte.
Kathrin ging ein Stück zurück, überquerte die Straße und betrachtete das ausgediente Gebäude des alten Bahnhofes. Die stumpfen Gleise und das Bahnhofsgebäude wirkten romantisch. Eine Katze spazierte über die stillgelegten Schienen, den Schwanz hoch erhoben. Langsam ging sie auf das Bauwerk zu. Ihr Blick wanderte zu der verwitterten Eingangstür. Sie stand einen Spalt breit offen, und Kathi konnte schwach die Schließfächer sehen.
Ein böiger Wind riss die Tür weiter auf, das Licht der Straßenbeleuchtung fiel auf die Fächer. Sie ging näher und spähte hinein. Da hinten war es. 382.Mit einem mulmigen Gefühl im Magen betrat sie die Bahnhofshalle. Der Straßenlärm, das Rattern ferner Züge und die Geräusche des Windes wurden hier drinnen verschluckt.
„Hallo?“
„..allo ... llo ...“ , hallte es in den Tiefen der Halle – so fremd, als wäre es nicht ihre Stimme.
Die feinen Härchen auf Kathis Nacken richteten sich auf. Der Hauch von etwas Unerklärlichem lag fast greifbar in der Luft. Das Kribbeln in Kathrins Fingerspitzen kroch die Arme hinauf und überzog schließlich ihren ganzen Körper.
Sie spürte das Unbekannte. Es war mächtig.
Zögernd durchquerte sie das Foyer. Das Klacken der Absätze brach sich an den hohen Wänden. Schatten huschten durch den Raum.
Vor den Schließfächern blieb Kathi stehen. Einige standen weit offen, die Schlüssel steckten. Sie waren gähnend leer. Andere waren verschlossen. Wie das Fach 382. Behutsam steckte Kathrin den Schlüssel in das Schloss, das den Bart nur widerwillig aufnahm und schnarrte, als sie ihn umdrehte.
Zuerst war nichts zu sehen, aber als sie sorgfältiger nachschaute, fand sie ein flaches Kuvert. Ein heller Briefumschlag. Er fühlte sich kühl an, als sie ihn herausnahm. Es stand nichts darauf.
Das „Ratsch“ des reißenden Papiers durchbrach die Stille.
Zum Vorschein kamen ein Zugfahrschein und ein Fahrplan. Abfahrzeit sowie Gleis waren rot angestrichen.
Abfahrt heute um 0.00 Uhr, Gleis 1.
Außerdem war ein Mittagszug markiert, Gleis 1, das Datum unleserlich verschmiert.
`Kaiser-Wilhelm-Platz/Fahrschein-Nummer 88 /Hin- & Rückfahrt` stand auf dem rosa- grauen Pappfahrschein. Mehr nicht.
Plötzlich durchdrang ein Ticken die Lautlosigkeit. Die Bahnhofsuhr. Irgendwas stimmte nicht mit dem Ding. Ein, zwei Sekunden verstrichen, bis Kathi es begriff. Die Ziffern waren verkehrt herum angeordnet. Statt der Eins die Elf. Die Zehn für die Zwei. Nur die Zwölf und die Sechs standen richtig. Fasziniert versuchte sie die Zeitangabe zu begreifen. Es musste 23.56 Uhr sein.
Ein Rattern drang an ihr Ohr. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, als sie einen Zug schnaufen hörte, der kurz darauf auf dem toten Gleis einfuhr. Der Zeiger sprang auf 23.57 Uhr. Quietschend öffneten sich die Zugtüren, und ein bleicher Schaffner in schwarzer Uniform trat auf den Bahnsteig. Er sah Kathrin an, blickte auf die seltsame Uhr. 23.58 Uhr. Er steckte eine Trillerpfeife in den Mund, hob das Signal und da rannte sie los.
Um 23.59 Uhr erreichte Kathi den letzten Waggon, kletterte hinein, nahm das Schrillen der Pfeife wahr, als der Zug sich fahrplanmäßig in Bewegung setzte.Kathrin lauschte ihren keuchenden Atemzügen. Außer ihr war niemand eingestiegen. Verlassen und nur schwach beleuchtet lag der Gang vor ihr. Ihr fiel auf, wie sauber der Zug war. Nirgends lag etwas herum. Es stank weder nach Nikotin, noch nach schmutzigen Zugtoiletten.
Sie ging auf ein Abteil zu und öffnete die Tür. Die Gepäcknetze enthielten keine Koffer oder Taschen. Schattenhafte, gesichtslose Mitreisende saßen stumm auf ihren Plätzen, die Köpfe gesenkt oder das Antlitz geradeaus gerichtet. Sacht schaukelten sie im Takt des Zuges. Sie waren nichts weiter als farblose Geschöpfe, wie aus dunklem Nebel gemacht.
Die Furcht fuhr ihr mit eiskalter Hand über das Rückgrat.
Rauchige Schemen, die auf ihren Bänken saßen. Männer, Frauen und Kinder, ohne Augen, Nasen und Münder. `Als wären den Menschen ihre Schatten davongelaufen`, schoss es Kathi durch den Sinn.
