Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

FamulaFamula

Abtanzen.
Meinen Körper völlig verausgaben, jeden Gedanken tilgen, für kurze Zeit alles vergessen. Manchmal brauchte ich das. Besonders wenn dieses Datum näher rückte und sich der entsetzliche Tag einmal mehr jährte.
So wie heute.
Der 8. Juli.
Zum zwanzigsten Mal der 8. Juli …
Aus den Lautsprechern im Hades dröhnte Musik, zu der ich mit geschlossenen Augen tanzte. Als ich sie öffnete, stand ein Glatzkopf vor mir. Der Typ kam mir seltsam vertraut vor, mechanisch erwiderte ich sein Lächeln und wunderte mich, dass keiner der Anwesenden Anstalten machte, sich zwischen uns zu drängen oder mit uns zu tanzen. Als hätte jemand eine unsichtbare Mauer um uns gezogen. Das war mir in diesem Laden noch nie passiert.
Plötzlich legte der Glatzkopf eine Hand auf meine Schulter und bedeutete mir mit einer Geste ihm zu folgen.
Die feinen Härchen in meinem Nacken richteten sich alarmiert auf, es kitzelte, als würden hauchzarte Spinnenbeine über meine Haut huschen.
Trotzdem ging ich mit ihm nach draußen.

„Du erinnerst dich nicht, stimmt’s, Kathi?“
Ich schüttelte den Kopf und er lächelte nachsichtig.
Es klingt sicher verrückt, aber trotz des unauffälligen grauen Shirts über der ebenfalls grauen Hose sah er irgendwie nicht wie ein Mensch aus. Sein Schädel wirkte, als hätte jemand helles Wachs darüber gegossen. Ich konnte feine Äderchen unter der matten Haut erkennen und die bläulichen, zarten Linien ließen sein Gesicht wie aus Marmor erscheinen.
Ohne darüber nachzudenken, hob ich die Hand und berührte seine Wange.
Sie war kalt. Eiskalt. Für einige Sekunden hatte ich das Gefühl, als berührte ich frisch gefallenen Schnee. Ungläubig betrachtete ich meine Fingerspitzen und wich zurück.
 „Ich will, dass du mitkommst“, drängte er. „Es ist nicht weit. Ich möchte dir etwas zeigen.“
Vor dem Eingang der Disco waren Musikfetzen und Lärm zu hören. Das bedeutete Menschen, Sicherheit und ich überlegte, ob ich nicht lieber zurückgehen sollte.
„Es ist zu deinem Nutzen, Kathi“, unterbrach seine Stimme meine Gedanken. Er wandte sich zum Gehen.
Ich verdrängte jede Vernunft und hörte stattdessen auf meine Intuition, die mir einflüsterte, ihm zu folgen. Schon nach einigen Schritten bereute ich meine Entscheidung, denn erst jetzt fiel mir auf, dass er meinen Namen kannte. Doch ich hatte ihm nie gesagt, wie ich heiße. WEITER

Schweigend gingen wir die hell erleuchtete Hauptstraße hinunter, bogen in eine dunkle Seitengasse und kamen schließlich zu einem hässlichen Plattenbau.
Er ließ sich auf einer Bank nieder, klopfte neben sich und wartete, bis ich mich setzte. Schweigend hockten wir da. Nur selten fuhr ein Auto vorbei und keine Menschenseele war zu sehen.
„Weißt du noch, damals?“, fragte er und schaute mich aus nebelgleichen Augen an.
„Damals?“
„Im Juli. Vor zwanzig Jahren. Du warst zwölf Jahre alt.“
Nein, das konnte nicht sein!
„Da sind wir uns zum ersten Mal begegnet, Kathi.“
Meine Zähne schlugen aufeinander.
„Erkennst du mich nicht?“
Wie eine Faust hämmerte mir das Herz gegen mein Brustbein. Es tat weh.
 „Fang mich!“, rief er und es ging mir durch Mark und Bein! Seine Stimme hörte sich hoch und mädchenhaft an. Genau wie Brittas. So täuschend echt, dass ich unwillkürlich herumfuhr und nach ihr suchte.
„Nein“, stammelte ich. „Unmöglich!“
„Fang mich!“, gellte er.
„Hör auf!“ Ich hielt mir die Ohren zu und dann zeigte er mir, was er unter seinem Shirt um den Hals trug: ein schwarzes Samtband mit einem silbernen Anhänger.
Es war eine Sichel.
Die Erinnerung brach über mich herein wie eine Lawine und ihre Last drohte mich zu erdrücken.

