Inhaltsverzeichnis Kurzgeschichten / Twilight Zone

Tut mir leidTUT MIR LEID

Ich stand auf der Terrasse vor den weit geöffneten Fenstertüren, betrachtete die leichten, sandfarbenen Vorhänge die sich sanft im Sommerwind blähten und lauschte auf die Geräusche, die aus dem Haus in den Garten drangen.
Es galt den richtigen Zeitpunkt abzupassen, damit ich meiner Mutter alles erklären konnte.
Mama war unter der Dusche, ich hörte deutlich das Prasseln des Wassers. Sie stand schon eine ganze Weile dort, und schien überhaupt nicht mehr herauskommen zu wollen.
Aus Papas Büro war ab und zu das Tippen seiner Finger auf der PC-Tastatur zu hören. Er beherrschte lediglich das Zweifinger-Suchsystem. Entsprechend schleppend kamen die Anschläge.
Ich verkniff mir ein schmunzeln.
In meinem Zimmer dudelte meine Lieblings–CD, Cleaning Out My Closet. Eminem rappte:
I´m sorry mama
I never meant to hurt you
I never meant to make you cry
Ich seufzte. Der Text passte ja, wie die Faust auf`s Auge, denn ich wollte mich bei meiner Mutter entschuldigen.
Wieder einmal hatte ich sträflichst ihre gut gemeinten Anweisungen ignoriert, obwohl ich natürlich eifrig mit dem Kopf nickte, als ich vor ihr stand und vorgab ihren Worten interessiert zuzuhören.
Was ich selbstverständlich nicht tat. Wieso auch?
Meine Güte, ich war bereits fünfzehn Jahre alt und kein kleines Kind mehr! Außerdem hatte meine Mutter mir dies schon hundert Mal gepredigt. Mindestens! ... WEITER
„Fahre nie mit jemandem mit, erst recht nicht, wenn du ihn nicht kennst, Nina! Solltest du den Bus verpassen, dann ruf uns an. Papa oder ich holen dich ab. Du wirst dafür selbstverständlich Hausarrest bekommen“, (an dieser Stelle grinste sie immer diabolisch) „und anderen delikaten Strafen zum Opfer fallen, aber du wirst an Leib und Seele gesund nach Hause kommen!“
Blablabal.
Jedoch nickte ich gottergeben, machte runde Unschuldsaugen und sagte locker: „Geht klar, Mam! Mach dir bloß keine Sorgen! Ich würde nie zu einem Fremden ins Auto steigen, echt nicht!“
In Wahrheit hatte ich genau das schon ein paar Mal getan!
Nie war etwas passiert.
Bis auf das letzte Mal. Da ist es voll in die Hose gegangen. Und nur, weil ich nicht auf sie hören konnte. Weil ich so cool sein wollte wie Manu, die zwar schon siebzehn war - aber trotzdem! Ich wollte da mithalten!
Würde Mama mich verstehen, mir zuhören?
Oder gab sie mir die Schuld, an dem, was geschehen war?

Ich wusste es nicht.
Sandokan, unser Tigerkater, kam aus dem Haus um sich zu sonnen. Er fauchte in meine Richtung, dann ging er rückwärts, mit Bewegungen langsam wie in Zeitlupe, ins Wohnzimmer zurück.
Dort drehte er sich um, fauchte nochmals, bevor er im Eiltempo im Inneren des Hauses verstand.
Ich lachte auf und folgte ihm.
Leise schlich ich zum Büro meines Vaters und betrachtete ihn liebevoll.
Sein Haar wurde langsam schütter. War es in der letzten Zeit nicht grauer geworden?
Papa saß mit hängenden Schultern an seinem Schreibtisch vor dem Computer und tat gar nichts. Er starrte einfach nur auf den Bildschirm.
Bedrückt schlich ich an seiner Tür vorbei, danach am Bad, und verzog mich schließlich in mein Zimmer.
Die CD war auf endlos gestellt.
Mein Matheheft lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Ich war mit den Hausaufgaben noch nicht ganz fertig, aber schließlich war Wochenende.
Der zerdrückte Jeansrock von vorgestern lag, wie ich ihn ausgezogen hatte, auf dem Boden in der Ecke. Das Bett war nicht gemacht, eine halbleere Dose Cola stand auf der Fensterbank.
Der Nagellack, mein Lippenstift, Kajalstift, Wimperntusche und mein Rouge lagen im wilden Durcheinander auf dem ungemachten Bett.
Ich seufzte, und stellte mir vor, was Mama sagen würde: „Nina, räum deinen Schönheitssalon weg, aber zackig! Der Rock gehört in die Wäsche, die Dose in den Müll. Verdammt noch mal, du bist doch fast eine junge Frau!“
Dabei würde sie missbilligend den Kopf schütteln.
Ich wusste es – sie wusste es: wenn ich morgens in der Schule war, räumte sie es weg.