Wie in Trance trat sie ein. Ihre Angst wurde von einer morbiden Faszination in Schach gehalten, die jeden Fluchtinstinkt erstickte. Obwohl alles in ihr schrie: „Lauf! Mach, dass du wegkommst!“, stand sie einfach da und starrte gebannt auf den unheimlichen Anblick.
Die Erscheinungen nahmen keine Notiz von ihr. Zögernd setzte sich Kathrin und versuchte die Dunkelheit draußen mit den Augen zu durchdringen. Alles was sie sah waren einzelne Lichter in der Nacht, die an ihr vorbeiflogen.
Sie zuckte zusammen, weil der Schaffner in der schwarzen Uniform hereinkam.
„Die Fahrkarten der Zugestiegenen, bitte.“
Mit fahrigen Fingern reichte sie ihm das Billet.
„Endstation! Da haben Sie noch Zeit.“ Ehe sie etwas erwidern konnte, war er im nächsten Abteil, und man hörte ihn rufen: „Bitte die Fahrkarten der Zugestiegenen.“
Der Rücken tat ihr weh, so angespannt saß sie in dem Sitz. In den Scheiben spiegelten sich die Phantome. Und Kathrin. Von der Welt auf der anderen Seite der Fenster war nichts mehr zu erkennen.
Erstaunt lauschte sie einem Flüstern. „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe ...“ Es war ihre Stimme. Sie betete. Fest heftete Kathi den Blick auf ihre gefalteten Hände. Das Gebet legte sich über das gleichmäßige Holpern der Räder. Sie wiederholte es immer wieder, passte die Worte dem Rhythmus des Zuges an. Die Eintönigkeit ermüdete sie, und schließlich schlief sie gegen ihren Willen ein.„Wir sind da.“
Der Schaffner beugte sich über Kathrin.
Verschlafen schaute sie auf. Niemand sonst war zu sehen. Mit wackligen Beinen erhob sie sich und schaute aus dem Fenster. Der Anblick ließ sie mit einem Schlag munter werden. Das konnte nicht sein!
Es handelte sich um den alten Bahnhof Kaiser-Wilhelm-Platz. Kein Zweifel.
Und doch war alles vollkommen anders, denn auf dem Bahnhof herrschte ein reges Treiben! Menschen eilten hin und her. Das Café war gut besucht, der Duft einer Pommesbude ließ Kathis Magen knurren und die Frau in dem alten Kiosk hatte ihre Zeitungen ausgebreitet.
Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland, als sie durch den Trubel ging. Am Kiosk blieb Kathrin stehen. Das Datum auf den Tageszeitungen ließ sie zusammenzucken.
Der 31. Oktober. Vor drei Jahren!
Freitag, der 31. Oktober. Ihr vierzehnter Geburtstag. Der Tag, an dem sie sich den ersten Schuss hatte setzen lassen.Der Anblick des Mädchens mit der Schultasche lockte Kathrin zurück zum Bahnsteig.
Es eilte durch die Halle. Das lange, brünette Haar passte gut zu den dunklen Augen und dem hellen Teint. Lachend gesellte es sich zu einer Gruppe Gleichaltriger, die auf dem Bahnsteig herumlungerten.
Kathi blieb wie angewurzelt stehen. „Mein Gott!“, sie konnte den Ausruf nicht unterdrücken. Ihr stand das Herz still.
Das war sie selbst: Kathrin Schulte.
Sie erkannte sich kaum. Kein Wrack, die Haare nicht gefärbt. Noch nicht süchtig. Eine Schulschwänzerin, ja. Aber keine Diebin und Nutte.
Der Blick ihres jüngeren Ich flog zum Eingang. Kathi wusste, auf wen das Mädchen sehnsüchtig wartete. Blind vor Liebe. In diesem Augenblick trat er durch die Tür, und Kathrin sah ihn zum ersten Mal so, wie er wirklich war. Böse. Egoistisch. Verschlagenheit im Blick und ein hämisches Grinsen im Gesicht. Kathi kannte seine Gedanken. Sie waren nichts als üble, schwarze Wolken.
Das Mädchen war nur eine von vielen. Eine künftige Kundin. Mehr nicht.
In den Händen hielt er einen Geschenkkarton.
Kathrin erinnerte sich, was er enthielt.Wie in Zeitlupe kam er auf Kathi zu, schaute auf, schien kurz zu stutzen und ging dann an ihr vorüber.
In der Ferne heulte ein Zugsignal und schreckte sie aus ihrer Lethargie.
Ihre Erinnerung zerrte die Bilder ihres verpfuschten Lebens hervor. Gedanken, die eine rasen Wut hochkommen ließen. Dieser Mistkerl!
Sie konnte ihren Zorn nicht unterdrücken. In einem Impuls aus Verzweiflung und abgrundtiefer Hoffnungslosigkeit stürzte sie sich auf Murat und rammte ihm mit aller Kraft die Hände gegen seinen Brustkasten.