„Fang mich!“, lachte Britta. „Fang mich!“ Sie flitzte in Richtung Straße und ich hinterher.
Ihre Füße in den weißen Leinenschuhen sausten über das Pflaster, ein Fetzchen Kaugummipapier wurde aufgewirbelt und sie wich geschickt einem Hundehaufen aus.
Im nächsten Augenblick war da ein Hindernis, massiv und unüberwindbar. Es stoppte mich mitten im Lauf, riss mich von den Beinen und plötzlich blickte ich in den weiten, klaren Himmel. Winzige goldene Punkte schwirrten durch die Luft.
Irgendwie wusste ich, dass Britta nicht mehr rannte. Stattdessen schrie sie, wie ich sie noch nie hatte schreien hören.
Langsam begriff ich, dass wir auf der Straße lagen, direkt vor einem gelben Kleinlaster, dessen linkes Vorderrad auf Brittas Unterleib stand. Es sah aus, als wäre der Reifen aus ihrem Bauch gewachsen.
Unter meinem Rücken war es warm und feucht. Außerdem roch es nach den Glückspfennigen, die ich sammelte.
 „Kathi!“, rief Britta immer wieder. „Kathi!“ Sie zerrte an ihren Zöpfen und weinte dann nach ihrer Mutter.
Ich weiß nicht, wo er herkam, aber mit einem Mal beugte sich ein kahlköpfiger Mann im grauen Mantel über meine beste Freundin.
„Das wird schon“, wisperte er. „Das wird schon, mein Mädchen.“
Ich konnte den Kopf nicht ganz zur Seite drehen, aber ich erkannte einen metallenen Gegenstand in seiner Hand. Es war eine winzige Sichel, mit der er über Brittas Körpermitte fuhr.
Einmal.
Und dann war Britta still. So still.
Erschöpft schloss ich die Augen, spürte weder Schmerz noch Angst. Nur Leere.
Langsam stieg ich hinauf in das Himmelblau. Von hier oben konnte ich erkennen, dass sich hinter der Unfallstelle Autoschlangen bildeten. Am Ende des Staus zuckten Blaulichter und das Heulen von Sirenen wurde allmählich lauter.
Mich kümmerte das nicht, ich glitt weiter fort. Das Bild unter mir wurde rasch kleiner und bald umfing mich vollkommene Dunkelheit.
Nein, doch nicht! Ganz hinten, am Ende der Finsternis, glomm ein winziges, goldenes Pünktchen. Der Funke veränderte sich, schien größer zu werden. Oder schrumpfte ich? Langsam durchquerte ich den dunklen Raum, glitt in das goldene Licht und fand mich plötzlich an einem Flussufer wieder.
Das gegenüberliegende Ufer lag im Dunst. Ich konnte schemenhafte Gestalten erkennen und eine von ihnen sah aus wie Britta.
Ehe ich sie rufen konnte, stand ein Mann an meiner Seite. Er hatte keine Haare und trug einen rauchfarbenen Mantel. Um seinen Hals hing ein schwarzes Samtband mit einer kleinen Silbersichel.
„Bin ich tot?“, fragte ich ihn zaghaft.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, du musst wieder zurück.“
„Warum?“
„Darum.“ Der Graue deutete auf meinen Leib und ich wurde mir einer erstaunlichen Tatsache bewusst: Eine Art Schnur quoll aus meiner Bauchmitte. Sie erinnerte an eine Nabelschnur, außer, dass sie silbern und unglaublich lang war. So lang, dass ich kein Ende sehen konnte. Sie fühlte sich wie ein Teil meines Körpers an, war auf eigenartige Weise elastisch.
„Was ist das?“ Vorsichtig zupfte ich daran.
„Deine Verbindung zum irdischen Leben, zu deinem Körper. Solange sie nicht zerstört ist, wirst du nicht sterben. Es ist, wie ich sagte; du gehst noch einmal zurück. Auf Wiedersehen!“, lachte er. „Und wir werden uns wiedersehen, Kathi! Denn du bist nun eine von uns.“

Es gab einen Ruck und ein Ziehen, als sich die silberne Schnur am anderen Ende rasend schnell einrollte und mich mit sich riss.
Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war das fremde Zimmer, in dem ich erwachte. Da standen Monitore, ein Bett – und ich lag darin. Jede Faser meines Körpers tat mir weh.
Meine Eltern waren bei mir. Mama kämpfte mit den Tränen und hielt meine Hand. Ein kahlköpfiger Pfleger kontrollierte das EKG, nickte zufrieden und ging in Richtung Tür. Dort drehte er sich noch einmal zu mir um. Seine Augen sahen aus, als wären sie aus Nebel.

Die Geschichte ist schon zwei Jahrzehnte her, doch eines wurde mir jetzt schlagartig bewusst: Der Pfleger hatte ausgesehen, wie der Typ, der jetzt neben mir auf der Bank saß. Und er wirkte keinen Tag älter als damals – als ob die Zeit keine Bedeutung für ihn hätte.
 „Du erinnerst dich also“, stellte der Glatzkopf fest.
Ich nickte. Meine Knochen fühlten sich an, als wären sie aus purem Eis.
„Wer bist du?“ Ich brachte nur ein Flüstern heraus.
„Ich bin ein Tod.“
Ein Tod? Ich schüttelte den Kopf und lachte. Erst unsicher, dann hysterisch.
„Ich weiß nicht, was das soll“, presste ich hervor. „Auf jeden Fall finde ich es nicht witzig.“
 „Ich dachte mir, dass du so was in der Art sagen würdest. Das habe ich damals auch getan, als mein Mentor zum ersten Mal zu mir kam, um mich in seine Obhut zu nehmen“, erinnerte er sich und ein winziges melancholisches Lächeln verzog für einen Augenblick seine Lippen.
Er seufzte, warf einen Blick auf seine Uhr und deutete auf den Plattenbau. „In zehn Minuten wird sich im achten Stock das zweite Fenster von links öffnen, eine junge Frau auf das Fensterbrett steigen und springen.“
Beinahe hätte ich ihn wieder ausgelacht und mir dabei gegen die Stirn getippt. Aber ich tat nichts dergleichen. Stattdessen saß ich da und fixierte das Fenster.