Das war auch ein Grund, warum ich ihr Gerede nie so ganz ernst nahm, und stets tat, was ich für richtig hielt.
Trotzdem. Diesmal hatte ich es übertrieben und eine furchtbare Lektion erteilt bekommen.
„Steig niemals in ein Auto ein, Nina.“
Mehr als einmal hatte sie mir das gesagt. Und Papa hatte mit verschränkten Armen hinter ihr gestanden und mit düsterem Blick und unheilvoller Stimme verkündet: „Hör auf deine Mutter. Sie weiß, wovon sie spricht.“
Sie sah den Riesen an ihrer Seite jedes Mal mit einem liebevoll-spöttischem Lächeln an, bedachte mich vorsichtshalber noch einmal mit einem finsteren Blick und beendete ihre Order stets mit dem Satz: „Den Befehl hören, heißt, den Befehl ausführen, Nina!“
Ich hatte ihren liebevollen Befehl verweigert.
War in ein Auto gestiegen und hatte mich mit dem Gedanken beruhigt, dass es eigentlich kein Fremder war. Sondern Olli, den ich immerhin schon zum zweiten Mal in der Disco getroffen hatte.

Selbst Manu`s Warnung ignorierte ich: „Tu`s nicht, der ist ein echter Psycho!“ Weil ich blöde Kuh dachte, sie sei eifersüchtig.
Nun war nicht mehr gesund an Leib und Seele.
Ich musste es Mama begreiflich machen, ihr sagen, wie leid es mir tat, dass unsere ganze Familie mit diesen albtraumhaften Folgen fertig werden müsste.
Nur wie?
Meine Strafe war hart genug. Härter, als ich es je vermutet hätte.
Olli war ein Psycho, genau, wie Manuela es prophezeit hatte.
Da! Die Dusche wurde ausgedreht, und Mama kam aus der Kabine.
Endlich!
Sie war in ihren alten Bademantel aus blauem Frottee eingewickelt und starrte in den beschlagenen Spiegel.
Ich huschte lautlos hinter sie, und blickte ebenfalls hinein. Es war nur eine himmelblaue, formlose und verschwommene Masse auf dem feuchten Spiegelglas zu erkennen.
Vorsichtig pustete ich in Mamas zarten Nacken, und sie schauderte.
„Mama?“
Sie drehte ihr Gesicht in meine Richtung. Ihre Augen waren rot vom weinen.
Ich schluckte schwer: „Bitte, kann ich dir alles erzählen?“
„Ich weiß nicht, ob man das aushalten kann“, murmelte sie, nahm ein Handtuch und setzte sich auf den Wannenrand.
Das konnte man als ein Ja werten, beschloss ich, setzte mich, wie so oft in der Vergangenheit, neben sie und fing an zu erzählen, während sie sich schweigend das Haar trockenrieb:
„Als Olli ich mit gefahren bin, war er erst ganz normal. Wir haben uns unterhalten. Über Eminem, seinen Film und seine Musik. Er ist auch ein Fan, weißt du? Plötzlich fuhr er von der Straße runter, auf einen dunklen Feldweg. Mir wurde schlecht. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen und fragte ihn, was der Scheiß soll. Er lachte und sagte: „Bloß keine Panik. Ist doch nur `ne Abkürzung.
In einem kleinem Waldstück hielt Olli schließlich an. Er sagte, er wollte jetzt das Fahrgeld kassieren, dabei zog er den Reißverschluss seiner Jeans auf. Ich fragte ihn, ob er völlig durchgeknallt sei. Da hat er mir fest mit der Faust ins Gesicht geschlagen, zweimal. Mir brannten die Wangen, und meine Nase blutetel. Ich war geschockt, wie gelähmt vor Angst. “
Meine Mutter wischte sich eine Träne fort, dann flüsterte sie heiser: „Warum? Warum nur?“
„Er wollte, dass ich mit ihm schlafe. Ich sagte ihm, dass ich noch Jungrau wäre und unter Garantie nicht mit ihm schlafen würde, dass er in meinen Augen eine ... arme kranke Sau sei.“
Die letzten Worte flüsterte ich nur noch.
Als Mama nichts erwiderte fuhr ich fort: „Dann riss ich die Autotür auf, kam irgendwie raus und rannte. So schnell ich nur konnte. Ich wusste nicht wohin, hatte keinen blassen Schimmer, wo wir waren. Ich wollte einfach nur weg! Die ganze Zeit betete ich: `Lieber Gott, hilf mir! Bitte hilf mir!´ Aber nichts geschah.“
Mam stand auf, rieb mit dem nassen Handtuch erfolglos an der Spiegelscheibe herum: „Ich wünschte, das Alles wäre nie passiert.“
„Das wünschte ich auch, Mama. Glaub mir!“
Sie sah in meine Richtung, runzelte die Stirn und sagte: „Hättest du doch nur auf mich gehört Nina!“
Schuldbewusst streichelte ich ihre Hand. Ich hatte das Gefühl, sie genoss die Berührung.