Murat stürzte vom Bahnsteig und schlug mit dem Kopf auf die Schienen. Das bunte Geburtstagspäckchen fiel ihm aus der Hand. Das Mädchen und ein paar Leute schrieen auf, dann wurde alles durch das Donnern des einfahrenden Zuges übertönt.
Bremsen kreischten auf Metall, Funken flogen, Murat riss schützend die Arme über den Kopf und öffnete den Mund zu einem Schrei.
Man hörte nichts, als die Lok ihn erfasste.In Panik rannte Kathrin davon. Fort, sie wollte nur fort von hier! Sie hörte den Gong, der eine Lautsprecherdurchsage ankündigte. Zuerst war nur ein Knistern zu hören, dann ertönte eine blecherne Stimme: „Auf Gleis 1 fährt ein: der Schnellzug mit der Nummer 3110, Endstation Kaiser-Wilhelm-Platz, Neustadt. Planmäßige Abfahrt 12.00 Uhr.“ Das war ihr Zug! Sie raste los.
Wenig später stieg Kathi wie betäubt ein und setzte sich in ein leeres Abteil. Die Knie taten ihr weh, weil sie ständig aneinander stießen, so stark zitterten sie. Sie steckte ihre Hände in die Jackentasche, ballte sie zu Fäusten.
Als die Lok anfuhr, schossen farbige Bilder durch ihren Kopf. Sie stöhnte auf und riss an ihren Haaren. Eine schmerzhafte Flut von Erinnerungen brach hervor. Je schneller der Zug fuhr, desto mehr neue Erinnerungen füllten Kathrins Gedanken aus:
Der Schock über Murats Tod traf sie tief. Nach der Beerdigung saß sie tagelang in ihrem Zimmer und weinte. In dieser Zeit fand Kathi bei ihren Eltern Liebe, Trost und Unterstützung. So viel Verständnis hatte das Mädchen nicht erwartet.
Nur allmählich legte sich ihre Trauer. Als sie einen erotischen Traum von Brad Pitt hatte, wusste Kathi, dass das Schlimmste überstanden war.
Obwohl sie versuchte ihren Wissensrückstand aufzuholen, schaffte Kathi die Versetzung in die nächsthöhere Klasse nicht.
„Davon geht die Welt nicht unter!“, sagte ihr Vater und zog sie tröstend in seine Arme. „Sogar Einstein ist einmal sitzen geblieben.“
Nach den Sommerferien wechselte sie in die neue Klasse, in der sie kaum jemanden kannte.
Anfangs hatte sie Angst, aber dann fragte Lisa, die Klassensprecherin: „Hast du nicht Lust Handball zu spielen? Uns fehlt noch eine gute Spielerin.“ Kathi sagte zu.
Sie hatte Spaß an dem Sport, und lernte neue Freunde kennen - darunter Andi, in den sie sich schließlich über beide Ohren verliebte.
Katharina arbeitete hart. Nach und nach holte sie den pädagogischen Rückstand auf. Die Schule machte ihr plötzlich Freude, nur gelegentlich schwänzte sie eine Stunde. Langsam, aber stetig, verbesserte sich ihr Notenspiegel.
„Gut gemacht!“, sagte ihre Mutter am Ende des Schuljahres zufrieden. Kathis Noten waren einwandfrei.
Im Herbst trat Katharina der Theater AG bei, und hatte nun gar keine Zeit mehr am Bahnhof herumzuhängen. Ihre gelegentliche Besuche dort blieben ganz aus.
Im Augenblick bereitete sie sich auf das Abitur vor. Es sah gut für sie aus! Heute war Wochenende und sie freute sich auf zu Hause.
Der Zug rollte in den alten Bahnhof Kaiser-Wilhelm-Platz ein. Kathrin stieg aus. Sie drehte sich nicht um, als sie das Bahnhofsgebäude verließ.
Ihr langes Haar fiel dicht auf die Schultern, es kitzelte sie ein bisschen an der Wange. Sacht strich Kathi es zurück. Mutter würde schon mit dem Essen warten.
Ihr schwindelte. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste sie nicht, wer sie war oder wo sie sich befand. Aber der Eindruck war blitzartig wieder verschwunden.Als Kathi den Platz vor dem Bahnhof überquerte, sah sie ihn.
Einen alten Mann mit einem weißen Wolfshund. Der Greis war blind. Er stand einfach nur da.
Ein seltsam vertrauter Anblick ...
Tief in ihr regte sich etwas. Empfindungen. Nicht greifbare Gedanken.
Sie hatte das unerklärliche Verlangen ihm zu folgen. Das Tier führte den Mann auf den Friedhof, dorthin, wo viele Kindergräber lagen. Eine junge Frau kniete vor einem Erdhügel und steckte ein buntes Windrad in ein Grab. Kathi konnte ihr Weinen hören.
„Ich hätte nie ans Telefon gehen sollen, Nico“, sagte die Frau. „Den verfluchten Teich habe ich eigenhändig zugeschüttet.“
Und dann die Stimme des Blinden, der ihr etwas in die Hand drückte: „Alter Bahnhof Kaiser-Wilhelm-Platz. Geh hin. Sofort! Es ist wichtig ...“