Die Zeit war verstrichen und mir wurde es allmählich zu dumm.
„Das wird wohl nichts, du Tod“, verhöhnte ich ihn.
„Vier … drei … zwei … eins …“
Im gleichen Augenblick flog das Fenster auf. Ich konnte deutlich die Umrisse einer Frau erkennen. Sie kletterte auf das Sims und sprang ohne zu zögern in die Tiefe.
Ich weiß nicht, ob sie schrie oder welches Geräusch es machte, als ihr Körper auf dem Asphalt aufschlug – direkt vor dem erleuchteten Apothekenfenster, mitten in das Rechteck aus Neonlicht, als würde sie von einem Strahler angeleuchtet. Ich konnte es nicht hören, denn ich brüllte aus Leibeskräften.
Als ich endlich aufhörte, erfüllten eigenartige Töne die Nacht. Ich lauschte. Es dauerte etliche Sekunden, bis ich begriff, dass es ihr Atem war. Blubbernd und zischend, wie die Überlaufpumpe eines Swimmingpools.
Als der Glatzkopf aufstand, folgte ich ihm wie eine Schlafwandlerin. Er zog das schwarze Samtband über seinen Kopf und kniete sich neben die Frau. Sie war so jung, fast noch ein Kind. Ihr Körper sah aus, als läge ein verrenkter Crash-Test-Dummie vor uns.
Außer, dass sie richtige Augen hatte. Hellblaue, aus deren Augenwinkeln liefen dunkelrote Tränen. Das Gesicht war von einem Netz feiner Risse durchzogen, ihr Schädel zerbrochen wie die Schale einer geknackten Walnuss.
Behutsam streichelte der Graue über ihr matschiges Haar. „Das wird schon“, murmelte er. „Das wird schon, mein Mädchen.“
Sie schloss die Lider und im nächsten Augenblick konnte ich sie sehen: Die Schnur! Wie silbriger Dunst entsprang sie ihrer Körpermitte und stieg hoch und höher. Mit einem einzigen Schnitt seiner Sichel durchtrennte er das Band. Das Mädchen hörte auf zu röcheln, zu wimmern und zu leben.
Langsam richtete er sich auf und legte sich das Samtband wieder um. „Ich bin ein Schnitter“, raunte er. „Und du bist meine Famula.“

Ich war seine Famula und er mein Mentor, der mich auf die Aufgabe vorbereiten sollte, die vor mir lag.
„Es gibt nicht nur den einen Tod in tausend Gestalten – sondern tausende: Die Schnitter. Nur sehr wenige Menschen sind ausersehen, Schnitter zu werden“, erklärte er. „Aber sie alle waren dem Tode einmal näher als dem Leben und wurden aus dem Schattenreich zurückgesandt.“
Wie ich, an jenem 8. Juli, als Britta rief: „Fang mich!“
Mein Mentor wird mich begleiten, bis ich eigenhändig die erste Silberschnur durchtrenne. Ab diesem Moment werde ich ein Schnitter sein und die Zeit wird auch für mich keine Bedeutung mehr haben.
Bis dahin schaue ich zu und lerne, wie er Seelen von ihren Leibern trennt. Er macht keine Unterschiede, behandelt alle gleich: alte, junge, gute und böse. Arme. Reiche. Menschen, die mir fremd sind – und solche, die ich kenne …

Sie liegt in einem Zimmer in der Krebsklinik. Die Krankheit hat sie schrumpfen lassen und sie sieht winzig aus in dem großen, weißen Metallbett.
Ich weiß, dass sie sich schon halb in diesem angenehmen Dämmerzustand befindet, der einem sanften Sterben vorausgeht, da hebt sie noch einmal die Lider. Ein Lächeln huscht über ihre ausgezehrten Gesichtszüge. Zögernd wendet sie den Blick von mir und schaut in die Ecke, in der mein Mentor steht.
Ich höre, wie er hinter mich tritt und sehe die Silberschnur, die sich aus dem Leib der Sterbenden windet. Noch ehe mir die Tränen kommen, spüre ich, dass der Graue eine kühle Sichel in meine Hand legt. Zum ersten Mal. Es ist wie ein Stromschlag und mir ist klar, dass es meine Sichel ist.
Zärtlich streichele ich Mutters Wange. Sie fühlt sich heiß und trocken an. „Das wird schon“, flüstere ich liebevoll. „Das wird schon, mein Mädchen.“
Und dann tue ich, was ein Schnitter tun muss.