„War es schlimm für dich?“, fragte sie, ohne mich anzusehen. „Hast du sehr gelitten?“
„Es tat so furchtbar weh! Ich dachte, alles in mir zerreißt. Er hatte mich schnell eingeholt, warf mich brutal auf die Erde. Ich stieß mit dem Hinterkopf auf einen Stein, daher die dicke Beule. Für kurze Zeit war ich völlig weggetreten. Olli zerriss meinen Slip und meine Bluse, den Rock schob er nur nach oben. Er war so schwer, als er auf mir lag. Er keuchte und ich sah seinen weißen Hintern in der Dunkelheit leuchten, dann stieß er sein riesiges ... Ding in mich.“
„Hast du geschrieen? Hast du um Hilfe gerufen?“, hilflos schlug sie den Hände vor den Mund, und verharrte so.
„Erst habe ich laut um Hilfe gerufen. Niemand war da, der mich hörte. Niemand kam. Dann, als er in mir drin war, habe ich nur noch gekreischt. Mir war, als wenn jemand einen Besenstiel immer und immer wieder in mich hineinrammen würde. Der Stiel fühlte sich an, als ob er bis zu meiner Kehle führte und mich jeden Augenblick zum kotzen bringen würde. So fühlte es sich an. Er stopfte mir meinen Slip in den Mund. Vom Weinen und dem Rotz war meine Nase ganz verstopft. Alles lief meinen Hals runter, ich bekam keine Luft mehr.“
„Mein armes, kleines Mädchen“, flüsterte Mama dumpf in ihre Hände. „Mein armes Baby. Du musst furchtbare Angst gehabt haben.“
Ich konnte meinen Redefluss jetzt nicht mehr stoppen, redete ohne Punkt und Komma. Es sollte raus, ich wollte alles loswerden:
„Er hat nichts davon bemerkt, nur wie ein Irrer gestoßen und mir ins Ohr gekeucht: dass er mich auf einer Wiese auf ein Kissen setzen und mir dann die Muschi lecken würde, daran hätte ich Spaß. Aber jetzt wollte er mich erst mal ficken. Dann lecken, dann wieder ficken. Zum Schluss sagte er nur noch diese Worte und ich wollte nur noch atmen ... und leben. Plötzlich war da nur noch Dunkelheit. Dann das Licht ... aber ich wollte nach Hause und euch alles erklären, euch um Verzeihung bitten. Und mich ... “
Mama weinte hemmungslos in ihr Handtuch. Ich erschrak.
„Ich hab dich lieb, Mam!“, rief ich verzweifelt. „Hörst du nicht? Ich hab dich so lieb.“
„Ich liebe dich, Nina, ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben“ schluchzte sie.
„Oh Mama, bitte verzeih mir. Sag mir, dass du mir verzeihst. Es tut mir so leid.“
„Es tut mit leid, Nina. Es tut mir so leid. Ich habe dir nichts zu verzeihen.“
„Nina?“
Erschrocken fuhr ich herum, als ich eine Stimme hinter mir hörte.
„Nina?“
Es war meine Oma.
„Ja?“, aus alter Gewohnheit sprach ich die Worte mit zitternder Stimme aus, anstatt meine Gedanken zu benutzen.
„Es ist an der Zeit, Nina“, hörte ich in meinem Kopf.
„Jetzt schon?“
Oma lächelte und deutete auf das helle, lebendige Licht hinter sich.
„Dort ist jetzt dein Platz, Kind. Du musst loslassen. Nimm Abschied.“
„Das kann ich nicht.“
Sie nickte: „Du kannst, Nina. Du wirst sie wiedersehen. Aber jetzt ist es Zeit zu gehen.“
Sie nahm meine Hand, führte mich zu dem Licht. Als ich es sah, als ich es fühlte, da wollte ich nur noch hineingehen. Ich spürte die unbeschreibliche Liebe, die mich dort erwartete, das Wissen, das Erkennen, den Frieden und das Glück. Alles, was ich jetzt war, wollte nur noch in dieses Licht.
Und doch ...
Ein letztes Mal noch drehte ich mich um, und sah, wie Papa meine Mama in die Arme nahm, wie sie gemeinsam weinten.
„Lebt wohl“, verabschiedete ich mich, hob zu einem letzten Gruß die Hand. „Ihr werdet es schon schaffen. Irgendwie. Es ist ja nicht für immer. Alles wird gut.“
„Wir schaffen es schon irgendwie ... irgendwie. Wenn wir nur fest zusammenhalten“, flüsterte Papa in Mamas Ohr. „Es ist ja nicht für immer. Alles wird gut.“
Ich erkannte die Liebe, die sie füreinander empfanden. Da endlich konnte ich loslassen.
Ich ging mit meiner Großmutter in das Licht, in dem es die Zeit so nicht gibt, wie die Lebenden sie kennen.
Dort würde ich auf sie warten.